Die Bedeutung , „irrelevant“ zu sein
Uri Avnery, 30.10.04
Ich
erinnere mich, wie ich auf dem Dach eines Gebäudes am Beiruter Hafen
stand und beobachtete, wie die bewaffneten und uniformierten
PLO-Kämpfer, von Arafat angeführt, auf die Schiffe gingen, die sie
westwärts brachten. „Ende der Arafat-Ära!“ jubelten die Zeitungen in
Israel am nächsten Tag. „Arafat ist politisch am Ende!“ sagten die
Radiokommentatoren . „Gott sei Dank, wir sind ihn los, ein für alle
mal!“ verkündigten Teilnehmer von TV-Talkshows.
Als
ich nach Tel Aviv zurückkam, wurde ich vom Radio zu einer
Rundfunkdebatte eingeladen. Zur Ausgewogenheit wurde ein Journalist
vom rechten Flügel dazu eingeladen. Es war Tommy Lapid, der
gegenwärtige Justizminister. Bevor wir das Studio betraten,
plauderten wir noch ein wenig. Ich frage mich, ob er sich heute an
das erinnert, was ich ihm damals sagte: „Ihr habt ihn schon hundert
mal beerdigt – und ihr werdet ihn noch weitere hundert Male
beerdigen.“
22
Jahre später sind die Medien voll mit denselben Meldungen: „Ende
der Arafat- Ära! Arafat ist politisch am Ende. Gott sei Dank! Wir
sind ihn los, ein für alle mal!“
Der
Mann, den die israelische Regierung vor Jahren offiziell als
„irrelevant“ erklärte, stand in dieser Woche weltweit in den
Schlagzeilen der Printmedien. Es gibt nur wenige Führer, deren
Gesundheitszustand ähnliche Aufmerksamkeit erhält.
Ich
weiß nicht, wie ernst sein Gesundheitszustand ist. Ich hoffe nur,
dass er sich wieder ganz erholt. Und ich weiß, wenn er stirbt,
werden die Israelis erfahren, was seine Abwesenheit bedeutet.
In den
Tagen der ersten Camp-David-Konferenz sagte ein bekannter
ägyptischer Denker, Mohammed Sid-Ahmed, zu mir: „Wenn es Arafat
nicht gebe, dann müssten Sie ihn erfinden. Mit Arafat haben Sie als
Verhandlungspartner für Frieden eine einzige Adresse. Wenn er nicht
wäre, wäre das palästinensische Volk in hundert Teile gespalten und
Sie müssten mit jedem einzeln verhandeln.“
Wenn
man keinen Frieden will und mehr an Groß- Israel interessiert ist,
dann braucht man keinen Arafat. Im Gegenteil. Aber wenn man daran
denkt, dass für Israels Entwicklung und Gedeihen der Frieden
lebenswichtig ist, dann braucht man ihn dringend.
„Meine
Hand ist die einzige Hand, die ein Friedensabkommen mit Israel
unterzeichnen kann,“ sagte Arafat einmal.
Da
dies so ist, gibt es für Arafat keinen Ersatz: er ist der einzige
palästinensische Führer mit der turmhohen moralischen Autorität, die
nicht nur nötig wäre, um einen Friedensvertrag mit Israel zu
unterzeichnen, sondern – was noch wichtiger ist – um sein Volk von
der Richtigkeit desselben zu überzeugen. Jedes Friedensabkommen wird
von den Palästinensern Konzessionen abverlangen, die ihnen das Herz
zerreißen, wie z.B. das Recht der unbegrenzten Rückkehr der
Flüchtlinge auf das Territorium Israels. Kein anderer
palästinensischer Führer wird den Mut haben, das von seinem Volk zu
verlangen.
Woher
kommt seine Autorität? Ich habe ihn viele Male in Gesellschaft
anderer palästinensischer Führer gesehen. Jedes Mal war ich aufs
Neue von der Kraft seiner Autorität, die er ausstrahlt, beeindruckt
– ohne irgendwelche äußere Anzeichen von Macht. Ihren Ursprung zu
erklären, ist schwierig. Anders als Fidel Castro, der zur selben
Zeit wie Arafat auf der Weltbühne erschien, hat der
palästinensische Führer keine Armee, keinen großen geheimen
Polizeiapparat und keine Gefängnisse für seine Gegner. Seine Macht
rührt allein vom Respekt seiner Landsleute, die ihn als „Vater der
Nation“ anerkennen, ein palästinensischer George Washington.
