Der
Rattenfänger von Hameln
Uri Avnery, 17.12.05
VOR ETWA 721
JAHREN litt die Stadt Hameln in Deutschland unter einer Rattenplage.
Ein Bürger mit Namen Bünting bot sich an, für eine mit einander
vereinbarte Bezahlung die Stadt von der Plage zu befreien. Als er
auf seiner Pfeifenflöte spielte, kamen die verzauberten Ratten aus
ihren Löchern heraus, folgten ihm in den Fluss und ertranken. Aber
als der Pfeifer den Stadtvätern von Hameln seine Rechnung vorlegte,
wollten sie ihm nur die Hälfte zahlen.
Der Pfeifer
dachte sich eine schreckliche Rache aus. Er blies wieder auf seinem
Instrument, und dieses Mal kamen alle Kinder der Stadt heraus und
folgten ihm. Er führte sie zu einem Berg – und keines von ihnen
wurde je wieder gesehen.
ARIEL SHARON ist
eine moderne Version des Pfeifenspielers. Nachdem die Likudväter
eine schreckliche Wahlschlappe erlitten hatten, riefen sie ihn und
baten ihn, zu ihrer Rettung zu kommen. Und er blies tatsächlich
seine Pfeife wieder, und die Wähler folgten ihm zur Wahlurne. Bei
zwei Wahlkampagnen führte er sie von 19 zu 38 Knessetsitzen. (Ihm
schloss sich dann Nathan Sharansky mit noch drei Sitzen an.)
Zahlten die
Likudväter ihm den Lohn? Nichts davon! Sie machten ihm das Leben zur
Hölle, behinderten ihn an jeder Ecke, und am Ende wandte sich die
Likud-Knesset-Fraktion selbst gegen ihren eigenen
Ministerpräsidenten.
Nun brach der
Tag der Rache an. Sharon bläst wieder seine Zauberflöte, und die
Likudwähler folgen ihm - von ein paar Likudvätern selbst begleitet
– in hellen Scharen. Der restliche Likud mag, von wenigen betrauert,
ruhig den Fluss hinuntertreiben.
Nicht nur die
Kinder der Rechten folgen dem Rattenfänger, sondern auch viele
Kinder der Linken. Er ist dabei, sie zum Berg zu führen, der sie wie
die armen Kinder von Hameln verschlingen wird.
ALS ICH GESTERN
in Tel Aviv auf der Straße ging, rief jemand hinter mir her:
„He, wann
schließen Sie sich Sharon an?“
„Warum sollte
ich das tun?“ fragte ich zurück.
„Weil er Ihren
Plan erfüllen wird!“ antwortete er triumphierend.
Diese Illusion
scheint Boden zu gewinnen. Viele Linke, die die letzten Jahre in
einer warmen und bequemen Verzweiflung schwelgten, die sie von jeder
Pflicht befreite, aufzustehen und zu kämpfen, haben jetzt eine noch
angenehmere Lösung gefunden: Sharon, der Mann des rechten Flügels,
wird den Traum des linken verwirklichen. Man muss nur für Sharon
stimmen – dann wird der lang ersehnte Frieden kommen. Keine
besonderen Bemühungen sind nötig, man braucht nicht zu kämpfen. Man
muss nicht einmal einen Finger rühren.
„Haaretz“
veröffentlichte in der letzten Woche den Artikel eines Linken, der
erklärte, warum er Sharon wählen wolle: Sharon ist wie de Gaulle.
De Gaulle hatte gegen sein Versprechen Frankreich aus Algerien
herausgeholt und machte Frieden mit den Rebellen. Um der guten Sache
willen log und betrog er. Auch Sharon lügt und betrügt. Also: Sharon
wird Israel aus den palästinensischen Gebieten herausholen und
Frieden machen. Das ist doch logisch.
Wenn jemand nach
einem Beweis sucht, so konnte er es diese Woche in einer Erklärung
von Kalman Gayer, einem Amerikaner, finden, der Sharon für die
Meinungsumfragen berät. Er enthüllte Sharons „wirklichen“ Plan in
Newsweek: den Palästinensern 90% der Westbank zurückzugeben und über
Jerusalem einen Kompromiss zu machen.
Der Likud gab
einen herzzerreißenden Schrei von sich, die Linke war bestürzt.
Wie, bitte? Wirklich? Sharon ist bereit, mehr „aufzugeben“ als Ehud
Barak? Aber jemand, der mit der besonderen Redeweise Sharons
bekannt ist, kann den Code leicht entschlüsseln: Nach Gayer selbst
glaubt Sharon nicht, dass dies zu seinen Lebzeiten noch geschehen
werde, weil es keinen palästinensischen Partner für Frieden gebe.
Deshalb ist er bereit, vorläufig nur die Hälfte der Westbank
zurückzugeben.
So kommen wir –
wie durch ein Wunder – wieder zurück zu Sharons ursprünglicher
Formel: einseitig 58% der Westbank zu annektieren, keinerlei
Friedensverhandlungen mit den Palästinensern zu führen und an ganz
Jerusalem festzuhalten.
Inzwischen
verteilt Sharon ( durch seinen Verteidigungsminister, der ihm aus
dem Likud folgte) Hunderte, vielleicht Tausende Baugenehmigungen in
den Siedlungen, lässt die Mauer weiterbauen, lässt palästinensische
Häuser in Jerusalem zerstören und die Blockade in Gaza aufrecht
erhalten. Seine fortgesetzte stille Bemühung, die Position von
Mahmoud Abbas zu unterminieren, trägt schon Früchte. Doch wer
kümmert sich darum, wenn die berauschenden Flötentöne die Sinne und
Gehirne so vieler friedensliebender Linker betäuben?
WENN SHARON die
Wahlen gewinnt – in 101 Tagen ab heute – und wieder
Ministerpräsident wird, was wird er dann tun?
Die einfache
Wahrheit heißt: keiner weiß es. Ganz sicher nicht der Haufen der
„Getreuen“, der „Taktiker“, „der Ratgeber“ und der anderen Anhänger.
Nur Sharon weiß es – und vielleicht nicht einmal er.
Vielleicht wird
Druck auf ihn ausgeübt, dem er nicht widerstehen kann. Vielleicht
geschieht das Gegenteil, und er kann den Druck abwehren. Vielleicht
übernimmt er den besiegten Likud. Vielleicht geht er eine Koalition
mit der Laborpartei ein. Die Möglichkeiten sind fast unendlich.
Die wirkliche
Gefahr liegt im Wesen von Sharons eigener Partei. Sie hat keine
Ideologie außer Sharon. Kein Programm außer Sharon. Keinen Plan
außer Sharon.
Dies ist eine
Partei mit einem einzigen Führer, niemandem verpflichtet. Sein Wort
ist ihr Befehl. Er allein wird die Kandidatenliste zusammenstellen.
Er allein wird das Parteiprogramm entwerfen – das sowieso irrelevant
sein wird, da Sharon jeweils alleine entscheiden wird.
Sharon ist
niemals ein Demokrat gewesen. Von Anfang an hatte er für Parteien
und Politiker eine tiefe Verachtung. Er war und blieb ein
Fremdkörper in der Knesset. Von früher Jugend an war er davon
überzeugt, dass er der Führer des Volkes und des Staates werden
müsse, da er - und nur er allein - in der Lage sei, sie vor dem
Verderben zu retten. Er sah sich nicht als Führer, der an allen
möglichen „demokratischen Unsinn“ gebunden sei, so wie Gulliver von
den Liliputanern, sondern als frei Handelnder, von allen Fesseln
frei, und fähig, seine historische Mission zu erfüllen: die Grenzen
des Staates mit einem möglichst großen Gebiet festzulegen.
Er versteckt
seine Absichten nicht, das politische System zu verändern und ein
Präsidentenregime zu errichten. In Israel, einem Land, das weder
eine Verfassung noch ein starkes Parlament wie der US-Kongress hat,
bedeutet solch ein System eine Einmann-Regierung. Wenn es ihm
gelingt, einen genügend großen Sieg bei den kommenden Wahlen zu
erringen, wird er mit der Hilfe von ein paar bestochenen
Gesetzesmachern in der Lage sein, die Gesetze des Landes zu
verändern und selbst zu einem allmächtigen Präsidenten zu werden –
für vier Jahre, für sieben Jahre oder auf Lebenszeit.
Diese Gefahr
würde nicht so real sein, wenn die israelische Demokratie nicht ihre
innere Stärke verloren hätte. Die Politiker werden von der
Öffentlichkeit verachtet; die großen Parteien rufen Ekel hervor;
politische Korruption ist sprichwörtlich geworden. In solch einer
Krise verlangen die Menschen einen starken Führer. Der Mann von der
Sycamore-Farm ist nur zu glücklich, sich hier verpflichten zu
lassen..
SHARON ÄHNELT
nicht den großen Diktatoren der Ära zwischen den beiden
Weltkriegen. Wie es in der vergangenen Woche ( ausgerechnet von
einem Kommentator des rechten Flügels) schon angedeutet wurde, hat
er viel mehr mit Juan Peron gemeinsam, dem argentinischen Diktator
der 40er und 50er Jahre – einem General der Rechten in der
Verkleidung eines Linken, ein ungebundener Autokrat, der allen
demokratischen Überbleibseln ein Ende setzt.
Für den, der den
Mann kennt, ist nur eines sicher: er wird niemals sein historisches
Ziel aufgeben: so viel Land wie möglich mit so wenig Arabern wie
möglich zu annektieren. Er hat den Abzugsplan mit äußerster Kraft
durchgeführt – nicht um Frieden zu bringen, sondern um dieses
Prinzip zu realisieren. Alles weitere ist „pragmatisch“ - und
man sollte nicht vergessen, dass dieses Wort seine Wurzeln im
griechischen „pragma“ hat, was „Tat“ bedeutet.
Nicht das Reden
ist wichtig, sondern die Aktionen. Wenn man sich mit Sharon
befasst, sollte man nicht auf seine Worte achten, sondern seine
Hände genau beobachten. Und was seine Hände tun, mag völlig anders
sein, als das, was sich unschuldige Linke vorstellen, jene, die nun
mit geschlossenen Augen hinter dem Mann mit der Zauberflöte
herlaufen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert )
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