Was
für Wunder !
Uri Avnery, 13.8.05
In meinem Gedächtnis hat sich
ein Bild eingeprägt: Ariel Sharon in der Knesset. Rund um ihn
wütet ein Sturm. Die Parlamentarier rennen herum, Schreie von
allen Seiten. Der Abgeordnete am Redner pult gestikuliert
aufgeregt mit den Armen, verurteilt und verflucht ihn. Sharon
sitzt am Regierungstisch. Allein. Unbeweglich. Massiv und
passiv. Kein Gesichtsmuskel bewegt sich. Nicht einmal das
nervöse Muskelzucken um die Nase, das einst sein besonderes
Kennzeichen war (und das viele Leute als eine Art Lügendetektor
betrachteten). Ein Fels im tobenden Meer.
Dies ist der Mann, der allein
über den Rückzug und die Auflösung der Siedlungen aus dem
Gazastreifen entschied. Es ist der Mann, der dies praktisch
alleine ausführt. Es ist der Mann, der in der nächsten Woche
allein dem Hurrikan trotzt, wie es ihn bisher in der Geschichte
Israels noch nicht gegeben hat.
Ein an Gott Glaubender könnte
sagen: Es ist ein Wunder des Himmels. Geheimnisvoll sind die
Wege des Allmächtigen. Der Schutzherr der Siedlungen, der Mann,
der die meisten von ihnen geplant und dorthin gesetzt hat, wo
sie jetzt stehen, und ihnen half, Wurzeln zu schlagen und sich
auszubreiten – er ist der Mann, der nun den schicksalhaften
Präzedenzfall schafft, in diesem Lande Siedlungen aufzulösen.
Die Dimensionen dieses „Wunders“
können nur begriffen werden, wenn man einige hypothetische
Fragen stellt. Was würde geschehen, wenn die Laborpartei an der
Macht wäre, wenn Shimon Peres verantwortlich wäre, wenn Ariel
Sharon die Opposition führen und die orangefarbenen Hemden
befehligen würde? Allein der Gedanke ist schon ein Alptraum.
Wenn dies das einzige Wunder
wäre, das uns zustößt – dann wäre das schon genug. Doch wird es
von einem anderen Wunder begleitet: die israelische Armee führt
den Kampf gegen die Siedler aus. Das ist ein außerordentliches
Wunder, dass es auch den säkularsten Schweinefleischesser zum
Rabbi laufen ließe.
Seit 37 Jahren ist die
israelische Armee eine Verteidigungsarmee der Siedler gewesen.
Sie hat offen oder im Geheimen die Standorte der Siedlungen
geplant, einschließlich der „illegalen“ Außenposten überall in
der Westbank. Sie hat ihre meisten Kräfte und Ressourcen ihrer
Verteidigung gewidmet. Das nahm groteske Dimensionen an: z.B.
die Nezarim-Siedlung mitten im Gazastreifen wurde von drei
ganzen Bataillonen verteidigt. 17 Soldaten und Soldatinnen
ließen ihr Leben bei der Verteidigung von Nezarim, über das
Ariel Sharon vor ein paar Jahren sagte: „ Das Schicksal von
Nezarim ist wie das von Tel Aviv!“ Die Geschichte von den
Siedlerkindern, die zum Musikunterricht von gepanzerten
Militärfahrzeugen begleitet werden, ist schon zu einem Teil
israelischer Folklore geworden.
Zwischen der Armee und den
Siedlern hatte sich eine wirkliche Symbiose entwickelt. Die
Grenzlinie zwischen ihnen war verschwommen: viele Siedler sind
Armeeoffiziere, die Armee hat die Siedlungen unter dem Vorwand
von „territorialer Verteidigung“ schwer bewaffnet. Während der
letzten Jahre bemühte sich das national-religiöse Lager auf
Dauer, die unteren, mittleren und oberen Ränge des Offizierkorps
zu infiltrieren und füllten so die Lücken, die die Kibbuzniks
hinterlassen hatten, die aus allen Rängen verschwunden sind.