Schon
bei unserer ersten Begegnung im belagerten Beirut im Juli 1982 war
ich davon überrascht, dass es keinerlei Förmlichkeiten um ihn herum
gab. Während Konferenzen unterbrachen ihn die Leute, stritten mit
ihm. Seine Autorität ist deutlich – ohne dass äußere Zeichen
notwendig sind.
Ein
europäischer Reporter fragte mich einmal nach Arafats Hobbys. Was
tut er denn, wenn er nicht mit Palästina beschäftigt ist? „Er hat
keine Hobbys,“ antwortete ich ihm, „ es gibt keinen einzigen
Augenblick, in dem er nicht mit der palästinensischen Sache
beschäftigt ist. Er identifiziert sich total mit dem
palästinensischen Kampf. In seinem Leben gibt es für ihn nichts
anderes.“
Jeder,
der ihm das erste mal persönlich begegnet, ist über den großen
Unterschied erstaunt, der zwischen ihm und seiner Person in den
Medien besteht. Im Fernsehen sieht er fanatisch und aggressiv aus.
Im normalen Leben ist er ein warmherziger Mensch, rücksichtsvoll,
der auch Gefühle zeigt. Selbst jemand, der ihm das erste Mal
begegnet, hat nach wenigen Minuten das Gefühl, er würde einem alten
Bekannten begegnen. Er liebt es, bei Mahlzeiten seine Gäste zu
verwöhnen und bietet ihnen mit seinen Fingern ausgewählte Stücke an.
Er berührt die Leute, mit denen er spricht, nimmt sie bei der Hand
und führt sie die Korridore entlang und bietet kleine Geschenke an.
Er ist
kein Intellektueller, kein Theoretiker , kein Büchermensch. Er ist
ganz und gar Intuition. Er begreift die Dinge mit unglaublicher
Geschwindigkeit und vergisst niemals die Einzelheiten. Als ich
einmal mit ihm redete, irrte ich mich in der Zahl der
Agudat-Israel-Mitglieder in der Knesset. Er korrigierte mich sofort.
Ein andermal hatte ich beim genauen Datum eines der Oslo-Abkommen
Unrecht. Er korrigierte mich auch hier. „Ich bin von Beruf
Ingenieur,“ sagte er lachend, „Zahlen vergesse ich nie.“
Wie
alle arabischen Helden der Geschichte, ist er ein Mann von
großzügigen Gesten. Eine Geste ist tausend Worte wert. Am Tag seiner
Rückkehr nach Palästina lud er mich in den Raum hinein, in dem er
gerade dabei war, für die Medien der arabischen Welt eine
Pressekonferenz zu geben.
Er
betrat den Saal, ging direkt auf mich zu und nach der üblichen
Umarmung nahm er meine Hand und führte mich fast mit Gewalt zur
Tribüne. Er zog mich die Stufen hoch und bat, seinen Sprecher
aufzustehen, und platzierte mich neben sich. Eine Stunde lang sprach
er zu den Reportern auf arabisch und wandte sich von Zeit zu Zeit
zu mir und bat mich um Bestätigung.
Ich
saß da und zerbrach mir den Kopf: wozu diese ganze Schau?. Plötzlich
begriff ich. Auf diese einfache Weise zeigte er der ganzen
arabischen Welt: Das ist es. Ich sitze hier zusammen mit einem
Israeli. Ich bin im Begriff, mit ihnen Frieden zu machen.
