Der Krieg der Farben
Uri Avnery, 9.7.05
Ein Ausländer,
der zum augenblicklichen Zeitpunkt Israel besucht, hat den
Eindruck, dass sich das Land mitten im Wettkampf zweier
Fußballteams befindet: orange gegen blau.
An Tausenden
von Autos fliegen Bänder mit diesen Farben, meistens an den
Antennen. Was auf den Straßen auch sehr auffällt, ist, dass
diejenigen mit verschiedenen Farben einander feindlich
behandeln, was sich in ihrem Fahrstil bemerkbar macht – und
diejenigen mit derselben Farbe, sich mit ausgesuchter
Höflichkeit begegnen, was auf israelischen Hauptstraßen
ziemlich ungewöhnlich ist.
Die Anwendung
von Farben, die die beiden Seiten symbolisieren, erinnert an
den Rosenkrieg vor 450 Jahren.
Damals war die
rote Rose das Emblem des Hauses Lancaster bei seinem Kampf um
den Thron, während die weiße Rose dessen Feind kennzeichnete,
das Haus York. Der Krieg dauerte 32 Jahre lang und endete mit
dem Sieg der roten Blüte.
In unsrer Zeit
gehören die Kriege der Farben ins Sportstadium, wo nur selten
Blut vergossen wird.
Der israelische
Krieg zwischen orange und blau ist dagegen eine sehr ernste
Angelegenheit.
Oberflächlich
betrachtet, ist es der Kampf um den Rückzug aus dem Gazastreifen
und die Evakuierung von ein paar Siedlungen dort. In
Wirklichkeit hat dieser Kampf eine viel tiefere Dimension: Es
geht um das eigentliche Wesen und die Zukunft Israels.
Diejenigen, die
das orangefarbige Band flattern lassen, wissen das sehr genau.
Sie haben sich geschworen, das „ganze Land orange einzufärben“
und meinen damit, seine Lebensweise von Grund auf zu ändern.
Nach ihnen sind die von der Knesset geschaffenen Gesetze
ungültig, wenn sie im Gegensatz zum religiösen Gesetz – der
Halakha – stehen, wie es von den nationalistisch-zionistischen
Rabbis, einer nationalistisch-messianischen Fraktion mit einem
faschistischen Rand, ausgelegt wird. Regierungsentscheidungen
seien null und nichtig, wenn sie gegen Gottes Willen seien. Und
Gott spricht – wie ja allen bekannt – aus dem Mund der
Siedlerführer. (Man kann nur sagen: armer Gott! Wenn ER solche
Sprecher benötigt!)
Diejenigen, die
die blauen Bänder flattern lassen, wissen – einige bestimmt und
eindeutig, andere etwas verschwommen – dass sie für eine andere
Vision Israels kämpfen. Einige haben eine klare Vorstellung von
einem demokratischen, liberalen und säkularen Israels, das in
Frieden mit der arabischen Welt leben will. Andere haben eine
allgemeinere Vision eines vernünftigen und anständigen Israels,
in dem die Mehrheit durch die Knesset entscheidet. So oder so,
der Unterschied zwischen blau und orange ist klar und
unverkennbar.
Heute, 37 Tage
vor der geplanten Evakuierung, können zwei Phänomene
festgestellt werden: erstens, die große Mehrheit der Autos auf
den Straßen hat gar kein farbiges Band.
Zweitens, unter
denen, die ein farbiges Band flattern lassen, gibt es doppelt so
viel orangefarbige wie blaue, etwa 2:1.
Die
öffentlichen Meinungsumfragen zeigen allerdings, dass das
wirkliche Verhältnis genau umgekehrt ist: Zwei Drittel
unterstützen den Gaza-Rückzug. Dieser Prozentsatz stieg sogar
letzte Woche, nachdem der Lynchversuch an einem verwundeten
arabischen Jungen durch Gush Kativ Siedler im Fernsehen gezeigt
wurde. Aber schon davor gab es eine klare Mehrheit für den
Rückzug.
Warum gibt es
dann im Augenblick nicht eine solide Mehrheit von blauen Bändern
auf den Straßen?
Der 1. Grund
ist nicht überraschend: eine fanatische Minderheit mit hoher
emotionaler Motivation hat einen Vorteil über die „stille
Mehrheit“, die immer dahin tendiert, passiv zu sein.
Die Siedler und
ihre Verbündeten haben auch einen klaren logistischen Vorteil.
Sie leben in ihren eigenen Gemeinden, und es ist für sie deshalb
einfach, Tausende von Kindern und Jugendliche zu mobilisieren,
die sich über das ganze Land verteilen und an den Autos ihre
Bänder verteilen. Die religiösen Juden, die fast alle die
Siedler unterstützen, leben zusammen in ihren Yeshivot
(Seminare) und in besonderen Stadtteilen, wo sie auch leicht zu
einer Aktion aufgerufen werden können.
Aber diese
Vorteile wären nicht so offenkundig, wenn die Gegner nicht so
schwach wären.
Die meisten
Bürger sind einfach ängstlich. Sie fürchten, wenn sie ein blaues
Band flattern lassen, dann würden ihre kostbaren Autos von
rechten Hooligans beschädigt. Und tatsächlich sind einige Autos
mit blauem Band beschädigt worden. Furcht ist ein typisches
Symptom einer Gesellschaft, die von einer faschistischen
Minderheit bedroht wird: Extremisten wenden bewusst Gewalt an,
um die dem Gesetz folgende Mehrheit zu lähmen, die, weil sie vor
Gewalt zurückschreckt, nicht entsprechend reagieren kann. Die
wenigen ausführlich veröffentlichten Beispiele genügen, um
Angst einzujagen.