Die Schaffung der „Arrangement-Jeshivots“, homogene
national-religiöse Einheiten, die ihren Rabbinern gehorchen,
war ein Verrat an den innersten Werten der Nationalarmee – ja,
sogar noch mehr, als die Entlassung von zehn Tausenden
orthodoxer Studenten aus der allgemeinen Wehrpflicht.
Bei vielen Demonstrationen
gegen Errichtungen von Siedlungen standen Friedensaktivisten
Soldaten gegenüber, die sie mit Tränengasgranaten bewarfen, mit
Gummi ummantelten Kugeln auf sie schossen und manchmal auch
scharf schossen. Wenn die Siedler palästinensische Dorfbewohner
aus ihren Olivenhainen trieben, ihre Oliven stahlen und ihre
Bäume ausrissen, verteidigten die Soldaten gewöhnlich die Räuber
und vertrieben die Beraubten.
Und siehe da! dieselben
Offiziere und Soldaten lösen nun die Siedlungen auf und
vertreiben die Siedler, um die israelische Demokratie zu
verteidigen und gegen deren Feinde zu kämpfen. Gewiss mit
Samthandschuhen und Süßholzgeraspel – aber immerhin.
Wir müssen nicht davor
zurückschrecken, die Dinge beim richtigen Namen zu nennen: der
gegenwärtige Kampf ist eine Art Bürgerkrieg, auch wenn – noch
einmal wie ein Wunder – kein Blut dabei vergossen wird. Die
Yesha-Leute sind eine revolutionäre Bewegung. Ihr wirkliches
Ziel ist, das demokratische System umzuwerfen und die
Herrschaft ihrer Rabbiner aufzurichten. Jeder, der die
Geschichte der Revolutionen studiert hat, weiß, dass die
Position der Armee letzten Endes entscheidend ist. Solange die
Armee vereint hinter der Regierung steht, ist die Revolution zum
Fehlschlag verurteilt. Erst wenn die Armee dabei ist, sich
aufzuspalten oder sich den Rebellen anzuschließen, gewinnt die
Revolution. Deshalb können die Siedler diese Schlacht nicht
gewinnen.
Vor 32 Jahren blockierten die
ranghohen Offiziere der Armee General Sharons Pfad zum Posten
des Generalstabschefs. Jetzt stehen sie geschlossen hinter dem
Ministerpräsidenten Sharon. Wenn das kein Wunder ist ? Was ist
es dann?
Natürlich sieht dies alles nur
wie ein Wunder aus. Alles hat seine natürlichen Ursachen.
Die ausländischen Journalisten,
die im Augenblick den Gazastreifen belagern, fragen immer
wieder: Warum tut er das? Was hat ihn dazu gebracht, den
Trennungsplan zu konstruieren?
Auf diese Frage gibt es
verschiedene Antworten. Wie jedes historische Ereignis, hat es
mehr als nur einen Beweggrund.
Der Plan war nicht das Ergebnis
von Beratungen. Es gab keine ordentliche Stabsarbeit, weder im
militärischen noch im zivilen Bereich. Sharon zog den Plan
sozusagen aus dem Ärmel und warf ihn vor anderthalb Jahren in
die Luft. Er reagierte auf mehrere unmittelbare Bedürfnisse.
Als Sharon einer der prominenten
Armeegeneräle war, war er eher als „Taktiker“ bekannt im Stile
eines Rommel oder George Patton, denn als „strategischer“
General wie Dwight Eisenhower. Er erfasste das Schlachtfeld
intuitiv, war aber nicht in der Lage, mehrere Schritte im
voraus zu denken. Genau diese Eigenschaften brachte er ins
politische Leben mit. Dies erklärt die Umstände der Entstehung
des „Trennungsplanes“.
Man erinnere sich daran, dass
die Amerikaner von ihm verlangten, eine Friedensinitiative zu
präsentieren. Präsident Bush benötigte dies dringend, um der
Welt zu zeigen, dass er Frieden und Demokratie im Nahen Osten
fördern will. Für Sharon war die Verbindung zu den Amerikanern
schon allgemein, die Verbindung zu Bush aber eine zentrale
Stütze für Israels Sicherheit. Der einseitige Trennungsplan
sieht irgendwie wie ein Friedensplan aus und so hat er Wort
gehalten. Gestern wiederholte Sharon bei einem Presse-Interview:
„Ich möchte lieber ein Abkommen mit den Amerikanern als mit den
Arabern erreichen.“
Er wollte auch anderen
herumgeisternden Friedensplänen zuvorkommen . Die „Genfer
Initiative“ war gerade dabei, überall in der Welt Anerkennung zu
finden; ausländische Würdenträger unterstützen sie. Sharons
Trennungsplan wischte sie vom Tisch. Später machte er dasselbe
mit der Road Map, die von Sharon forderte, den Siedlungsbau
einzufrieren und die „Außenposten“ aufzulösen. Als der
Trennungsplan sich auf den Weg machte, wurde die Road Map eine
Worthülse. Die Amerikaner unterstützten sie nur mit
Lippenbekenntnissen. (Das mag sich nach dem Abzug ändern, da
Präsident Bush in dieser Woche in einem Spezialinterview im
israelischen Fernsehen eine Andeutung machte).
Natürlich hat Sharon nicht im entferntesten damit gerechnet,
dass es mit den Siedlern, seinen Schützlingen und privaten
Hausgästen, einen Kampf auf Leben und Tod geben wird. Er war
sich sicher, dass er in der Lage sein würde, sie zu überzeugen,
dass dies eine weise und voraussehende Maßnahme sei.
Dann kamen die Mörsergranaten
und Kassam-Raketen, die eine bedeutende Rolle spielten. Die
israelische Armee hat vorläufig keine Antwort auf diese Waffen,
und der Preis, den Gazastreifen zu halten, wurde eine zu große
Belastung für die Ressourcen der Armee.
Die Feinde des Abzugsplanes
schrieen es ( buchstäblich) von den Dächern, Sharons wirkliches
Motiv sei, die Aufmerksamkeit von der Korruptionsaffäre, in die
er und seine beiden Söhne verwickelt waren, abzulenken. Das ist
sicher sehr übertrieben. Wenn dies der einzige Grund gewesen
wäre, hätte eine andere Initiative erfunden werden können , z.B.
ein kleiner Krieg. Aber es mag ein zusätzlicher Grund gewesen
sein.
Aber hinter all diesen Motiven
stand etwas Wesentlicheres: die Persönlichkeit und
Weltanschauung von Sharon selbst.
Mehr als einmal wurde über ihn
gesagt, dass er größenwahnsinnig sei, ein Mann der brutalen
Gewalt, ein Mann, der alle anderen verachtet, ein Mann, der
jeden Widerstand wie eine Dampfwalze überrollt. All das ist
wahr, aber es ist nicht alles.
Schon vor Dutzenden von Jahren
kam er zu dem Beschluss, dass er die einzige Person sei, die den
Staat führen kann. Das Schicksal habe ihn dafür erkoren, das
Volk von Israel zu retten und die Weichen für die nächsten
Generationen zu stellen. Dass alle anderen Leute um ihn,
Politiker und Generäle, Zwerge seien, deren
An-die-Macht-kommen nur unsägliches Unheil über Israel bringe.
Die Schlussfolgerung: jeder, der seinen Weg blockiert, begeht
ein Verbrechen gegen den Staat und das Volk. Das würde natürlich
auch auf jeden zutreffen, der den Abzugsplan verhindert, der -
für ihn – der erste Schritt in seinem „Großen Entwurf“ ist.
Sharons Weltsicht ist einfach,
um nicht primitiv zu sagen. Die Vision von Vladimir Jabotinsky,
dem ideologischen Poeten von Odessa ( und geistigem Vater des
gegenwärtigen Likud) ist für den Jungen, der in dem
Gemeinschaftsdorf Kfar Malal geboren wurde, sehr fremd. Menachem
Begin mit seinen polnischen Ideen der Ehre, war ihm auch fremd,
und in seinem Herzen verachtete er ihn. Sein wirklicher Mentor
war David Ben-Gurion.
Seine Ideologie ist eine
klassisch zionistische, konsequent und pragmatisch: die Grenzen
des jüdischen Staates in einem andauernden Prozess so weit wie
möglich hinauszuschieben, ohne eine nicht-jüdische Bevölkerung
einzuschließen. Überall, wo möglich, zu siedeln und dabei jeden
Trick zu verwenden. Viel zu handeln und wenig darüber reden.