Große
Streßsituationen bringen ihn in Hochstimmung Ich habe ihn mehr als
einmal in solch einer Situation erlebt, dann ging es ihm am besten,
er war konzentriert, seine Augen strahlten, er machte Witze. Er ist
daran gewöhnt: sein ganzes Leben besteht aus Höhen und Tiefen,
Erfolgen und Fehlschlägen. Natürlich hat er viele Fehler gemacht (
seine Unterstützung für Saddam Hussein während des 1. Golfkrieges
fällt mir dazu ein), aber sie verblassen im Vergleich zu seiner
ungeheuren Leistung. Er war es, der die moderne palästinensische
Nationalbewegung geschaffen hat, als das palästinensische Volk
beinahe von der Landkarte verschwunden war. Er brachte es an die
Schwelle der nationalen Unabhängigkeit. Wie Moses, der sein Volk aus
der Sklaverei bis an die Tore des verheißenen Landes brachte. Ich
hoffe, dass von ihm nicht wie von Moses gesagt werden wird: er sah
das verheißene Land nur von ferne, ohne es selbst zu betreten.
Alles,
was er leistete, erreichte er trotz Israels kolossaler materieller
Überlegenheit auf allen Gebieten, trotz der Feindseligkeit der
arabischen Regierungen und trotz der weltweiten Sympathie für Israel
als dem Staat der Holocaustüberlebenden.
Und
was nicht weniger wichtig ist: seit Jahrzehnten hielt er trotz
großer interner Differenzen die Palästinenser zusammen. Die
palästinensische Bewegung macht fast keine blutigen internen
Auseinandersetzungen durch, wie es für die meisten
Befreiungsbewegungen typisch ist.
Während ihrer ersten paar Jahre musste die Bewegung in arabischen
Ländern funktionieren, die Angst vor ihr hatten und die sie
unterdrückten. Alle ihre Führer, einschließlich Arafat, wurde im
einen oder anderen Stadium in arabischen Gefängnissen gehalten.
Jedes der arabischen Regime hat die palästinensische Sache zu seinem
Vorteil auszunützen versucht. Arafat benötigte jede List, die
seitdem sein Markenzeichen ist. Eine palästinensische Diplomatin
erklärte mir einmal: „Damit die Bewegung überlebte und vorankam,
musste Arafat alle Tricks und Schliche, doppeldeutige Rede und
Halbwahrheiten anwenden, arabische Führer gegeneinander ausspielen
und all dies in schnell veränderten Situationen. Er hatte immer
mehrere Bälle in der Luft, ließ aber keinen zu Boden fallen. Auf
diese Weise führte er unsere Bewegung voran und brachte uns dahin,
wo wir jetzt sind.“
Wie
jeder Führer einer Befreiungsbewegung machte er aus den wenigen
Mitteln, die ihm zur Verfügung standen: Schlauheit, Gewalt,
Diplomatie, Propaganda das beste. Seine Schritte können
vorausgesehen werden, wenn man in seinen Kopf hineinsehen kann
und den Druck versteht, unter dem er arbeitet, und die Ziele, die
er sich selbst gesetzt hat. In den vergangenen 30 Jahren bin ich
nicht einmal überrascht gewesen: nicht, als er nach Oslo ging,
nicht, als er die Verantwortung über die Intifada übernahm . Wenn
der israelische Geheimdienst oft so überrascht war, dann, weil er
die palästinensische Realität nicht versteht. „Sie wissen alles und
verstehen nichts,“ wie Boutros Boutros-Ghali einmal über
israelische Arabisten sagte.
Seit
45 Jahren hat Arafat nun im Schatten des Todes gelebt. Es gab keinen
Augenblick, in dem nicht hier oder dort ein Komplott ausgeheckt
wurde, um ihn umzubringen. Als ich ihn 1982 im belagerten Beirut
traf, glaubte keiner, er käme lebendig dort heraus. Seitdem
versucht Ariel Sharon, ihn umzubringen. Ein halbes Dutzend
Geheimdienste war hinter ihm her. Arafat hat eine unheimliche
Fähigkeit, ihnen zu entkommen. Er glaubt daran, dass er unter dem
Schutz Allahs stehe. Ein Beweis? Als sein Flugzeug in der Libyschen
Wüste eine Bruchlandung machte, und seine Leibwächter dabei ums
Leben kamen, kam er fast ohne Schramme davon.
Einmal
wurde er in meiner Gegenwart gefragt, ob er den Tag des Friedens
noch bei Lebzeiten erwarte . „Wir beide, Uri Avnery und ich, werden
diesen Tag noch erleben,“ versprach er.
Um
Israels Zukunft willen, wünsche ich, dass er sich wieder völlig
erholt.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |