Das vorausgesagte Massaker
Uri Avnery, 6.8.05
Das Massaker
war erwartet worden genau wie die Fragen, die sich danach
stellten. Aber hinter den simplen Fragen, die sich praktisch von
alleine stellten, stecken schwierigere und nicht gestellte
Fragen.
Der
Geheimdienst ( Shabak, auch Shin Bet genannt) hat lange davor
gewarnt, dass der Abzug aus dem Gazastreifen zu einem Ausbruch
von jüdischem Terrorismus führen könnte, der die Evakuierung der
Siedlungen verhindern möchte. Er wies auch auf drei Szenarien
hin: den Mord am Ministerpräsidenten, ein Attentat auf die den
Muslimen heiligen Moscheen auf dem Tempelberg und ein Massaker
an Arabern.
Unter diesen
drei Möglichkeiten ist das Massaker an Arabern die einfachste
und wirksamste. Sie zielt dahin, Unruhen zu verursachen und die
Polizei zu zwingen, Einheiten aus dem Gebiet der Evakuierung
abzuziehen. So wird die Auflösung der Siedlungen verhindert.
Der mörderische
Akt von Eden Nathan-Zadeh passt genau zu diesem Modellfall. Er
stieg in einen Bus, der in eine arabische Stadt (Shefaram) fuhr,
tötete vier israelisch-arabische Bürger und wurde von einer
aufgebrachten Menge erschlagen. Die Polizei war gezwungen, mehr
als tausend Polizisten aus dem Evakuierungsgebiet im Süden
abzuziehen und nach Galiläa im Norden zu verlegen. Das macht es
rechten Aktivisten leichter, nach Gush Kativ einzudringen.
Die simplen
Fragen wurden sofort gestellt. Wenn der Shin Bet genug gewusst
hat, um vor der Gefahr zu warnen, warum hat er dann nicht die
Überwachung der extrem Rechten verstärkt, deren Identität und
deren Zufluchtsorte ihnen bekannt waren. Schließlich hatte sich
der Mörder in der Tapuach-Siedlung, der Schlangengrube von
Kach-Militanten, aufgehalten, deren mörderisches Wesen bekannt
war. Der Mörder selbst war schon mehrfach im Lauf von extrem
rechten Aktivitäten in der Vergangenheit festgenommen worden.
Und warum handelte die Armee nicht, obwohl der Kommandeur des
Mörders wusste, dass er aus Protest gegen die Evakuierung
desertiert war und seine Waffe mitgenommen hatte? Seine Mutter,
die vorausgesehen hatte, was kommen wird, bombardierte die
Armee mit Bitten, ihn zu suchen und ihm die Waffe abzunehmen.
Das sind die
einfachen Fragen.
Doch gibt es
Fragen, deren Antworten komplexer sind.
Warum wird den
Kach-Leuten erlaubt, so großspurig wie Könige in ihrem
Königreich aufzutreten? Die Kach-Gruppe wurde vor 12 Jahren
offiziell zur terroristischen Organisation und darum als
ungesetzlich erklärt. Das heißt, jeder, der zu ihr gehört, sie
mit Geld oder auf andere Weise unterstützt, rechtlich als
Terrorist betrachtet wird, ( nach genau diesem Gesetz kam Sheik
Raed Salah, der Bürgermeister der israelisch-arabischen Stadt
Umm-El-Fahm, für zwei Jahre ins Gefängnis ).
Kach („SO“ auf
hebräisch) ist eine religiös-faschistische Gruppe. Sie
befürwortet den Mord an Arabern, den Rachemord, die Vertreibung
von israelisch-arabischen Bürgern und der Bewohner der besetzten
palästinensischen Gebiete. Sie pflegen einen Führerkult ihres
Gründers, Meir Kahane, der von einem Araber in den USA
erschossen wurde und hoch verehrt wird wie Baruch Goldstein,
der Mann, der den Massenmord in der Hebroner Moschee begangen
hat.
Aber seit
Jahren ziehen Kach-Leute ungehindert durchs Land und begehen
zahllose Schandtaten gegen israelisch-arabische Bürger und
Bewohner der besetzten palästinensischen Gebiete. Von Zeit zu
Zeit wird einer ihrer Rowdys verhaftet und nach wenigen Tagen
wieder entlassen. Wenn einer von ihnen dann doch einmal vor
Gericht gestellt wird, dann ist die Gerichtsverhandlung eine
Farce. Bei diesem Katz- und Mausspiel ist es nicht ganz klar,
wer dabei die Katze und wer die Maus ist.
