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Ein Nationalheld
Uri Avnery, 10. Mai
2014
KURZ VOR Israels 66.
Unabhängigkeitstag bekam das Land einen neuen Nationalhelden.
Wenn es stimmt, dass
jede Nation den Nationalhelden bekommt, den es verdient, dann war es
ein ziemlich trauriges Spektakel.
DAS VIDEO -Clip, das
David Adamow aus einem anonymen Soldaten in eine nationale Person
verwandelte, wurde mit einem palästinensischen Fotoapparat in Hebron
aufgenommen.
Solche Video-Kameras
sind für die israelische Armee der Fluch geworden. Sie sind weit und
breit an junge Palästinenser in den ganzen besetzten Gebieten von
israelischen Friedensorganisationen, besonders von B’Tselem verteilt
worden.
Der Filmausschnitt
beginnt mit der Szene in Hebron. In der Mitte der Shuhada-Straße
steht ein einsamer Soldat mit einer grünen Kappe und einem Gewehr.
Er sieht aus wie jeder andere Soldat mit kurzem Bart, wie es gerade
unter israelischen Jugendlichen Mode ist.
Eine Art Diskussion
entwickelt sich zwischen dem Soldaten und älteren Palästinensern auf
der Straße. Aber die Kamera wendet sich einem palästinensischen
Teenager zu, der sich unbewaffnet dem Soldaten nähert, sein Gesicht
sehr nah ihm entgegenhält und seine Schulter mit der Hand berührt,
Der Soldat reagiert
wütend und schwingt sein Gewehr. In diesem Augenblick betritt ein
anderer Teenager die Szene und geht an dem Soldaten von hinten
vorbei.
Der Soldat, der sich
offensichtlich bedroht fühlt, dreht sich mit Schwung herum und
entsichert sein Gewehr, bereit zu schießen. Indem er jetzt beide
Teenager bedroht, versucht er einen mit dem Fuß zu stoßen und äußert
dabei eine Reihe scheußlicher Wörter. Dann bemerkt er den
Photographen, befiehlt ihm, mit dem Filmen aufzuhören und verflucht
dessen Mutter mit vulgärsten Ausdrücken. Ende.
DIESER FILMausschnitt
wurde an jenem Abend auf allen drei bedeutendsten israelischen
TV-Kanälen gezeigt.
Für jene von uns,
denen die Realität in der West Bank bekannt ist, war das nichts
Besonderes. Szenen, wie sie überall und alle Zeit geschehen. Wenn
der Soldat nicht irgendjemanden tötet, ist es nur Routine. Wenn er
tötet, verkündigt die Armee, dass eine Untersuchung eröffnet worden
ist. Gewöhnlich ist das das Letzte, was irgendwer davon hört.
Was hier besonders
war, ist, dass die ganze Szene fotografiert und im Fernsehen
gezeigt wurde. Die Armeebefehle verbieten den Soldaten, sich so zu
benehmen, wenn Fotografen dabei sind und womöglich den Kameramann
bedrohen. Schmerzvolle Erfahrungen hat die Armee durch solche
Clips gemacht. Wenn solche ins Ausland ausgestrahlt werden, können
sie der israelischen Propaganda (offiziell „erklären“ genannt) eine
Menge Schaden zufügen
Noch ungewöhnlicher
war die Ankündigung des Armeesprechers an diesem Abend, dass der
Soldat von seinen Vorgesetzten für 28 Tage ins Militär-Gefängnis
verurteilt worden ist.
DIE GANZE Hölle brach
los. Die gesellschaftlichen Medien (=Facebook, Twitter) gerieten in
Aktion. Hunderte, dann Tausende, schließlich Zehntausende Soldaten
erklärten ihre Solidarität mit dem Soldaten, der als „David Nachlawi“
bekannt wurde.
(„Nachal“ ist eine
Armee-Einheit, ursprünglich von David Ben Gurion gegründet, um seine
Idee zu fördern: einen mit Landwirtschaft kombinierten
Armeedienst. Daher die grüne Kappe. Die Idee ist so tot wie Ben
Gurion selbst, und die Einheit ist jetzt eine gewöhnliche
Infanterie-Brigade. Die Endung „awi“ ist vom Arabischen in den
hebräischen Slang übernommen worden.)