Ein anderer
Grund hängt mit dem Wesen der demokratischen Öffentlichkeit
zusammen. Die meisten Leute wollen nur in Ruhe gelassen werden.
Sie wollen nicht auffallen und ihre Überzeugungen nicht
öffentlich demonstrieren. Sie leben nicht in besonderen
Stadtteilen, die ihnen ein Gefühl der Sicherheit und Macht
vermitteln. Viele glauben deshalb, dass sie mit ihren Gedanken
und Gefühlen alleine dastehen. Und nicht wenige waren zögerlich
und machten sich nicht die geringste Mühe, ein blaues Band zu
erwerben.
Ein anderes
Phänomen: während fast alle „Orangefarbigen“ ihr Band stolz an
die Spitze der Antenne oben am Auto flattern lassen, befestigen
viele der „Blauen“ das Band weiter unten, am Seitenspiegel oder
am Türgriff, wo es weniger auffällt.
Aber der Kampf
der Farbbänder ist kein Spiel. Im Augenblick ist dieser äußerst
wichtig, und die Siedler wissen dies sehr wohl.
Es ist deshalb
wichtig, weil die Zahl der orangefarbigen Bänder den Eindruck
hinterlässt, dass die Siedler die Straßen beherrschen und dass
sie die tatsächliche Mehrheit in Israel sind – selbst wenn die
Umfragen das Gegenteil sagen. Das lässt ihre Moral im Kampf
gegen die israelische Demokratie in die Höhe schnellen und die
der demokratischen Öffentlichkeit fallen.
Dies
beeinflusst - bewusst oder unbewusst - die Politiker und die
Medienleute, die ihrerseits wieder die öffentliche Meinung
bilden. Die israelischen Medien sind fast ohne Ausnahme schon
zum Sprachrohr der Siedler geworden. Sogar eine liberale Zeitung
wie Haaretz, die (irrtümlicherweise) als „links“ betrachtet
wird, bringt Nachrichtenseiten – im Unterschied zu den
redaktionellen Seiten – die oft so aussehen, als wären sie aus
einer der Siedlerzeitschriften übernommen worden.
Wenn das blaue
Band das orangefarbige besiegen würde, würde dies großen
Einfluss auf das ganze System haben. Es würde den Parteien, die
den Rückzug befürworten, neuen Mut verleihen, ebenso den
Sicherheitskräften, die ihn durchführen müssen. Die
gegenteilige Situation könnte für den Staat gefählich werden.
Das blaue ( und
blauweiße) Band ist ein einigendes Symbol. Kräfte verschiedener
Schattierungen arbeiten in dieser Kampagne zusammen; Kräfte, die
Ariel Sharon und den Rückzug nur aus dem Gazastreifen
unterstützen ( „Gaza - erster und einziger Rückzug“) und Kräfte,
die diesen Rückzug in ein Instrument verwandeln wollen, um einen
allgemeinen Frieden zu erreichen („Gaza – der erste, aber nicht
letzte Schritt“). Zu diesem Lager zu gehören ist
anerkennenswert; denn es ist das Lager mit einer liberalen und
friedensliebenden Kultur, ein Lager, das glaubt, dass alle
Bürger, gleich welchen Geschlechts oder welcher Volks- oder
Religionszugehörigkeit auch immer, zusammen leben können. Kurz
gesagt: das Gegenteil von dem, was die Siedler glauben.
Der Sieg des
blauen Bandes wird vielen Leuten ein Gefühl der Macht
vermitteln. Jenen, die verzweifelt sind, die glaubten, dass sie
zu wenige und zu schwach wären und dass sowieso „alles verloren
sei“, denen würde das blaue Band ein Gefühl geben, dass sie zu
einer großen und einflussreichen Gemeinschaft gehören.
Der Kampf hat
noch eine andere interessante Wirkung. In den vergangenen Jahren
ist es dem rechten Flügel gelungen, das Monopol über das Zeigen
der israelischen Flagge zu haben. Ein Teil der Linken hat sich
von der blau-weißen Flagge distanziert, weil sie für ihn die
Besatzung und die Siedlungen symbolisiert. Bei Demonstrationen
gegen die Besatzung erschien die israelische Flagge nur auf dem
Gush-Shalom-Emblem, das die Flagge Israels mit der
palästinensischen kombiniert. (Auch Palästinenser tragen dieses
Zeichen gerne)
Seitdem die
Siedler die Farbe orange - vom ukrainischen Aufstand geklaut
– übernommen haben, übernahmen die Opponenten ganz natürlich die
blaue Farbe, die von der Fahne Israels stammt.
Die symbolische
Bedeutung ist äußerst wichtig. Immer mehr Leute sind davon
überzeugt, dass dieser augenblickliche Kampf wesentlich ein
Kampf zwischen dem Staat Israel und dem „Staat der Siedler“ ist
– einem demokratischen Staat auf der einen und einem
nationalistisch-messianischen Staat auf der anderen Seite. Eine
bedeutsame Vorstellung, die weitreichende Konsequenzen für die
Zukunft in sich trägt. Es ist der Beginn der wahren Trennung –
die Trennung zwischen dem Staat Israel und den Siedlern.
Auch dafür wäre
es wichtig, dass die blaue Farbe jetzt den Krieg der Farben
gewinnt.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |