Weiße Lüge *
Uri Avnery, 27.2.10
AM
KOMMENDEN Mittwoch wird der Oberste Gerichtshof Israels den Antrag
einer Gruppe israelischer Bürger bearbeiten, um das
Innenministerium dahin zu bringen, sie als Angehörige der
„israelischen Nation“ zu registrieren .
Merkwürdig? Tatsächlich.
Das israelische Innenministerium erkennt 126 Nationen an, aber keine
israelische Nation. Ein israelischer Bürger kann als Angehöriger
der assyrischen, der tatarischen oder der tscherkessischen Nation
eingetragen werden. Aber eine israelische Nation? Pardon, die gibt
es nicht.
Nach der offiziellen Doktrin kann der Staat Israel eine israelische
Nation nicht anerkennen, weil es der Staat der „jüdischen“ Nation
ist. Mit andern Worten, der Staat gehört den Juden in Brooklyn,
Budapest und Buenos Aires, obwohl diese sich selbst als Angehörige
der amerikanischen, ungarischen oder argentinischen Nation ansehen.
Verwirrend? Tatsächlich.
DIESE VERWIRRUNG entstand vor 113 Jahren, als der Wiener Journalist
Theodor Herzl das Buch „Der Judenstaat “ schrieb. Zu diesem Zweck
musste er (geistig) eine akrobatische Übung vollziehen. Man kann
sagen, dass er eine weiße Lüge* benützt hat.
Der moderne Zionismus entstand als direkte Reaktion auf den
modernen Antisemitismus. Nicht durch Zufall kam der Terminus
„Zionismus“ 20 Jahre, nachdem der Terminus „Antisemitismus“ in
Deutschland erfunden wurde, auf.
In
Europa und den beiden Amerikas blühte gerade ein anderer moderner
Terminus: der Nationalismus. Menschen, die Jahrhunderte lang
zusammen unter Dynastien von Kaisern und Königen gelebt hatten,
wollten zu eigenen Nationalstaaten gehören. In Argentinien, den
USA, Frankreich und anderen Ländern fanden „nationale“ Revolutionen
statt. Die Idee infizierte fast alle Völker, die großen, die kleinen
und die winzigen, von Peru bis Litauen, von Kolumbien bis Serbien.
Sie hatten das Gefühl, an diesen Ort und zu diesem Volk zu gehören,
wo sie lebten und starben.
All diese nationalen Bewegungen waren notwendigerweise
antisemitisch, die einen mehr, die andern weniger, weil die reine
Existenz der jüdischen Diaspora gegen ihre grundsätzlichen
Vorstellungen ging. Eine Diaspora ohne eine Heimat, zerstreut über
Dutzende von Ländern, konnte nicht in Einklang mit der Idee einer in
einem Heimatland verwurzelten Nation gebracht werden, die homogene
Einheit suchte.
Herzl verstand, dass die neue Realität an sich für Juden gefährlich
war. Anfangs spielte er mit der Idee der kompletten Assimilierung:
alle Juden sollen getauft werden und in den neuen Nationen aufgehen.
Als professioneller Schriftsteller fürs Theater dachte er sich sogar
die Szene aus: alle Wiener Juden sollten geschlossen zum Stephansdom
gehen und sich dort en masse taufen lassen.
Als ihm klar wurde, dass dieses Szenarium doch ein bisschen zu weit
hergeholt war, kam er von der Idee der individuellen Assimilierung
zu dem, was man kollektive Assimilierung nennen kann. Wenn es für
die Juden in den neuen Nationen keinen Platz gab, dann sollten sie
sich selbst zur Nation erklären wie alle anderen, die in ihrem
eigenen Heimatland verwurzelt sind und in ihrem eigenen Staat leben.
Diese Idee wurde Zionismus genannt.
ABER DA gab es ein Problem: es gab gar keine jüdische Nation. Die
Juden waren keine Nation, sondern eine religiös-ethnische Gemeinde.
Eine Nation besteht auf einer Ebene der menschlichen Existenz, eine
religiös-ethnische Gemeinschaft auf einer anderen. Eine „Nation“ ist
eine Entität, die in einem Land mit einem gemeinsamen politischen
Willen zusammenlebt. Eine „Kommunität“ ist eine religiöse Entität,
die sich auf einen gemeinsamen Glauben gründet und in verschiedenen
Ländern lebt. Ein Deutscher kann z.B. katholisch oder
protestantisch sein, ein Katholik kann Deutscher oder Franzose
sein.
Diese beiden Arten von Entitäten haben verschiedene Strategien des
Überlebens wie verschiedene Tierarten in der Natur. Wenn ein Löwe in
Gefahr ist, kämpft er; er greift an. Für diesen Zweck hat ihn die
Natur mit Zähnen und Klauen ausgerüstet. Wenn eine Gazelle in
Gefahr ist, rennt sie fort. Die Natur hat ihr schnelle Beine
gegeben. Jede Methode ist gut, wenn sie effizient ist. (Wenn sie
nicht effizient wäre, hätte die Art nicht bis zum heutigen Tag
überlebt).