Viele Soldaten,
einschließlich Offizieren überschwemmten das Internet mit Fotos von
sich selbst, verbargen aber ihre Gesichter hinter einem selbst
gebastelten Poster, auf dem stand „Ich bin David Nachlawi“. Einige
machten sich nicht einmal die Mühe, ihr Gesicht zu verstecken.
Nach 24 Stunden
überschritt die Zahl der „Pro-David-Liebhaber“ in Internet 100
000. die meisten von ihnen waren Soldaten. Es war die erste
militärische Massen-Rebellion in der Geschichte der israelischen
Armee. In einigen Armeen würde dies Meuterei genannt werden, die
mit Todesstrafe bestraft würde.
Einer total neuen
Situation gegenüber, war die Armee nicht vorbereitet und verlor die
Kontrolle. Sie veröffentlichte eine Erklärung, die beinah eine
Entschuldigung war.
Es stellte sich
heraus, dass der Armeesprecher falsch informiert worden war. David
kam nicht dafür ins Gefängnis, dass er den Palästinensern gedroht
hatte, sie zu töten (daran darf man gar nicht denken) sondern für
etwas, das sich ein paar Stunden vor dem Vorfall ereignet hatte.
David hätte seinen direkten Kommandeur und einen anderen Soldaten
geschlagen. Das, was sich in Hebron zugetragen hatte, war noch
nicht untersucht worden, und deshalb war David nicht dafür
verurteilt worden.
Es gab noch eine
andere Korrektur. Am ersten Tag, nachdem der Filmausschnitt gezeigt
wurde, verbreiteten die Nachrichten, einer der palästinensischen
Jugendlichen hätte einen Schlagring in der Hand gehabt, ein klarer
Beweis seiner aggressiven Absicht und für die Gefahr, in der sich
der Soldat selbst befunden habe. Dann brachten die Medien eine
Korrektur: eine Analyse des Clips zeigte, dass es keinen Schlagring
oder eine andere Waffe gab. Es war nur eine muslimische
Gebetskette mit Perlen.
DIESE BEGEGEBENHEIT
lässt ein paar Fragen offen, die eine ernsthafter als die andere.
Die erste und
offensichtlichste: Warum schickt die Armee einen Soldaten allein, um
eine Straßenkreuzung mitten in Hebron zu bewachen, in einer Stadt,
in der äußerste Spannung herrscht, sogar an den ruhigsten Tagen?
Hebron liegt rund um
das „Grab der Patriarchen“ das die (falschen) Gräber von Abraham und
Sarah enthält, die wie der Tempelberg in Jerusalem für beide heilig
ist, für Juden wie Muslime. 160 000 Muslime sehen sich täglich ein
paar hundert fanatischen Juden und Jüdinnen gegenüber, die sich in
Hebron angesiedelt haben und die offen erklären, es sei ihr Ziel,
alle Muslime aus der Stadt zu vertreiben.
Hebron ist eine
Apartheidstadt. Die Hauptstraße, in der der Vorfall geschah (im
Arabischen passend „Märtyrerstraße“ genannt), ist für Araber
geschlossen. Ein Zwischenfall könnte hier jederzeit ausbrechen.
Warum also schickte
das lokale Militär einen 19jährigen Soldaten allein zur Bewachung
auf eine solche Straße? Jeder Soldat, selbst ein ganz normaler, der
allein auf Wachdienst an einen gefährlichen Ort geschickt wird,
könnte leicht in Panik geraten. David sieht man eindeutig an, dass
er Angst hat.
Aber David ist kein
gewöhnlicher Soldat; entsprechend der Armee selbst griff er nur
wenige Stunden, bevor er auf seinen Posten geschickt wurde, seinen
Vorgesetzten und einen Kameraden an und schlug sie zusammen; es sah
wie ein Wutanfall aus. Ein paar Stunden später, nachdem er schon zu
Gefängnisstrafe verurteilt war, schickte man ihn allein wieder
hinaus, um seine einsame Aufgabe zu erfüllen.
Es ist also nicht das
normale, vernünftige Urteil des privaten David, das anzuzweifeln
wäre, sondern der Verstand des Offiziers, der ihn dorthin beorderte.
DIE GANZE Situation
geht über die Dimensionen eines lokalen Vorfalls hinaus, der
glücklich und ohne Opfer endete. Er zeigt die Realität der
Besatzung, in der eine Bevölkerung von Millionen Menschen ohne
Verteidigung und Rechte lebt – vollständig abhängig von der Gnade
eines einzelnen Soldaten.
Die israelische Armee
ist nicht schlechter als andere. Sie ist ein Spiegel ihrer
Gesellschaft, zusammengesetzt aus humanen Menschen und Sadisten,
Vernünftigen und psychisch Gestörten, Rechten und Linken,
Aschkenasim und Orientalen. Wenn man sich seinen Familiennamen (
Adamov) näher ansieht, scheint David Nachlawi aus Buchara zu
kommen, der orientalischen Seite der Immigranten aus der
ehemaligen Sowjetunion.
Suheib Abu-Najma, der
15-jährige arabische Junge, der hier verwickelt war und der sogar
jünger aussieht, hatte Glück. Ein Palästinenser jedes Alters, der in
irgend-einer Straße geht, kann nicht sicher sein, welchem Soldaten
er über den Weg läuft und in welcher Stimmung er sein mag. Sein
Leben hängt davon ab. Das ist das Wesentliche der Besatzung.
ABER DIE Bedeutung
des Vorfalls geht weit über diese Lektionen hinaus. Sie ist
revolutionär – im ursprünglichen Sinn. Es ist das erste Mal in der
Geschichte Israels und vielleicht der Welt, dass das Internet eine
Rebellion unter den Soldaten gegen die Armee ausgelöst hat.
Man mag sich an die
Meuterei des Panzerkreuzers Potemkin in Odessa 1905 erinnern oder
an den Aufstand der St.Petersburger Garnison im Februar 1917, um
dies mit einer völlig anderen Situation zur heutigen Welt mit
Internet zu vergleichen. Jetzt können in weniger als 24 Stunden 100
Tausende von Soldaten sich offen dem Armee-Kommando widersetzen und
die Armee in ein leeres Gefäß verwandeln.
Wenn das erst einmal
gezeigt worden ist, sind die aufrührerischen Fähigkeiten der
gesellschaftlichen Medien unbegrenzt. Sie machen der geheiligten
Regel ein Ende, dass die Armee der zivil gewählten Autorität
gehorchen muss. Sie macht auch der Regel ein Ende, das ein
militärischer Putsch nur von einer Junta ranghoher Offiziere, den
„Obristen“, ausgeführt werden könne. Jetzt können es einfache
Soldaten, angeregt von einem Agitator, tun.
Benjamin Netanjahu
wurde buchstäblich sprachlos gelassen (etwas sehr Ungewöhnliches
bei ihm). So erging es auch Moshe Ya’alon, dem
Verteidigungsminister, einem früheren inkompetenten Stabschef. Und
so erging es dem Stabschef Benny Ganz, der in dieser Krise hilflos
gezeigt wurde.
In der besonderen
Situation Israels ist dies äußerst gefährlich. Natürlich ist es
leicht, sich eine Art potemkinsche Situation vorzustellen, wo die
einfachen Soldaten gegen die Generäle im Namen der Gleichheit
aufstehen, aber das ist reine Phantasie. Mit einer Armee die aus
Teenagern besteht, die seit ihrem dritten Lebensalter im Geist des
jüdischen Opfertums und der jüdischen Überlegenheit (beide)
indoktriniert werden, ist solch eine Rebellion, sollte sie
geschehen, an den politisch rechten Flügel gebunden, vielleicht gar
an Faschisten.
Bis in diese Woche
schien solch eine Rebellion unmöglich. Als Ariel Sharon 2005 die
Armee einsetzte, um ein paar 1000 Siedler aus dem Gazastreifen
umzusiedeln, wagte kein Soldat, sich zu weigern. Jetzt mit den
Möglichkeiten der gesellschaftlichen Medien, könnte die Geschichte
ganz anders verlaufen. Wenn das nächste Mal der Befehl gegeben
wird, eine Siedlung zu räumen, mag es Massenverweigerung geben, die
vom Internet ausgeht.
HIER IST eine
Botschaft für jede Armee in der Welt: Eine neue historische Ära hat
begonnen. Jede Armee kann übers Internet rebellieren.
Der Armeehäftling
David Adamov kann stolz auf sich sein.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert
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