TRANSLATE
Der Esel des Messias
Uri Avnery
11. Mai 2013
„DIE ZWEI-STAATEN-Lösung ist tot!“ dieses Mantra ist
in letzter Zeit von so vielen zuverlässigen Kommentatoren so oft
wiederholt worden, dass es wahr sein muss.
Nun, das ist es nicht.
Ich erinnere an ein oft wiederholtes Zitat von Mark
Twain: „Der Bericht von meinem Tod war eine Übertreibung.“
INZWISCHEN ist dies eine intellektuelle Masche
geworden. Die Zweistaatenlösung zu befürworten, bedeutet, dass man
altmodisch, altbacken, schwerfällig, ein Fossil aus einer längst
vergangenen Ära ist. Das Hissen einer Flagge der „Ein-Staatenlösung“
bedeutet, dass man jung ist, nach vorne schaut, einfach „cool“ ist.
Tatsächlich zeigt dies nur, wie sich Ideen in Kreisen
drehen. Als wir Anfang 1949, direkt nach dem Ende des ersten
israelisch-arabischen Krieges erklärten, dass die einzige Antwort
der neuen Situation die Errichtung eines palästinensischen Staates,
Seite an Seite mit Israel ist, hatte die Ein-Staaten-Lösung schon
einen langen Bart.
Die Idee eines „bi-nationalen Staates“ war in den
30er Jahren en vogue. Seine Hauptbefürworter waren wohlmeinende
Intellektuelle, viele von ihnen Koryphäen der neuen Hebräischen
Universität, wie Judah Leon Magnes und Martin Buber. Sie wurden von
der Hashomer Hatzair -Kibbuz-Bewegung bestätigt, die später die
Mapam-Partei wurde.
Dies
hat nie Anklang gefunden. Die Araber glaubten, dass es ein jüdischer
Trick sei. Bi-Nationalismus wurde auf dem Prinzip der Gleichheit
zwischen den beiden Bevölkerungen in Palästina aufgebaut – 50 %
Juden, 50% Araber. Da die Juden zu jener Zeit aber viel weniger als
die Hälfte der Bevölkerung waren, war der arabische Verdacht
verständlich.
Auf der jüdischen Seite sah der Gedanke lächerlich
aus. Das Wesen des Zionismus war, einen Staat zu haben, wo Juden die
Herren ihres Schicksals sein würden, möglichst in ganz Palästina.
Zu jener Zeit sprach keiner von einer
„Ein-Staaten-Lösung“, weil es schon einen Staat gab – den Staat
Palästina, unter britischer Mandatsherrschaft. Die Lösung wurde „bi-nationaler
Staat“ genannt – und dieser starb im Krieg von 1948, ohne betrauert
zu werden.
WAS HAT diese wunderbare Auferstehung dieser Idee
verursacht?
Nicht eine neue Liebesgeschichte zwischen den beiden
Völkern. Solch ein Phänomen würde wunderbar, ja sogar wundersam
gewesen sein. Wenn Israelis und Palästinenser ihre gemeinsamen
Werte, die gemeinsamen Wurzeln ihrer Geschichte und Sprachen
entdeckt hätten und ihre gemeinsame Liebe für dieses Land - Dies
würde absolut großartig sein?
Aber leider, wurde die erneuerte „Ein-Staat-Lösung“
nicht durch eine andere unbefleckte Empfängnis geboren. Ihr Vater
ist die Besatzung, ihre Mutter die Verzweiflung.
Die Besatzung hat de facto schon einen Staat
geschaffen – einen üblen Staat der Unterdrückung und der Brutalität,
in dem die Hälfte der Bevölkerung (oder etwas weniger als die
Hälfte) die andere Hälfte fast all ihrer Rechte beraubt – der
Menschenrechte, der wirtschaftlichen und politischen Rechte. Die
jüdischen Siedlungen dehnen sich rasch aus, und jeder Tag bringt
neue Geschichten des Leids.
Gute Leute auf beiden Seiten haben die Hoffnung
verloren. Aber Hoffnungslosigkeit regt nicht zum Handeln an - sie
führt zur Resignation.
GEHEN WIR zum Anfang zurück. „Die Zwei-Staaten-Lösung
ist tot.“ Wie kommt dies? Wer sagt das? In Übereinstimmung mit
welchen wissenschaftlichen Kriterien ist der Tod bestätigt worden?
Im Allgemeinen wird die Ausbreitung der Siedler als
das Zeichen des Todes zitiert. In den 80erJahren sprach der
respektierte israelische Historiker Meron Benvenisti aus, dass die
Situation jetzt nicht mehr „umkehrbar“ wäre. In jener Zeit waren
kaum 100 000 Siedler in den besetzten Gebieten (abgesehen von
Ost-Jerusalem, das durch allgemeinen Konsens ein separates Problem
ist). Nun behaupten sie, 300 000 zu sein, aber wer zählt sie? Wie
viele Siedler bedeuten Un-Umkehrbarkeit? 100-,3000-,500-,
800-Tausend?
Die Geschichte ist wie ein Treibhaus von
Umkehrbarkeit. Empires wuchsen und brachen zusammen. Kulturen
blühten und verdorrten. So geschah es auch mit sozialen und
wirtschaftlichen Strukturen. Nur der Tod ist unumkehrbar.
Ich kann an ein Dutzend verschiedener Wege denken, um
das Siedlungsproblem zu lösen; von zwangsweiser Vertreibung bis
zum Austausch von Gebieten bis zu palästinensischer
Staatsbürgerschaft. Wer glaubte damals, dass die Siedlungen im
Nord-Sinai so leicht aufzulösen waren? Dass die Evakuierung der
Siedlungen im Gazastreifen eine nationale Farce werden würde?
Am Ende wird es wahrscheinlich zu einer Mixtur
verschiedener Wege, den Umständen entsprechend, geben.
All die Herkulesprobleme des Konfliktes können gelöst
werden – wenn es einen Willen gibt. Es ist der Wille, der das
Problem darstellt.
DIE, DIE die Ein-Staat -Lösung vertreten, denken an
die Erfahrung Süd-Afrikas. Für sie ist Israel ein Apartheidstaat
wie das frühere Südafrika, und deshalb muss die Lösung ähnlich wie
in Süd-Afrika sein.
Die Situation in den besetzten Gebieten - und auch im
eigentlichen Israel -ähnelt tatsächlich sehr dem Apartheidregime.
Das Apartheid-Beispiel mag mit Recht in politischen Debatten
zitiert werden. Aber in Realität gibt es sehr wenig Ähnlichkeit –
falls überhaupt – zwischen den beiden Ländern.
David Ben-Gurion gab einmal den südafrikanischen
Führern einen Rat: die Teilung. Konzentriert die weiße Bevölkerung
im Süden in der Kap-Region, und tretet die andern Teile des Landes
an die Schwarzen ab. Beide Seiten Süd-Afrikas wiesen diese Idee
wütend ab, weil beide Seiten an ein einziges, vereintes Land
glaubten.
Sie sprachen weithin dieselbe Sprache, gehörten zur
selben Religion und waren in dieselbe Wirtschaft integriert. Der
Kampf ging um die Herren-Sklaven-Beziehung mit einer kleinen
Minderheit, die das Zepter über eine massive Mehrheit schwang.
Nichts davon stimmt mit unserem Land überein. Hier
haben wir es mit zwei verschiedenen Nationen zu tun, zwei
Bevölkerungen von etwa derselben Größe, zwei Sprachen, zwei (oder
eher drei) Religionen, zwei Kulturen, zwei völlig verschiedenen
Wirtschaften.
Eine falsche Aussage führt zu falschen
Schlussfolgerungen. Die eine von ihnen ist, dass Israel wie
Südafrika durch einen internationalen Boykott auf die Knie gebracht
werden kann. Was Südafrika betrifft, so ist das eine gönnerhaft
imperialistische Illusion. Der Boykott – moralisch und so bedeutend
er war - tat nicht seinen Job. Es war der Kampf der Afrikaner
selbst, ihre mutigen Streiks und Aufstände, die den Sieg brachten.
Einige lokale weiße Idealisten standen ihnen bei.
Ich bin ein Optimist und ich hoffe, dass schließlich
(und endlich) jüdische Israelis und palästinensische Araber
Schwesternationen werden, die in Harmonie Seite an Seite leben. Aber
um an diesen Punkt zu kommen, muss es eine Periode geben, in der
man friedlich in zwei neben einander liegenden Staaten lebt,
hoffentlich mit offenen Grenzen.
DIE LEUTE, die jetzt von der „Ein-Staaten-Lösung“
sprechen, sind Idealisten. Aber sie richten eine Menge Schaden an.
Und nicht nur, weil sie sich und andere daran hindern, für die
einzig realistische Lösung zu kämpfen.
Wenn wir zusammen in einem Staat leben wollen, hat es
keinen Sinn, gegen die Siedlungen zu kämpfen. Wenn Haifa und
Ramallah in einem Staat sein werden, welchen Unterschied macht es
dann, wenn eine Siedlung bei Haifa oder bei Ramallah liegt? Aber
der Kampf gegen die Siedlungen ist absolut wesentlich, es ist das
Hauptschlachtfeld im Kampf für den Frieden.
Seltsamerweise ist die EIN-Staat-Lösung das gemeine
Ziel der extrem zionistischen Rechten und der extrem
anti-zionistischen Linken. Und da die Rechte unvergleichlich stärker
ist, ist es die Linke, die der Rechten hilft und nicht anders herum.
Theoretisch sollte es so sein, weil die Anhänger der
Ein-Staat-Lösung glauben, dass die Rechten nur den Boden für ihr
zukünftiges Paradies vorbereiten. Die Rechte vereint das Land und
macht der Möglichkeit eines unabhängigen Staates Palästina ein
Ende. Sie werden die Palästinenser allen Schrecken der Apartheid
unterwerfen und vielem mehr, da es für die südafrikanischen
Rassisten nicht das Ziel war, die Schwarzen zu vertreiben und zu
ersetzen. Aber zu gegebener Zeit – vielleicht in nur wenigen
Jahrzehnten oder nach einem halben Jahrhundert – wird die Welt
Großisrael zwingen, den Palästinensern die vollen Rechte zu
gewähren- und Israel wird Palästina werden.
Nach dieser linken Theorie wird die Rechte, die jetzt
den einen rassistischen Staat schafft, in Wirklichkeit „der Esel des
Messias“, das legendäre Tier, auf dem der Messias zum Triumpf reiten
wird.
Das ist eine wunderschöne Theorie, aber was ist die
Versicherung, dass dies wirklich geschehen wird? Und bevor das
letzte Stadium beginnt, was wird mit dem palästinensischen Volk
geschehen? Wer wird die Herrscher von Groß-Israel zwingen, das
Diktat der Weltöffentlichkeit zu akzeptieren?
Wenn Israel sich jetzt weigert, sich der Weltmeinung
zu beugen, und es den Palästinenser n ermöglicht, ihren eigenen
Staat auf 28% des historischen Palästina zu haben, warum sollten sie
sich in Zukunft der Weltmeinung beugen und Israel im Ganzen
aufgeben?
Indem wir über einen Prozess sprechen, der sicherlich
noch 50 Jahre oder mehr dauert, wer weiß, was bis dahin geschieht?
Welche Veränderungen der Welt werden in der Zwischenzeit geschehen?
Welche Kriege und andere Katastrophen werden die Welt vom
palästinensischen Problem ablenken?
Würde man wirklich das Schicksal einer Nation nach
einer weit hergeholten Theorie wie diese aufs Spiel setzen?
NEHMEN WIR für einen Moment an, dass die
„Ein-Staat-Lösung“ Wirklichkeit würde, wie würde sie funktionieren?
Werden dann israelische Juden und palästinensische
Araber in derselben Armee dienen, dieselben Steuern zahlen, nach
denselben Gesetzen leben, zusammen in denselben Parteien arbeiten?
Wird es soziale Interaktionen unter ihnen geben? Oder wird der Staat
in einem unendlichen Bürgerkrieg versinken?
Ander e Völker fanden es unmöglich, in einem Staat
zusammen zu leben. Man denke an die Sowjetunion, Jugoslawien,
Serbien, Tschechoslowakei, Cypern, der Sudan. Die Schotten wollen
sich vom vereinten britischen Königreich trennen. So auch die
Basken und die Katalonier in Spanien. Die Franzosen in Kanada und
die Flamen in Belgien sind unruhig. Soweit ich weiß, haben nirgendwo
in der ganzen Welt seit Jahrzehnten zwei verschiedene Völker darin
übereingestimmt, einen gemeinsamen Staat zu bilden.
NEIN, DIE Zwei-Staatenlösung ist nicht tot. Sie kann
nicht sterben, weil sie die einzige Lösung ist, die es gibt.
Verzweiflung kann bequem und verlockend sein. Aber
Verzweiflung ist keine Lösung.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)
|