Wenn eine Nation in Gefahr ist, steht sie auf und kämpft. Wenn eine
religiöse Gemeinschaft in Gefahr ist, geht sie woanders hin. Die
Juden haben mehr als andere diese Art der Flucht perfektioniert.
Sogar nach den Schrecken des Holocausts hat die Diaspora überlebt,
und jetzt – zwei Generationen später - blüht sie wieder.
UM
EINE jüdische Nation zu erfinden, musste Herzl diesen Unterschied
ignorieren. Er behauptete, dass die jüdische ethnisch-religiöse
Gemeinde auch eine jüdische Nation sei. Mit anderen Worten: im
Gegensatz zu allen anderen Völkern waren die Juden beides, eine
Nation und eine religiöse Gemeinschaft – so weit es Juden betrifft,
sind die beiden ein und dasselbe. Die Nation war eine Religion, die
Religion war eine Nation.
Dies war die „weiße Lüge“. Es gab keinen anderen Weg: ohne diesen
hätte der Zionismus nicht entstehen können. Die neue Bewegung nahm
den Davidstern von der Synagoge, den siebenarmigen Leuchter vom
Tempel, die blau-weiße Flagge vom Gebetsschal.. Das Heilige Land
wurde zur Heimat. Der Zionismus füllte die religiösen Symbole mit
weltlichem, nationalem Inhalt.
Die ersten, die die Verfälschung entdeckten, waren die orthodoxen
Rabbiner. Fast alle verurteilten Herzl wegen seines Zionismus’ mit
klaren Worten. Der extremste Rabbiner war der aus Lubavitch, der
Herzl anklagte, das Judentum zu zerstören. Die Juden, schrieb er,
sind darin mit einander verbunden, dass sie sich an Gottes Gebote
halten. Doktor Herzl will dieses von Gott gegebene Band durch
säkularen Nationalismus ersetzen.
Als Herzl die zionistische Idee erfand, beabsichtigte er nicht, den
„Judenstaat“ in Palästina zu gründen, sondern in Argentinien. Als
er sein Buch schrieb, widmete er unter der Überschrift „Palästina
oder Argentinien“ dem Land sogar nur wenige Zeilen. Die Bewegung,
die er schuf, zwang ihn jedoch, seine Bemühungen um das Land Israel
(das damalige Palästina ) umzulenken, und deshalb entstand der
Staat hier.
Als der Staat Israel gegründet und der zionistische Traum
Wirklichkeit wurde, war keine „weiße Lüge“ mehr notwendig. Nachdem
der Bau vollendet war, hätte das Gerüst entfernt werden sollen. Eine
wirkliche israelische Nation war entstanden, da war keine
phantasierte mehr nötig.
IN
DIESEN Tagen gibt es im Fernsehen ein Inserat der größten
israelischen Zeitung, Yedioth Aharonot, das die wichtigsten
Schlagzeilen der Vergangenheit zeigt. Der Tag, an dem der Staat
Israels gegründet wurde, meldet eine riesige Schlagzeile:
„Hebräischer Staat!“
„Hebräischer“ Staat, nicht „Jüdischer“ Staat. Und das ist kein
Zufall; zu diesem Zeitpunkt klang der Terminus „Jüdischer Staat“
entschieden seltsam. In den vorausgegangenen Jahren gewöhnten sich
die Leute daran, eine klare Unterscheidung zu machen zwischen
„jüdisch“ und „hebräisch“, zwischen den Dingen, die zur Diaspora
gehören und jenen, die zu diesem Land gehören: Jüdische Diaspora,
jüdische Sprache (jiddisch), das jüdische Stetl, jüdische Religion,
jüdische Tradition – aber hebräische Sprache und Schrift, hebräische
Landwirtschaft, hebräische Industrie, hebräische
Untergrundorganisationen, hebräische Polizisten.
Wenn es so ist, warum erscheinen dann die Wörter „Jüdischer Staat“
in unserer Unabhängigkeits-erklärung ? Dafür gibt es einen einfachen
Grund: Die UN hatte eine Resolution zur Teilung des Landes zwischen
einem „arabischen Staat“ und einem „jüdischen Staat“ angenommen.
Dies war die juristische Basis für den neuen Staat. Die Erklärung,
die in Eile aufgesetzt wurde, besagte deshalb, dass wir dabei
waren (entsprechend der UN-Resolution) einen „jüdischen Staat
nämlich den ‚Staat Israel’“ zu errichten.
Das Gebäude wurde errichtet, aber das Baugerüst war nicht abgenommen
worden. Im Gegenteil: es wurde zum bedeutendsten Teil des Gebäudes
und beherrscht die Fassade.
WIE DIE meisten von uns glaubte David Ben-Gurion zu jener Zeit, dass
der Zionismus die Religion verdrängt habe und dass die Religion
überflüssig geworden sei. Er war sich ganz sicher, dass sie
unwichtiger und im neuen säkularen Staat von alleine verschwinden
würde. Er entschied, dass wir es uns leisten könnten, die
Yeshiva-Studenten (Talmudschüler) vom Militär zu befreien, weil er
glaubte, ihre Zahl würde von ein paar Hundert auf beinahe Null
schrumpfen. Derselbe Gedanke veranlasste ihn, die religiösen Schulen
weiter laufen zu lassen. Wie Herzl, der versprach „unsere
Geistlichen in den Tempeln zu halten und unser Berufsheer in den
Baracken“, so war sich Ben- Gurion sicher, dass der Staat ganz
säkular sein würde.
Als Herzl den „Judenstaat“ schrieb, hätte er es sich nicht träumen
lassen, dass die jüdische Diaspora weiter existieren würde. Seiner
Ansicht nach würden in Zukunft nur die Bürger des neuen Staates
„Juden“ genannt werden, alle anderen Juden in der Welt würden sich
in ihren verschiedenen Nationen assimilieren und verschwinden.
ABER DIE „weiße Lüge“ Herzls hatte Folgen, die er sich nicht hätte
träumen lassen, und so ging es auch mit den Kompromissen
Ben-Gurions. Die Religion verschwand nicht in Israel – im
Gegenteil: sie übernimmt die Macht im Staate. Die Regierung Israels
spricht heute nicht vom Nationalstaat der Israelis, die hier leben,
sondern vom „Nationalstaat der Juden“ – einem Staat, der den Juden
in aller Welt gehört, von denen die meisten anderen Nationen
angehören.
Die religiösen Schulen verschlingen das allgemeine Bildungssystem
und sind dabei, es zu überwältigen, wenn uns nicht die Gefahr
bewusst wird und wir nicht alles tun, um unsern israelischen
Charakter zu bewahren. Die Netanyahu-Regierung will die Stimmrechte
auch den Israelis zugestehen, die im Ausland leben, und dies ist ein
Schritt in die Richtung, allen Juden auf der Welt das Stimmrecht zu
geben. Und am wichtigsten: das hässliche Unkraut, das im
national-religiösen Feld wächst – die fanatischen Siedler – stoßen
den Staat in eine Richtung, die zu seiner Zerstörung führen kann.
UM
DIE Zukunft Israels zu bewahren, muss man damit beginnen, das Gerüst
vom Gebäude abzureißen. Mit andern Worten: die „weiße Lüge“, dass
Religion gleich Nation sei, zu begraben. Die israelische Nation muss
als die Basis des Staates anerkannt werden.
Wenn dieses Prinzip akzeptiert wird, wie wird dann die zukünftige
Gestalt Israels – innerhalb der grünen Linie – aussehen?
Es
gibt zwei mögliche Modelle und viele Variationen dazwischen.
Modell A:
das Multi-Nationale. Fast alle
Bürger Israels gehören zwei Nationen an: die Mehrheit gehört zur
hebräischen Nation und eine Minderheit zur
palästinensisch-arabischen. Jede Nation hat ihre Autonomie in
gewissen Gebieten, wie Kultur, Bildung und Religion. Autonomie würde
nicht territorial sein, sondern kulturell (wie Vladimir Ze’ev
Jabotinsky vor hundert Jahren dem zaristischen Russland
vorgeschlagen hatte.) Alle sind durch die israelische
Staatsbürgerschaft und die Loyalität gegenüber dem Staat vereinigt.
Die Diskriminierung der arabischen Minderheit wird eine Sache der
Vergangenheit sein – genau wie der „demographische Dämon“.
Modell B:
das amerikanische. Die amerikanische Nation ist zusammengesetzt aus
allen US-Bürgern, und alle US-Bürger bilden die amerikanische
Nation. Ein Immigrant aus Jamaika, der die US-Staatsangehörigkeit
bekommt, wird automatisch ein Mitglied der amerikanischen Nation,
ein Erbe George Washingtons und Abe Lincolns. Alle lernen in der
Schule dasselbe Kernprogramm und dieselbe Geschichte.
Welches der beiden Modelle ist vorzuziehen? Meiner Ansicht nach
ist Modell B viel besser. Aber es würde von einem Dialog zwischen
der hebräischen Mehrheit und der arabischen Minderheit abhängen. Am
Ende werden die arabischen Bürger dies entscheiden, ob sie den
Status des gleichen Partners in einer allgemeinen israelischen
Nation bevorzugen oder den Status einer anerkannten, autonom
nationalen Minderheit in einem Staat, der ihre andere Kultur
anerkennt und in Ehren hält, Seite an Seite mit der Kultur der
Mehrheit.
In
vier Tagen wird der Oberste Gerichtshof entscheiden, ob er bereit
ist, den ersten Schritt auf diesem historischen Marsch zu tun.
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eine gut gemeinte Lüge z.B. wenn man einem Todkranken sagt, er werde
bald gesund.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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