„Irreversibler psychischer Schaden“
Uri Avnery,
19.6.04
Vor zwei Wochen gab die
internationale Gemeinschaft ( beim G-8-Treffen auf Sea-Island vom
6.-10.6.) eine empörende Erklärung ab. Indem sie der Forderung von
George Bush nachgab, akzeptierte das „Quartett“ den „Rückzugsplan“
von Ariel Sharon. Dies bedeutet, dass die Vereinten Nationen, die
EU, die Russische Föderation und die USA dies Dokument bestätigen.
Ich frage mich, ob einer der ehrenwerten Diplomaten das Dokument mit
eigenen Augen gelesen hat.
Im ersten Paragraphen des Planes
erscheinen folgende Worte: „Israel ist zu dem Schluss gekommen, dass
es im Augenblick keinen palästinensischen Partner gibt, mit dem es
möglich ist, bei einem bilateralen Friedensprozess Fortschritte zu
machen.“
Mit anderen Worten: die
internationale Gemeinschaft hat damit bestätigt, dass das
palästinensische Volk kein Recht hat, über sein eigenes Schicksal
zu bestimmen. Alles wird von der israelischen Regierung allein
bestimmt, die von den USA unterstützt wird und deren Position
automatisch von den andern Partnern des „Quartetts“ akzeptiert wird.
Die EU mit ihren 25 Mitgliedstaaten,
die Regierung der russischen Föderation und die Organisation, die
die ganze Welt repräsentiert, haben, klein beigebend, das Edikt von
Bush, dem Diktator der Welt, der wiederum Sharons Gefangener ist,
akzeptiert. Sharon entschied vor langem, dass der gewählte Präsident
des palästinensischen Volkes, zusammen mit der ganzen
palästinensischen Führung, „irrelevant“ ist.
Das palästinensische Volk ist von
der Liste der Entscheidungsträger gelöscht worden und damit
praktisch auch alle Abkommen, die mit ihm unterzeichnet wurden – von
Oslo bis zur Roadmap.
Das ist ein skandalöser, in seinen
Dimensionen noch nicht da gewesener Vorgang - und dies geschah ohne
Kommentar. Abgesehen von Sharon und seinen Lakaien bemerkte niemand
die Folgerungen. Der große Stiefel der internationalen Gemeinschaft
trat , ohne es zu bemerken, auf das palästinensischen Volk wie auf
eine Ameise.
Das ist der Höhepunkt eines
Prozesses, der mit der Rückkehr des damaligen Ministerpräsidenten
Ehud Barak begann, als er 2000 vom Camp-David-Gipfel zurückkam.
Nachdem das Treffen ein Fehlschlag war, prägte er das Mantra, das
seitdem der Grundstein der Politik der folgenden israelischen
Regierungen geworden war:
„Ich habe jeden Stein auf dem
Weg zum Frieden umgedreht;
ich habe den Palästinensern
so großzügige Angebote gemacht wie noch keiner meiner Vorgänger;
die Palästinenser haben alle
Angebote zurückgewiesen;
Arafat will uns ins Meer
werfen;
wir haben keinen Partner für
den Frieden.“
Dies Mantra beruht auf einer Reihe
von Lügen, die schon vor langem geplatzt sind. Amerikanische
Augenzeugen wie Robert Malley, Präsident Clintons Berater in Camp
David, sowie einige israelische Teilnehmer und internationale,
recherchierende Leute haben detaillierte Berichte veröffentlicht,
die belegen, dass Barak selbst wenigstens genau so verantwortlich
für das Misslingen war wie Arafat – im Grunde viel mehr.
Und als ob es Zufall gewesen wäre –
gerade als die internationale Gemeinschaft geistesabwesend
akzeptierte, dass das palästinensische Volk kein Partner für den
Frieden sei, ereignen sich in Israel Dinge, die alles auf den Kopf
stellen.
Der Hohepriester des „Wir haben
keinen Partner“-Glaubens ist General der Reserve Amos Gilad, der zu
jener entscheidenden Zeit Chef der Untersuchungsabteilung ( und als
solcher die Nummer 2) des militärischen Nachrichtendienstes war. Da
der militärische Nachrichtendienst die einzige für die „nationale
Sicherheitseinschätzung“ verantwortliche Abteilung ist, hat sie
einen entscheidenden Einfluss auf die Gestaltung der nationalen
Politik.
Der militärische
Nachrichtendienstler berichtet dem Ministerpräsidenten direkt und
nimmt an den Kabinettssitzungen teil. Kein Minister würde es wagen,
seine Einschätzungen zu hinterfragen. Sie sind wie der Leitstern des
ganzen Staates. Der Untersuchungschef der Nachrichtenabteilung legt
vermutlich eine professionelle Zusammenfassung einer großen Menge
von gesammeltem Nachrichtenmaterial vor. Den meisten Ministern ist
es verboten, den geschriebenen Bericht zu lesen, und selbst den
wenigen anderen ist nur ein kurzer Blick darauf erlaubt. Deshalb ist
die vom Chef mündlich dargestellte Zusammenfassung der
Untersuchungsergebnisse vor dem Ministerpräsidenten und dem Kabinett
von äußerster Wichtigkeit.
Amos Gilad ging sogar noch weiter:
er erschien fast täglich in den Medien und kommentiert fast jedes
politische und sicherheitsrelevante Ereignis. Er war nicht nur der
„nationale Assessor“ sondern auch der „Nationale Erklärer“, wie er
allgemein von den Medien genannt wurde.
Wer ist der Mann, der einen größeren
Einfluss als jede andere Person auf die Politik Israels während der
letzten entscheidenden Jahre hatte und dessen „Kontseptia“ (1) noch
immer den Weg des Staates lenkt? Es ist derselbe Amos Gilad, der
vor ein paar Tagen für sich die finanzielle Unterstützung
verlangte, wie sie behinderten Armeeveteranen zustehen. Er wurde
nicht in der Schlacht verwundet – Gott bewahre! Er behauptete aber,
dass der durch den schwierigen Job verursachte Stress bei ihm einen
irreversiblen psychischen Schaden angerichtet habe.
Diese Behauptung schließt eine
beträchtliche Menge an Chuzpa(2), wenn nicht Schlimmeres, ein. Aber
es stellt sich auch die Frage: wann begann dieser psychische
Schaden? Wann wurden die ersten Anzeichen beobachtet? War es, als er
damit begann, ständig zu wiederholen, dass Arafat uns ins Meer
werfen wolle? Oder war diese Erklärung als solche ein Symptom
seiner seelischen Probleme? Und wie kann er weiter seine
gegenwärtigen Pflichten erfüllen?
In den letzten zwei Wochen wurde
Israel Zeuge einer stürmischen Debatte, die die Fundamente des
Staates hätten wirklich erschüttern sollen.
Der frühere Chef der militärischen
Nachrichtenabteilung, General der Reserve Amos Malka, der direkte
Vorgesetzte von Gilad, brach sein jahrelanges Schweigen und
veröffentlichte eine wuchtige Anklage: dass Amos Gilad zu seiner „Kontseptia“
ohne irgend welche Nachrichtenunterlagen gekommen sei. Im Gegenteil
: die große Menge vom Nachrichtendienst gesammelten Materials weise
genau auf das Gegenteil hin. Anders gesagt: Gilad erfand seine
Nachrichtenberichte, die sich auf seine eigenen politischen
Ansichten gründeten und/ oder dem Wunsch, seinem politischen Boss,
Barak und Sharon, zu gefallen.
Diese ernste Beschuldigung
verursachte in den professionellen Kreisen einen Sturm. Zweifellos
integere Mitarbeiter der Nachrichtendienste tauchten aus der
Anonymität auf, um Malka öffentlich zu unterstützen. Ihnen voran der
Mann, der in der entsprechenden Zeit für den militärischen
Nachrichtendienst für palästinensische Angelegenheiten beauftragt
war, Oberst Ephraim Lavie. Er war damals für die Zusammenstellung
von allem Nachrichtendienstmaterial über die palästinensische
Führung verantwortlich. Es besteht kein Zweifel, dass bei der
professionellen Gegenüberstellung zwischen Amos und Amos, Amos
Malka als der Sieger hervorging.
Einfach ausgedrückt: es gab
überhaupt kein Nachrichtendienstmaterial, das die Behauptung stützt,
dass Arafat an der Zerstörung Israels arbeite, dass Arafat den
Friedensprozess abgebrochen habe, um mit einer Terrorkampagne zu
beginnen, dass Arafat nicht zu einem vernünftigen Kompromiss bereit
sei. All diese von verschiedenen israelischen Politikern und
Generälen geäußerten Behauptungen gründeten sich auf die
„Einschätzung“ eines Mannes, der , während er die
Nachrichtendienstabteilung zu vertreten schien, tatsächlich die
Berichte der Fachleute seines eigenen Ressorts als auch die des
Sicherheitsdienstes (Shabak) unterdrückte.
Als sich die Debatte aufheizte,
mischte sich der Orientalist Matti Steinberg, ein früherer Berater
des Shabak für palästinensische Angelegenheiten, ein. Steinberg
bestätigte nicht nur, dass Gilads „Kontseptia“ vollkommen falsch
war und den von seinen Leuten gesammelten Unterlagen des
Nachrichtendienstes widersprachen, sondern behauptete auch, dass
Gilads Konzeption „ ihre eigene Prophezeiung erfüllte“.
Da Israel bei weitem stärker als die
Palästinenser ist, schaffen seine Aktionen die Realität. Die von
Gilads „Kontseptia“ ausgeführten Akte schafften die dazu passenden
Resultate. Ähnlich der „Kontseptia“ von Eli Za’ira, dem
Geheimdienstchef während des Yom Kippur-Krieges(2), die in einer
Katastrophe endete, so verursachte und verursacht noch immer die „Kontseptia“
von Amos Gilad das Unheil der augenblicklichen Intifada.
Also Gilads unmittelbarer
Vorgesetzter (Malka) und sein unmittelbar Untergeordneter (Lavie)
klagen ihn beide an, seine persönlichen von keinem
Nachrichtendienstmaterial bestätigten Meinungen zu präsentieren, als
ob sie die offizielle Einschätzung der Nachrichtendienstexperten
wäre.
Gilad hat irreversiblen Schaden
verursacht. Sein Mantra wurde vom größten Teil der Israelis
übernommen und von einem großen Teil der internationalen
öffentlichen Meinung. Seine Aufdeckung in Fachkreisen wird an dieser
Tatsache kaum etwas ändern. Die Entscheidung des „Quartetts“ zeigt,
wie tief diese Lüge tatsächlich in aller Welt Wurzeln geschlagen
hat.
Im übrigen zeigen diese
Enthüllungen, dass die geheime Einschätzung durch die höchsten Ränge
der militärischen Geheimdienstabteilung und des Shabak praktisch
identisch mit den Einschätzungen sind, die seiner Zeit von Gush
Shalom veröffentlicht wurden und denen Medien und Öffentlichkeit,
einschließlich einem großen Teil des „Friedenslagers“ mit völligem
Unglauben begegnet sind. Das heißt, dass die palästinensische
Führung mit Arafat an der Spitze niemals von seiner Bereitschaft,
mit Israel Frieden zu schließen, abgewichen ist – und zwar auf der
Grundlage der Schaffung eines palästinensischen Staates auf 97% der
Westbank und des Gazastreifens (zusammen 22% des historischen
Palästina) mit territorialer Kompensation für die restlichen 3% und
die Souveränität über Ost-Jerusalem und dem Haram-Al-Sharif
(„Tempelberg“). Das Flüchtlingsproblem sollte durch ein Abkommen mit
Israel gelöst werden ( d.h. Israel soll bei jeder Lösung ein
Vetorecht haben).
Die Experten der Militärnachrichten-
und auch Sicherheitsdienste stimmen darin überein, dass Arafat nie
von dieser Position abgewichen sei. Auf dieser Basis kann – wie
Arafat selbst diese Woche bei einem faszinierenden Interview mit dem
neuen Ha’aretz- Redakteur David Landau bestätigte - sogar jetzt
Frieden erzielt werden.
Ariel Sharon lehnt dies natürlich
ab, weil er für Frieden unter diesen Bedingungen nicht bereit ist.
Er will wenigstens 55% der Westbank annektieren und hofft, dass das
Leben der Palästinenser in den restlichen 45% so unmöglich wird,
dass sie das Land aus eigenem Antrieb verlassen. Shimon Peres ist
eifrig darum bemüht, ihm bei der Verwirklichung dieses Planes zu
helfen.
Für dies benötigt Sharon das „Wir
haben keinen Partner“-Mantra. Amos Gilad lieferte die Ware. Nun hat
das „Quartett“ dies akzeptiert und bringt damit Schande über sich
selbst und behindert die Bemühungen um Frieden.
1) Kontseptia, hebr. für Konzeption
2) Chuzpe, (hebr.) Unverschämtheit
3) Die Nachrichtendienst-„konzeption“
von 1973 besagte, dass Ägypten es nicht wagen würde, Israel
anzugreifen; so kam es, dass all die so offensichtlichen Anzeichen
ignoriert wurden, und sie verhinderte, dass entsprechende
Vorbereitungen getroffen wurden. Die Folge davon: 3000 tote
israelische Soldaten. Seitdem hat in Israel das Wort „Kontseptia“
eine fast obszöne Bedeutung angenommen.
(Aus dem Englischen : Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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