Erklärungen abgeben, dass man Frieden erreichen wolle, aber
keinen Frieden machen, der die Expansion und Siedlung
behindert.
Moshe Dayan, ein anderer Schüler
Ben Gurions, predigte in einer seiner enthüllenden Reden vor
der Jugend des Landes, dass es ein fortdauerndes Unternehmen
sei. „Ihr habt es nicht angefangen und werdet es auch nicht
beenden!“ sagte er. In einer andere wichtigen Rede sagte Dayan,
dass die Araber zuschauen, wie wir das Land ihrer Vorfahren in
unser Land verwandeln. Sie werden sich niemals damit abfinden.
Der Konflikt wird ein permanenter sein.
Das ist auch Sharons
Einstellung. Er will Israels Grenzen so weit wie möglich
hinausschieben und die Anzahl der Araber innerhalb dieser
Grenzen minimieren. Deshalb ist es sinnvoll, den winzigen
Gazastreifen mit anderthalb Millionen dort lebenden
Palästinensern aufzugeben und auch die Zentren der
palästinensischen Bevölkerung in der Westbank. Er will die
Siedlungsblöcke und die dünn besiedelten Gebiete annektieren, wo
neue Siedlungsblöcke gebaut werden können. Das Problem der
palästinensischen Enklaven will er zukünftigen Generationen
überlassen.
Ben Gurion hat ein
grundsätzliches Prinzip hinterlassen: der Staat Israel hat keine
Grenzen. Grenzen frieren die bestehende Situation ein – und das
kann Israel nicht anerkennen. Deshalb waren alle seine
Nachfolger, einschließlich Yitzhak Rabin, bereit,
Interim-Abkommen abzuschließen, aber niemals ein endgültiges
Abkommen, das die Grenzen festlegt. Deshalb besteht Sharon
darauf, dass alle seine Schritte einseitig sind und dass nach
dem Abzug ein neues Interim-Abkommen erreicht werden kann – aber
unter keinen Umständen ein endgültiges Friedensabkommen.
Diese Vorgehensweise wird das
Auflösen von weiteren Siedlungen in der Westbank nötig machen –
von kleinen, isolierten Siedlungen in Gebieten, in denen keine
neuen Siedlungsblöcke wegen dichter palästinensischer
Bevölkerung errichtet werden können. Das wird praktisch da
hinauslaufen, dass es weitere Zusammenstöße mit den Siedlern
geben wird, deren harter Kern nicht nach den Lehren eines Ben
Gurion aufgewachsen sind, sondern nach der Vision messianischer
Rabbis, die über die Grenzen des „von Gott verheißenen Landes“
reden. Sharons Pragmatismus beeindruckt sie wenig.
Um den Staat fest auf diese
Schiene zu setzen, und um sicher zu gehen, dass er so auch in
den zukünftigen Jahrzehnten läuft, benötigt Sharon eine zweite
Amtsperiode. Binyamin Netanyahu, den Sharon für einen kleinen
Politiker mit einem großen Mundwerk hält, gefährdet diesen Plan.
Für ihn ist es ein Verbrechen gegenüber Israel.
Viele sind wegen Sharons
langfristiger Absichten gegen diesen Abzugsplan.
Aber die Geschichte zeigt, dass
Absichten notwendigerweise nicht so wichtig sind. Jene, die
historische Prozesse in Gang bringen, kontrollieren nicht die
Folgen. Was aber zählt, sind die Ergebnisse. Die Väter der
Französischen Revolution beabsichtigten nicht, einen Napoleon
hervorzubringen; Karl Marx beabsichtigte nicht, das Gulag-Empire
eines Stalin zu errichten.
In dieser Woche geschieht etwas
Besonderes: es ist das erste Mal, dass jüdische Siedlungen in
Palästina aufgelöst werden. Das Siedlungsunternehmen, das sich
bis jetzt nur immer erweitert hat, macht das erste Mal einen
Rückzieher.
Und das ist wichtiger als die –
guten oder bösen – Absichten Ariel Sharons .
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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