„Tod den
Arabern!“
Uri Avnery, 29.3.08
MORGEN WIRD der 32.
Jahrestag des „Tags des Bodens“ sein, einer der entscheidenden
Ereignisse in der Geschichte Israels.
Ich erinnere mich sehr gut
an diesen Tag. Ich war im Ben Gurion-Flughafen auf dem Weg zu einem
geheimen Treffen mit Said Hamami, Yasser Arafats Botschafter in
London, als mir jemand erzählte: „Sie haben eine Reihe arabischer
Demonstranten erschossen!“
Das kam nicht ganz
unerwartet. Ein paar Tage zuvor hatten wir – Mitglieder des neu
gegründeten israelischen Rates für Israelisch-Palästinensischen
Frieden – Ministerpräsident Yitzhak Rabin ein dringendes Memorandum
überreicht, das ihn davor warnte, dass die Absicht der Regierung,
große Teile des Landes arabischer Dörfer zu enteignen, eine
Explosion verursachen könnte. Wir fügten einen Vorschlag für eine
alternative Lösung bei, die von Lova Eliav, einem erfahrenen
Experten der Siedlungen, ausgearbeitet worden war.
Als ich aus dem Ausland
zurückgekehrt war, schlug der Dichter Yevi vor, dass wir eine
symbolische Geste der Mitgefühls und des Bedauerns für das Tötung
machen sollten. Wie drei - Yevi selbst, der Maler Dan Kedar und ich
- legten Kränze auf die Gräber der Opfer. Eine Hasswelle schlug uns
entgegen. Ich hatte das Gefühl, dass etwas sehr Wichtiges geschehen
sei, dass die Beziehungen zwischen Juden und Arabern innerhalb des
Staates sich grundsätzlich verändert hatten.
Und tatsächlich: die
Auswirkungen des „Tags des Bodens“ , wie das Ereignis von 1976
genannt wurde, war sogar stärker als das Massaker in Kafr Qassem
1956 und die Morde im Zusammenhang mit den Oktoberereignissen im
Jahr 2000.
DIE URSACHEN dafür gehen
bis in die ersten Tage des Staates zurück.
Nach dem 1948er-Krieg war
nur eine kleine, schwache, verängstigte arabische Gemeinschaft im
israelischen Staat zurückgeblieben. Es waren nicht nur 750 000
Araber aus ihrem Boden, das jetzt zum Staat Israel geworden war,
entwurzelt worden, der zurückbleibende Rest war ohne Führung. Die
politischen, intellektuellen und wirtschaftlichen Eliten waren
verschwunden, die meisten gleich zu Beginn des Krieges. Das Vakuum
wurde irgendwie von der kommunistischen Partei gefüllt, deren
Führern erlaubt worden war, aus dem Ausland zurückzukehren –
hauptsächlich um Stalin zu befriedigen, der damals Israel
unterstützte.
Nach einer internen Debatte
entschieden die Führer des neuen Staates, den Arabern im „jüdischen
Staat“ die Staatsbürgerschaft und das Stimmrecht zu gewähren. Das
war nicht selbstverständlich. Aber die Regierung wollte der Welt
zeigen, dass dies ein demokratischer Staat sei. Meiner Meinung nach
war der Hauptgrund partei-politisch: David Ben-Gurion glaubte, er
könne so die Araber dahin bringen, für seine Partei zu wählen.
Und tatsächlich: der größte
Teil der arabischen Bürger stimmte für die Laborpartei (damals Mapai
genannt), und ihre beiden arabischen Tochterparteien genau zu
diesem Zweck geschaffen wurden. Sie hatten keine andere Wahl: sie
lebten in einem Zustand der Angst unter den wachsamen Augen des
Sicherheitsdienstes ( damals Shin Bet genannt). Jeder arabischen
Hamula (Großfamilie) war genau gesagt worden, wie sie zu wählen
hatte, entweder für Mapai oder eine der beiden Ableger. Da jede
Wahlliste zwei verschiedene Stimmzettel hat, eine auf hebräisch und
eine auf arabisch , gab es für treue Araber in jedem Wahllokal sechs
Möglichkeiten, und es war für den Shin Bet ein Leichtes, sicher zu
gehen, dass jede Großfamilie genau so wählte, wie sie zuvor
instruiert worden war. Mehr als einmal erhielt so Ben Gurion nur mit
Hilfe dieser unfreiwilligen Stimmen die Mehrheit in der Knesset.
Um der „Sicherheit“ willen
(im doppelten Sinn) waren die Araber einer „Militärregierung“
unterworfen. Jede Kleinigkeit ihres Lebens hing davon ab. Sie
benötigten eine Genehmigung, um ihr Dorf zu verlassen, um in die
nächste Stadt oder ins nächste Dorf zu gehen. Ohne die Genehmigung
der Militärregierung konnten sie keinen Traktor kaufen, keine
Tochter auf das Lehrerseminar schicken, keinen Arbeitsplatz für den
Sohn oder eine Importlizenz bekommen. Mit Hilfe der Militärregierung
und einer ganzen Reihe von Gesetzen wurden große Teile des
arabischen Bodens für jüdische Städte und Kibbuzim enteignet.
Eine Geschichte hat sich
meinem Gedächtnis eingeprägt: mein verstorbener Freund, der Dichter
Rashed Hussein aus dem Dorf Musmus wurde zum Militärgouverneur in
Netanya bestellt, der ihm sagte: nächstens ist der
Unabhängigkeitstag, und ich möchte, dass du für diese Gelegenheit
ein hübsches Gedicht schreibst. Rashed eine stolzer junger Mann,
weigerte sich. Als er nach Hause kam, saß seine ganze Familie auf
dem Fußboden und weinte. Zuerst dachte er, es sei jemand gestorben.
Doch dann rief seine Mutter aus: „Du hast uns ruiniert. Wir sind am
Ende!“ Also hat er doch ein Gedicht geschrieben.
Jede unabhängige arabische
politische Initiative wurde im Keim erstickt. Die erste solche
Gruppe – die nationalistische Al-Ard („das Land“)-Gruppe – wurde
rigoros unterdrückt. Sie wurde für ungesetzlich erklärt, ihre
Führer verbannt, ihre Zeitung verboten - all dies mit
Einverständnis des Obersten Gerichtshofes. Nur die Kommunistische
Partei wurde in Ruhe gelassen, aber ihre Führer wurden auch von Zeit
zu Zeit verfolgt.
Die Militärregierung wurde
erst 1966 aufgelöst, nach Ben Gurions Ausscheiden als
Ministerpräsident und kurze Zeit, nachdem ich in die Knesset gewählt
worden war. Nachdem ich viele Male dagegen demonstriert hatte, hatte
ich das Vergnügen, für ihre Abschaffung zu stimmen. In der Praxis
hat sich allerdings wenig verändert – anstelle der offiziellen
Militärregierung blieb eine inoffizielle, und so blieben auch die
meisten Diskriminierungen.
„DER TAG DES BODENS“
veränderte die Situation. Eine zweite Generation Araber war in
Israel herangewachsen, die nicht mehr ängstlich unterwürfig war,
eine Generation, die nicht die Erfahrung der Massenvertreibung
gemacht hatte und deren wirtschaftliche Situation sich verbessert
hatte. Der den Soldaten und Polizisten gegebene Befehl, auf sie das
Feuer zu eröffnen, verursachte einen Schock. So begann ein neues
Kapitel.
Der Prozentsatz der
arabischen Bürger im Staat hat sich nicht verändert: von den ersten
Tagen des Staates bis jetzt hat er um 20% betragen. Das größere
natürliche Wachstum der muslimischen Bevölkerung wurde durch die
jüdische Einwanderung wettgemacht. Aber die Anzahl ist sehr
gewachsen: von 200 000 zu Anfang des Staates auf beinahe 1,3
Millionen – also zwei mal so groß wie die jüdische Gemeinschaft, die
den Staat gründete.
Der Tag des Bodens
veränderte auch dramatisch die Haltung der arabischen Welt und des
palästinensischen Volkes zu den Arabern in Israel. Bis dahin wurden
sie als Verräter und Kollaborateure der Zionisten betrachtet. Ich
erinnere mich an eine Szene: bei der Konferenz 1965 in Florenz,
die von dem legendären Bürgermeister Giorgio la Pira zusammen
gerufen wurde. Er versuchte, Persönlichkeiten aus Israel und der
arabischen Welt zusammen zu bringen. Zum damaligen Zeitpunkt war
dies ein sehr gewagtes Unterfangen.
Während einer der Pausen
unterhielt ich mich mit einem ranghohen ägyptischen Diplomaten auf
eine sonnigen Platz vor dem Konferenzgebäude, als zwei junge Araber
aus Israel, die von dieser Konferenz gehört hatten, sich uns
näherten. Nachdem wir uns umarmt hatten, stellte ich sie dem Ägypter
vor, aber er drehte sich um und rief aus: „Ich bin bereit, mit Ihnen
zu reden, aber nicht mit diesen Verrätern!“
Das blutige Geschehen am Tag
des Bodens brachte die „israelischen Araber“ wieder in die Arme der
arabischen Nation und des palästinensischen Volkes zurück, das sie
jetzt die „Araber von 1948“ nennt.
Im Oktober 2000 erschossen
Polizisten wieder arabische Bürger, als sie versuchten, ihre
Solidarität mit den getöteten Arabern auf dem Tempelplatz in
Jerusalem auszudrücken. Inzwischen ist aber eine dritte Generation
von Arabern in Israel aufgewachsen, von denen viele trotz der
Hindernisse Universitäten besucht hatten und Geschäftsleute,
Politiker, Professoren, Rechtsanwälte und Ärzte geworden sind. Es
ist unmöglich, diese Gemeinschaft zu ignorieren – selbst wenn der
Staat sich große Mühe gibt, genau dies zu tun.
Von Zeit zu Zeit werden
Klagen über Diskriminierungen laut, aber jeder schreckt davor
zurück, die grundsätzliche Frage anzuschneiden: welchen Status hat
die arabische Minderheit, die in einem Staat aufwächst, der sich
offiziell selbst als „jüdischer und demokratischer Staat“
bezeichnet?
EIN FÜHRER der arabischen
Gemeinschaft, das verstorbene Knessetmitglied Abd-alAziz Zuabi,
definierte sein Dilemma auf diese Weise: „Mein Staat führt mit
meinem Volk einen Krieg.“ Die arabischen Bürger gehören zum Staat
Israel und gleichzeitig zum palästinensischen Volk.
Ihre Zugehörigkeit zum
palästinensischen Volk ist selbstverständlich. Die arabischen Bürger
Israels, die seit kurzem dazu neigen, sich „Palästinenser in Israel“
zu nennen, sind nur ein Teil des geschlagenen palästinensischen
Volkes, das aus vielen Zweigen besteht: die Bewohner der besetzten
Gebiete ( nun auch geteilt in die auf der Westbank und im
Gazastreifen), Die Araber Ostjerusalems (offiziell „Bewohner“ aber
keine „Bürger“ Israels), und die Flüchtlinge, die in vielen
verschiedenen Ländern leben – und jeder mit seinem eigenen Regime.
Alle haben ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl, aber das
Bewusstsein eines jeden wird von seiner besonderen Situation
geprägt.
Wie stark ist die
palästinensische Komponente im Bewusstsein der arabischen Bürger
Israels?
Wie kann sie gemessen
werden? Die Palästinenser in den besetzten Gebieten beklagen sich
oft, dass diese sich hauptsächlich in Worten ausdrückt und nicht in
Taten. Die von den arabischen Bürgern Israels gegebene Unterstützung
für den palästinensischen Befreiungskampf ist hauptsächlich
symbolisch. Hier und dort werden Bürger verhaftet, weil sie einem
Selbstmordattentäter geholfen haben – aber das sind Ausnahmen.
Als der extreme
Araber-Hasser Avigdor Liberman den Vorschlag machte, eine Reihe
arabischer Dörfer in Israel, die an der Grünen Linie liegen (das
„Dreieck“ genannt), dem zukünftigen palästinensischen Staat
zuzuschlagen als Preis für die jüdischen Siedlungsblocks in der
Westbank, wurde keine einzige arabische Stimme laut, die das
unterstützte. Das ist eine sehr bedeutsame Tatsache.
Die arabische Gemeinschaft
ist viel mehr in Israel verwurzelt, als es auf den ersten Blick hin
aussieht. Die Araber spielen eine bedeutende Rolle in der
israelischen Wirtschaft, sie arbeiten im Staat, zahlen Steuern an
den Staat. Sie genießen die Vergünstigungen der sozialen
Versicherung – zu Recht, da sie auch dafür zahlen. Ihr
Lebensstandard ist viel höher als der ihrer palästinensischen Brüder
in den besetzten Gebieten u.a.m. Sie sind ein Teil der israelischen
Demokratie und haben nicht den Wunsch, unter Regimen wie denjenigen
in Ägypten oder Jordanien zu leben. Sie haben ernste und berechtigte
Klagen – aber sie leben in Israel und wollen weiter dort leben.
IN DEN LETZTEN Jahren haben
Intellektuelle der dritten arabischen Generation in Israel mehrere
Vorschläge für die Normalisierung der Beziehungen zwischen der
Mehrheit und der Minderheit veröffentlicht.
Da gibt es vor allem zwei
Alternativen:
Die erste meint: Israel ist
ein jüdischer Staat, aber es lebt auch ein anderes Volk hier. Wenn
die jüdischen Israelis die nationalen Rechte ( für sich) definiert
haben, dann müssen auch die arabischen Israelis definierte
nationalen Rechte bekommen. Zum Beispiel eine Bildungs-, Kultur-
und religiöse Autonomie (wie es der junge Vladimir Zeev Jabotinsky
vor hundert Jahren für die Juden im zaristischen Russland forderte).
Es müsse ihnen erlaubt sein, offene Verbindungen mit der arabischen
Welt und dem palästinensischen Volk zu pflegen, wie die jüdischen
Bürger mit der jüdischen Diaspora. All dies muss bei einer
zukünftigen Verfassung des Staates schriftlich festgelegt werden.
Die zweite Alternative wäre:
Israel gehört allen seinen Bürgern und nur ihnen. Jeder Bürger ist
ein Israeli, so wie jeder US-Bürger ein US-Amerikaner ist. So weit
es den Staat betrifft, gibt es keinen Unterschied zwischen dem einen
Bürger und den anderen, sei er nun Jude, Muslim oder Christ, Araber
oder Russe, genau so wie im amerikanischen Staat es keinen
Unterschied zwischen weißen, dunklen oder schwarzen Bürgern gibt, ob
sie europäischer, afrikanischer oder asiatischer Herkunft sind, ob
sie protestantisch oder katholisch, jüdisch oder muslimisch sind.
Nach israelischer Redeweise wird dies ein „Staat aller seiner
Bürger“ genannt.
Es ist klar, dass ich die
zweite Alternative bevorzuge, aber ich bin auch bereit, die erste zu
akzeptieren. Jede ist besser als die bestehende Situation, wenn der
Staat vorgibt, dass es kein Problem gebe, abgesehen von ein paar
Diskriminierungen, die überwunden werden müssten (ohne dass man
etwas dagegen tut).
Wenn es aber an Mut fehlt,
eine Wunde zu behandeln, dann wird sie eitern. Bei Fußballspielen
schreit der Pöbel: „Tod den Arabern!“ und in der Knesset drohen
Vertreter der Extrem-Ultra-Rechten, die arabischen Mitglieder aus
dem Haus zu vertreiben und danach aus dem Staat .
Am 32. Jahrestag des „Tags
des Bodens“ vor dem 60. des Unabhängigkeitstages ist es an der
Zeit, dass wir diesen Stier bei den Hörnern packen.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorosiert)
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