„Manifest
Destiny“
Uri Avnery, 12.4.08
IM
NÄCHSTEN Monat wird Israel seinen 60. Geburtstag feiern. Die
Regierung ist fieberhaft damit beschäftigt, diesen Tag in einen
der Freude und des Jubels zu verwandeln. Etwa 40 Millionen Dollar,
die hätten helfen können, ernste, zum Himmel schreiende Probleme zu
lösen, sind für diesen Tag gedacht.
Aber den Leuten ist gar nicht nach Feiern zumute. Sie sind bedrückt.
Aus
allen Richtungen wird der Regierung vorgeworfen, für diese
Niedergeschlagenheit verantwortlich zu sein: „Sie hat keine
Agenda,“ ist der Refrain, „Sie denkt nur an ihr eigenes Überleben.“
(Das Wort „Agenda“ mit seiner englischen Aussprache, ist jetzt in
Israels politischen Kreisen ein Modewort, ein perfekt passendes
Wort dafür im Hebräischen wird beiseite geschoben.)
Es
ist schwer, nicht der Regierung Schuld zu geben. Ehud Olmert hält
endlos Reden, wenigstens eine Rede pro Tag, den einen Tag bei einer
Konferenz von Industriellen, am nächsten in einem Kindergarten – und
sagt absolut nichts. Es gibt weder eine nationale Agenda, noch eine
wirtschaftliche oder eine soziale Agenda, auch keine kulturelle –
nichts.
Als er zur
Macht kam, stellte er etwas vor, das wie eine Agenda klang: „Hitkanssuth“,
ein unübersetzbares Wort, das in etwa „Konzentrieren“,
„Zusammenziehen“, „Einsammeln“ bedeutet. Es sollte eine
historische Operation werden: Israel würde einen großen Teil der
besetzten Gebieten aufgeben, die Siedlungen östlich der „Trennungs“mauer
auflösen und die Siedlungen annektieren, die zwischen der Grünen
Linie und der Mauer liegen.
Jetzt, zwei Jahre und einen Krieg später, war nichts davon übrig
geblieben, selbst das Wort wurde vergessen. Das einzige Spiel in
der Stadt ist die „Verhandlung“ mit der palästinensischen Behörde –
sie war von Anfang an eine Farce. Wie Schauspieler auf einer Bühne,
die aus leeren Gläsern trinken, behaupten alle Seiten, dass die
Verhandlungen weitergehen. Sie treffen sich, umarmen sich, lächeln,
posieren für die Fotografen, berufen gemeinsame Arbeitsgruppen ein,
halten Pressekonferenzen, geben Erklärungen ab - und in
Wirklichkeit geschieht nichts, absolut nichts.
Wozu diese
Farce? Jeder der Beteiligten hat seine eigenen Gründe: Olmert
braucht eine Agenda, um die Leere zu füllen. George Bush, eine lahme
Ente, der auf jedem Feld nichts als Ruinen hinter sich lässt, will
wenigstens noch einen Erfolg vorweisen – so fiktiv er auch
sein mag. Armer Mahmoud Abbas, dessen weitere Existenz von seiner
Fähigkeit abhängt, seinem Volk einige politische Errungenschaften
vorzuweisen, klammert sich mit seiner verbleibenden Kraft an
diese Illusion. Das Theater geht also weiter.
ABER JEDER, der glaubt, dass die Regierung keine Agenda habe und
dass der Staat Israel keine Agenda habe, hat ganz und gar unrecht.
Es gibt eine Agenda, nur ist sie verborgen. Genauer gesagt: sie ist
nicht bewusst.
Die
Leute sagen, die Ideologie sei tot. Auch das ist falsch. Es gibt
keine Gesellschaft ohne Ideologie, und es gibt kein menschliches
Wesen ohne eine Ideologie. Wenn es keine neue Ideologie gibt, dann
wirkt die alte Ideologie weiter. Wenn es keine bewusste Ideologie
gibt, dann gibt es eine unbewusste, die viel mächtiger sein kann –
und viel gefährlicher.
Warum? Eine bewusste Ideologie kann analysiert, kritisiert und
bekämpft werden. Es ist viel schwieriger, eine unbewusste zu
bekämpfen, die die Agenda regelt, ohne offenkundig zu sein.
Darum ist es so wichtig, sie zu bestimmen, aufzudecken und zu
analysieren.
WENN MAN Olmert fragen würde, würde er energisch leugnen, er habe
keine Agenda. Er hat eine perfekte Agenda: Frieden zu machen (was
heute „permanenter Status“ genannt wird). Und nicht nur irgendeinen
Frieden, sondern einen, der sich auf „Zwei Staaten für zwei Völker“
gründet. Ohne solch einen Frieden - so sagt Olmert – „sei der Staat
am Ende“.
Warum gibt es dann in diesem Fall keine Verhandlung, sondern nur
einen absurdes Theater? Warum geht der Siedlungsbau so massiv
weiter, selbst in den Siedlungen östlich der Mauer und innerhalb des
Gebietes, das Regierungssprecher für den palästinensischen Staat
vorschlagen? Warum führt die Regierung jeden Tag militärische und
zivile Aktionen durch, die den Frieden nur immer weiter in die Ferne
schieben?
Gemäß der Regierung selbst und im Gegensatz zu dem, was sie anfangs
selbst sagte, hat sie nicht die Absicht, noch 2008 Frieden zu
machen. Höchstens wird es ein „Schubladenabkommen“ geben. Das ist
eine originelle israelische Erfindung, ein Abkommen, das zunächst
in die Schublade kommt „bis die Bedingungen reif sind“. Mit andern
Worten: sinnlose Verhandlungen für ein sinnloses Abkommen. Jetzt
sagen sie, dass es nicht einmal dafür 2008 eine Chance gibt und
nicht in absehbarer Zukunft.
Es
gibt keinen Ausweg vor den unvermeidlichen Schlussfolgerungen: Die
Regierung arbeitet nicht für den Frieden. Sie will gar keinen
Frieden. Und es gibt auch keine parlamentarische Opposition, die auf
Frieden drängt und es gibt keinen Druck von Seiten der Medien.
Heißt das alles, dass es keine Agenda gibt? Nein, es bedeutet, dass
hinter der falschen Agenda, die in den Medien erscheint, sich eine
andere Agenda verbirgt, die für das Auge unsichtbar ist.
DIE
VERBOGENE Agenda ist gegen Frieden. Warum?
Nach herkömmlicher Überzeugung hat die Regierung keinen Wunsch nach
Frieden, weil sie die Siedler und ihre Unterstützer fürchtet. Der
Frieden, über den geredet wird – der Frieden mit „zwei Staaten für
zwei Völker“ - verlangt die Auflösung von Dutzenden von Siedlungen,
einschließlich derjenigen, die die politische und ideologische
Führung der ganzen Bewegung beherbergen. Das würde eine
Kriegserklärung gegen 250 000 Siedler bedeuten – ausgenommen
diejenigen, die freiwillig mit großzügigen Kompensationen die
Siedlungen verlassen würden. Das augenblickliche Argument ist, dass
die Regierung für solch eine Konfrontation zu schwach ist.
Nach einer zur Zeit beliebten Formel „sind beide Regierungen, die
israelische und die palästinensische, zu schwach, um Frieden zu
machen. Alles muss verschoben werden, bis auf beiden Seiten eine
starke Führung auftaucht.“ Einige Leute zählen hier auch noch die
Bush-Regierung hinzu – ein Lahmer-Enten-Präsident kann keinen
Frieden auferlegen.
Aber der Siedlungsbau ist nur ein Symptom, nicht der Kern des
Problems. Warum sonst friert die Regierung ihn nicht wenigstens
einfach ein, wie sie sich viele Male verpflichtet hat? Wenn die
Siedlungen das Haupthindernis zum Frieden wären, warum werden sie
jetzt sogar vergrößert und warum werden noch neue Siedlungen
gebaut unter dem Decknamen von neuen “Vororten“ bestehender
Siedlungen?
Klar, die Siedlungen sind in Wirklichkeit auch nur ein Vorwand.
Etwas Profunderes veranlasst die Regierung und das ganze politische
System, den Frieden abzuweisen.
Das
ist die verborgene Agenda.
WELCHES IST der Kern des Friedens? Eine Grenze.
Wenn zwei benachbarte Völker mit einander Frieden schließen, setzen
sie als erstes die Grenze zwischen sich fest.
Und
genau dies ist es, wogegen das israelische Establishment opponiert,
weil sie die grundlegende Einstellung des zionistischen
Unternehmens zunichte macht.
Zu
verschiedenen Zeiten hat die zionistische Bewegung zwar Karten
gezeichnet. Nach dem 1. Weltkrieg legte sie der Friedenskonferenz
die Karte eines jüdischen Staates vor, der sich vom Litanifluss im
Libanon bis nach El-Arish in der Sinaiwüste erstreckt. Die Karte von
Vladimir Ze’ev Jabotinsky, die das Emblem der Irgun wurde, zeichnete
die Grenzen des ursprünglichen britischen Mandates auf beiden Seiten
des Jordans. Israel Eldad, einer der Führer der Sterngruppe,
verteilte jahrelang eine Karte des israelischen Reiches, das von
der Mittelmeerküste bis zum Euphrat reichte, und Jordanien und den
Libanon einschloss und dazu große Teile von Syrien und Ägypten.
Sein Sohn, das rechts-extreme Knessetmitglied Arieh Eldad hat diese
Karte noch nicht aufgegeben. Nach dem Sechs-Tagekrieg wurde die
Karte, die alle Eroberungen einschloss - auch die Golanhöhen und die
ganze Sinai-Halbinsel – vom rechten Flügel vorgezogen.
Aber all diese Karten sind nur Zeichenspiele. Die wirkliche
zionistische Vision erkennt gar keine Karten an. Es ist die Vision
eines Staates ohne Grenzen – eines Staates, der sich zu allen Zeiten
ausdehnt, je nach seiner demographischen, militärischen und
politischen Macht. Die zionistische Strategie ähnelt dem Gewässer
eines Flusses, der ins Meer fließt. Der Fluss schlängelt sich durch
die Landschaft, umfließt Hindernisse, wendet sich nach rechts und
nach links, manchmal an der Oberfläche, manchmal darunter und
unterwegs nimmt es immer mehr Quellen auf. Schließlich erreicht er
seine Bestimmung.
Das
ist die wirkliche Agenda, unveränderlich, verborgen, bewusst und
unbewusst. Sie braucht keine Entscheidungen , Formulierungen und
Karten, weil sie in die Gene der (zionistischen) Bewegung kodiert
ist. Dies erklärt unter anderem das im Bericht der Anklageanwältin
Talia Sasson beschriebene Phänomen über die Siedlungen: dass alle
Organe des Establishments, der Regierung und des Militärs ohne
offizielle Koordinierung, aber in wunderbar effektiver Kooperation
zusammenarbeiteten, um die „illegalen“ Siedlungen aufzubauen. Jeder
der Tausenden von Beamten und Offiziere, die Jahrzehnte mit dem
Unternehmen zu tun hatten, wusste genau, was er zu tun hatte, ohne
auch nur eine Instruktion erhalten zu haben.
Das
ist der Grund für Ben Gurions Weigerung, in der
Unabhängigkeitserklärung des neuen Staates Israel die Grenzen zu
erwähnen. Er war keinen Augenblick lang mit den durch die
Resolution der UN-Vollversammlung festgelegten Grenzen vom 29.
November 1947 zufrieden. Genau wie alle seine Nachfolger. Sogar
das Oslo-Abkommen skizzierte nur „Zonen“, legte aber keine Grenzen
fest. Präsident Bush akzeptierte diese Auffassung, als er „einen
palästinensischen Staat mit provisorischen Grenzen“ vorschlug – ein
Novum im Völkerrecht.
Auch in dieser Hinsicht ähnelt Israel den USA, die entlang der
Ostküste gegründet wurden, und die nicht ruhten, bis sie die
Westküste auf der andern Seite des Kontinentes erreichten. Der
unaufhörliche Strom von Einwanderern, die aus Europa kamen und gen
Westen strömten, alle Grenzen brachen und alle Abkommen verletzten,
die indigene amerikanische Bevölkerung auslöschten, einen Krieg mit
Mexiko begannen, Texas eroberten, in Mittelamerika und Kuba
eindrangen. Die Parole, die sie vorantrieb und all ihre Aktionen
rechtfertigte war 1845 von John O’Sullivan geprägt worden: „Manifest
Destiny“. („Die USA sei von Gott dafür bestimmt gewesen, sich über
den ganzen Kontinent auszubreiten“)
Die
israelische Version von „Manifest Vorsehung“ war Moshe Dayans
Slogan: „Es ist unser Schicksal“ . Dayan, ein typischer Vertreter
der 2. Generation hielt in seinem Leben zwei wichtige Reden. Die
erste und bekanntere hielt er 1956 am Grab von Roy Rutenberg in
Nahal Oz, einem Kibbuz gegenüber von Gaza: „Direkt vor ihren Augen
(der Palästinenser Gazas) verwandeln wir das Land und die Dörfer
ihrer Vorfahren in unsere Heimstätte .. dies ist das Schicksal
unserer Generation, die Wahl unseres Lebens, bereit und bewaffnet,
stark und zäh zu sein – sonst wird uns das Schwert aus der Hand
fallen und unser Leben ausgelöscht sein.“
Er
dachte nicht nur an seine eigene Generation. Die zweite, weniger
bekannte Rede ist die bedeutendere. Sie wurde im August 1968 nach
der Eroberung der Golanhöhen vor einer Versammlung junger
Kibbuzniks gehalten. Als ich ihn in der Knesset nach dieser Rede
fragte, fügte er die ganze Rede in das Knessetprotokoll, was in
unserm Parlament sehr ungewöhnlich ist.
Folgendes sagte er der Jugend: „ Es ist unser Schicksal, in einem
permanenten Zustand des Kampfes gegen die Araber zu leben … Seit
hundert Jahren, seit der Rückkehr nach Zion arbeiten wir für zwei
Dinge: für den Aufbau des Landes und den Aufbau des Volkes … das
ist ein Prozess der Ausdehnung, von mehr Juden und mehr Siedlungen
…das ist ein Prozess, der sein Ende noch nicht gefunden hat. Wir
wurden hier geboren und fanden unsere Eltern , die vor uns gekommen
sind … es ist nicht eure Pflicht, das Ende zu erreichen. Eure
Pflicht ist es, euren Teil hinzuzufügen … während eurer Lebenszeit
die Besiedlung nach euren besten Kräften zu erweitern … nicht zu
sagen: dies ist das Ende, wir haben es vollendet.“
Dayan, dem die alten traditionellen Texte sehr wohl bekannt waren,
dachte wahrscheinlich an das „Kapitel der Väter“ (ein Teil der
Mishna, die vor 1800 Jahren geschrieben worden war und die die
Grundlage des Talmud bildete): „Es ist nicht eure Sache, die Arbeit
zu beenden und ihr seid nicht frei, sie aufzugeben.“
Das
ist die verborgene Agenda. Wir müssen sie aus den Tiefen unseres
Unterbewusstseins in unser Bewusstseins holen, um ihr
entgegentreten zu können, die in ihr liegende Gefahr aufzudecken,
nämlich die Gefahr eines ewigen Krieges, der in Zukunft diesen
Staat in eine Katastrophe führen wird.
Während wir uns dem 60.Jahrestag des Staates nähern, müssen wir
unter dieses Kapitel unserer Geschichte einen Strich ziehen, den
bösen Geist austreiben und klar sagen: ja, wir haben das Kapitel
der Expansion und der Besiedlung beendet.
Dies wird uns in die Lage versetzen, die Richtung des Flusses zu
verändern; der Besatzung ein Ende zu bereiten; Siedlungen
aufzulösen; Frieden zu machen; eine Versöhnung mit dem Nachbarvolk
zu bewirken; Israel in einen friedlichen, demokratischen, säkularen
und liberalen Staat zu verwandeln , der alle seine Ressourcen zum
Aufbau einer blühenden, modernen Gesellschaft verwendet
Und der vor allem einer Grenze zustimmt.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
Gush Shalom Inserat am 11. April
2008 in Haaretz (dt. ER)
Der
fünfjährige Abdalla Bahar
Wurde diese
Woche im Gazastreifen
Durch die
Armee getötet.
Nicht ein
einziges Wort
Wurde
darüber veröffentlicht
Nicht in
Yedioth Aharot, nicht in Maariv
Oder einem
Fernsehkanal
Nur Haaretz
veröffentlichte ein Foto.
Im
demokratischen Staat Israel
Ist kein
Staatsreich nötig
Um die
Medien mundtot zu machen
Die Editoren
tun es selbst. |