Es kommt aber
noch schlimmer: während dieser Jahre wurden die Kach-Leute wie
Fernsehstars behandelt. Prahlerisch äußern sie in den Medien
ihre Hetzbotschaften und werden häufig interviewt, immer mit
Untertiteln wie „Kach-Aktivist“, „Kahane-lebt-Aktivist“,
„Mitglied des früheren Kach“. Sie erscheinen bei den
Beerdigungen von Opfern palästinensischer Angriffe und bei
Gerichtsverhandlungen arabischer Angeklagter und schreien: „Tod
den Arabern!“ Sie benützen das Fernsehen offen als Instrument
zum Anwerben neuer Mitglieder und vergiften so die Gehirne
zukünftiger Rekruten.
Es ist
unmöglich, durch Israel zu fahren, ohne dem Gesicht Meir Kahane
auf Postern oder Graffitis zu begegnen. Slogans wie „Kahane
hatte Recht“ und „Tod den Arabern“ mit dem Emblem der drohenden
Faust erscheint an vielen Mauern im ganzen Land, besonders aber
in Jerusalem, Hebron und Kiryat Arba. Keiner macht sich die
Mühe, sie zu entfernen.
Wie ist das
möglich? Sehr einfach: wie in andern Ländern, z.B. im
Deutschland der 20er und 30er Jahre ( der glücklosen „Weimarer
Republik“) behandelten Richter und Polizisten die Faschisten
als „fehlgeleitete Patrioten“, als „gute Kerle, die etwas zu
weit gehen“ – es war damit eher Sorge als Ärger ausgedrückt.
Die einfache
Wahrheit ist, dass die halb-geheimen Regierungsorgane, die seit
Jahrzehnten die illegalen Siedlungsaktivitäten betrieben haben,
die Kach-Leute für ihre Zwecke ausnützten. Nur so kann man die
Existenz der Kahane-Siedlungen erklären. Eine von ihnen ist der
verfaulte Apfel (Tapuach bedeutet Apfel.).
Noch
schwieriger ist die Frage zu beantworten, in der es um die „
bußfertigen Juden“ geht. Warum kommen so viele jüdische
Terroristen aus dieser Gruppe?
Es ist eine
Sekte innerhalb einer Sekte, aus der die gefährlichsten
jüdischen Terroristen kommen.
Das religiöse
Lager in Israel besteht aus zwei Teilen: Die Haredim
(„Die vor Gott Zitternden“), die die Tradition des orthodoxen
Judentums der Diaspora fortsetzen. Der andere Teil der großen
Mehrheit besteht aus „religiösen Zionisten“, die
praktisch eine Sekte darstellen. Sie ähneln kaum dem
traditionellen Judentum. Man könnte sagen, sie sind eine
Mutation des Judentums, „Made in Israel“.
Die
Haredim haben eine höchst ambivalente
Haltung gegenüber dem Staat Israel.. Als der Zionismus in Europa
entstand, verfluchten fast alle bedeutenden Rabbiner seinen
Gründer Theodor Herzl und klagten ihn an, er verdränge die
jüdische Religion durch jüdischen Nationalismus. Das zentrale
Thema des Zionismus, das „Einsammeln der Exilanten“, war in den
Augen der Orthodoxen Ketzerei. Heute sind die Haredim
bereit, den Staat für ihre Zwecke zu melken, aber sie verbieten
ihren Schülern, den israelischen Unabhängigkeitstag zu feiern
oder die Flagge zu respektieren. Und während viele ihrer
Anhänger nun vom nationalen Bazillus angesteckt wurden, sind sie
bei den letzten großen Demos gegen den Abzug auffallend nicht
dabei gewesen. Ihre Rabbiner hatten ihnen verboten, daran
teilzunehmen.
„Religiöser
Zionismus“ hat sich im Gegensatz dazu über die Jahre zu
einer messianischen Sekte entwickelt, etwa wie die Zeloten zur
Zeit der Zerstörung des 2. Tempels vor 1935 Jahren. Sie
behaupten einen direkten Draht zu Gott zu haben, der ihnen sagt,
was sie tun sollen. Sie „bringen die Erlösung“ und zwingen den
Messias, bald zu kommen. Die Siedlungen sind ihre Vorkämpfer.
Die
„bußfertigen Juden“ sind eine noch extremere Sekte.
Traditionelles Judentum behandelt Proselyten mit Argwohn (
„Proselyten sind gegenüber Israel so schädlich wie Krätze “,
sagt der Talmud) und ihre Haltung gegenüber säkularen Juden,
die plötzlich fromm werden, ist nicht viel anders. Die meisten
„bußfertigen Rabbiner“ predigen einen nationalistischen,
abgehobenen, mystischen, extremen und zügellosen Glauben, der
das demokratische System vollkommen verwirft und zu einem
„Glaubensstaat“ aufruft.
Dies ist die
Brutstätte für die meisten jüdischen Terroristen der letzten
Jahre gewesen, die Mitglieder verschiedener „ jüdischer
Untergrundgruppen“ und auch des Shefaram-Mörders.
Man muss sich
fragen : Warum wird diesen Rabbinern, von denen einige sogar
Regierungsangestellte sind, erlaubt, ihre aufhetzenden
Botschaften zu verbreiten, die Gehirne der jungen Leute zu
vergiften, gegen gewählte Offizielle zu hetzen und das
demokratische System zu untergraben?
Eine andere
wichtige Frage betrifft die Verbindung zwischen dem Mord und
den Gegnern des Abzugs und besonderes zum sog. Yesha-Rat.
(Yesha ist im Hebräischen ein Akronym für Judäa, Samaria und
Gaza. Der Yesha-Rat ist die selbsternannte Führung der
Siedler, die den augenblicklichen Kampf gegen den Rückzug aus
dem Gazastreifen leitet).
Als einer der
Yesha-Führer darüber bei einem TV-Interview gefragt wurde,
explodierte er vor Zorn. Allein diese Frage sei eine
schreckliche Beleidigung, erwiderte er, und verletze ihre Ehre
und kriminalisiere sie. Wirklich?
Wahr ist,
dass die Yesha-Führer sehr gerissen sind. Sie wissen,
wenn ihre Anhänger Soldaten oder Polizisten verletzen, dann
würden sie jede öffentliche Unterstützung verlieren. Sie
predigen Gewaltlosigkeit in den Medien und bei jeder
Gelegenheit. Ihr Hauptslogan ist „Wir lieben Euch“. Während
ihrer letzten beiden großen Demonstrationen gelang es ihnen
tatsächlich, ihre Herde im Zaun zu halten. Aber jeder, der ihre
Demos im Fernsehen beobachtet, sieht, wie die Kach-Leute
ihre Banner fliegen lassen. Die Präsenz von „bußfertigen
Juden“, die man leicht an ihrer Kleidung und ihrem Verhalten
erkennen kann, war bemerkenswert. Die Yesha-Führer schienen
nichts gegen ihre Gegenwart zu haben.
Auch haben
sich die Yesha-Führer niemals von den Hetzsendungen der
extremen Rabbiner distanziert, die den Ministerpräsidenten, die
Regierung und die Knesset in einer Sprache verfluchen, die die
Saat des Unheils bei ihren Anhängern sät. Sie können nicht
behaupten, dass ihnen die möglichen Konsequenzen nicht bewusst
sind: der Mord an Yitzhak Rabin ist eine Warnung, die niemand
ignorieren kann.
Als die
Yesha-Führer unmittelbar nach dem Massaker in Shefaram im
Fernsehen erschienen, gaben sie die übliche Verurteilung von
sich, aber schon mitten im Satz wandten sie sich dem
Abzugsstreit zu und gaben Ariel Sharon die Schuld für all diese
Verbrechen.
Die Leute von
Tapuach gaben vor, dass der Mörder in letzter Zeit nicht bei
ihnen gewesen, sondern nach Gush Kativ umgezogen sei. In dem
Brief, den der Mörder seinem Kommandanten vor der Fahnenflucht
schrieb, erklärte er, dass er nicht bereit sei, an der
Evakuierung der Siedler teilzunehmen. Und was besonders wichtig
ist: das Timing der Gräueltat lässt keinen Zweifel, dass er
vorhatte, den Abzug zu verhindern.
Keine verbale
Wäsche kann den Yesha-Rat von der Verantwortung für diesen Akt -
und die sicher noch folgenden Akte - rein waschen. Je mehr die
Kampagne des „zivilen Ungehorsams“ der extremen Rechten sich als
Fehlschlag herausstellt, um so mehr wird sich die noch extremere
Rechte zu mörderischer Gewalt hinreißen lassen.
Ist es Zufall,
dass Yesha sich auf Pesha – das hebräische Wort für
Verbrechen – reimt?
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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