Ja, du kannst!
Uri Avnery, 25.7. 2009
ZUNÄCHST ein ehrliches Geständnis: Ich liebte das Shepherd Hotel
sehr.
In
den ersten Jahren nach dem Sechstage-Krieg war ich dort häufig zu
Gast. Meine Arbeit in der Knesset verlangte, dass ich wenigstens
zwei Nächte pro Woche in Jerusalem blieb, und nach dem Krieg
wechselte ich von Hotels in West-Jerusalem zu solchen im östlichen
Teil. Mein Lieblingshotel war das Shepherd. Dort fühlte ich mich wie
zu Hause.
Der Charme der Örtlichkeit lag in seiner besonderen Atmosphäre. Es
lag mitten in der alten arabischen Stadt, die schon selbst meine
Neugierde weckte: seine Räume hatten hohe Decken und alte Möbel
und es wurde von bemerkenswerten Leuten geleitet, zwei älteren
arabischen Damen, die ihre Ausbildung in Beirut erhalten hatten und
tief in der palästinensisch-libanesischen Kultur beheimatet waren.
Das Hotel liegt im Herzen des Stadtteils des
Al-Husseini-Familienclans. Der Besitz dieser ausgedehnten Familie
mit mehr als 5000 Mitgliedern, erstreckt sich über den größeren Teil
des Sheikh-Jarrah-Viertels, das auch das legendäre Orienthaus mit
einschließt.
Die Al-Husseini-Familie ist eine der handvoll aristokratischen
Jerusalemer Familien und vielleicht die geachtetste (so denken
mindestens ihre Mitglieder). Jahrhunderte lang hatten
Familienmitglieder wenigstens eine der drei bedeutendsten
Positionen der Stadt inne: die des Großmufti, des Bürgermeisters und
die Verantwortung für die islamischen heiligen Stätten.
Das Shepherd-Hotel wurde von Haj Amin al-Husseini, dem Mufti,
gebaut, der in den 30er Jahren die arabische Rebellion leitete, und
der Araber war, den die hebräische Gemeinde am meisten hasste .
Ich verbrachte Stunden im Gespräch mit den beiden Damen, lernte eine
Menge von ihnen und war dem Haus sehr verbunden. Es war für mich
ein trauriger Tag, als es geschlossen wurde.
Ich weiß nicht, wie dieser Besitz in die Hände des amerikanischen
Millionärs, des Bingo-Königs, gefallen ist, dessen erklärte Absicht
es ist, jüdische Siedlungen in der ganzen arabischen Stadt
anzusiedeln. Nun will er ein Häuserprojekt auf dem Grund und Boden
des Shepherd-Hotels bauen. Das ist genug über ihn. Mein Geschäft ist
mit Netanyahu.
NETANYAHUS Ziel ist es, Jerusalem zu judaisieren. In dieser Woche
rühmte er sich, dass er während seiner letzten Amtszeit vor zehn
Jahren den wie eine Festung aussehenden jüdischen Vorort Har Homa
gebaut hat.
Zu
Har Homa – dessen wirklicher Name „Jebel Abu Ghneim“, „Berg des
Vaters der Schafe“ ist – habe ich auch eine besondere persönliche
Beziehung. Ich hatte viele Tage und Nächte im Zelt dort verbracht,
um den Bau dieses monströsen Wohnungsbauprojektes zu verhindern, das
nun dort so drohend aufragt.
Der Führer dieses Kampfes war ein anderer Husseini – der
unvergessliche Feisal. Ich habe ihn sehr verehrt. Ich zögere nicht
zu sagen, dass ich ihn liebte. Er war ein Edelmann im wahrsten Sinn
des Wortes: ein Nachkomme des Adels, aber bescheiden in seinem
Verhalten, großzügig und zugänglich, ein Mann des Friedens, aber
furchtlos bei seinen Konfrontationen mit den Besatzungstruppen, ein
wirklicher palästinensischer Patriot, moderat in seinen Ansichten,
weise und mutig. Er war der Sohn von Abd-al-Kader al-Husseini, dem
Anführer der arabischen Kämpfer im 1948er-Krieg im Raum Jerusalem.
Er wurde in der Schlacht um das „Castel“ nahe der Stadt getötet.
Ich war an dieser Schlacht nicht beteiligt, fuhr aber wenige Stunden
danach mit einem Hilfskonvoi für den belagerten jüdischen Teil
Jerusalems dort vorbei. Wie die meisten meiner Kameraden achtete ich
ihn als einen ehrenhaften Feind.
Har Homa war – für jene, die es vergessen haben sollten – ein Ort
zwischen Jerusalem und Bethlehem von einmaliger Schönheit, ein lang
gesteckter Hügel mit dichten Wald. Die Zerstörer Jerusalems und
Bethlehems – jene brutale Koalition von Immobilien-Haien,
fanatischen Zionisten, amerikanischen Millionären und religiösen
Mystikern – haben entschieden, den letzten Fleck Schönheit zu
vernichten, um eine dichte, befestigte und besonders hässliche
jüdische Siedlung zu bauen. Unter der Leitung von Faisal und Ta’amri,
dem früheren Mann einer jordanischen Prinzessin, wurde ein Zeltlager
aufgestellt. Als die Bulldozer anfingen, die Bäume zu entwurzeln und
die Hügelkuppe zu roden, hielten wir Dutzende von Demonstrationen
und Nachwachen ab. Bei einer von ihnen erlitt ich eine innere
Blutung und würde dort mein Leben beendet haben, wenn es nicht einem
palästinensischen Ambulanzwagen gelungen wäre, mich auf dieser
weglosen Steinwüste zu erreichen und noch rechtzeitig in ein
Krankenhaus zu bringen. Deshalb habe ich auch zu diesem Ort ein
besonderes Verhältnis.
DIE SHEPHERD-Provokation ist Teil unermüdlicher Bemühungen,
Jerusalem zu „judaisieren“. Einfacher gesagt: eine ethnische
Säuberung auszuführen. Die Kampagne geht nun schon seit 42 Jahren,
vom ersten Tag der Besatzung Ost-Jerusalems, vonstatten. Aber der
Zeitpunkt dieser besonderen Operation hängt mit taktischen
Erwägungen zusammen.
Netanyahu sieht sich schwerem amerikanischem Druck gegenüber, um den
Siedlungsbau in der Westbank einzufrieren. Er ist nicht in der Lage,
dies zu tun, solange er der augenblicklichen Koalition vorsteht, die
er selbst so wollte, die aus Rechten, religiösen Zeloten, Siedlern
und ausgemachten Faschisten besteht. Er hat mehrere „Kompromisse“
angeboten, die alle auf verschiedenen betrügerischen Tricks beruhen.
Aber die Amerikaner haben die Lektionen aus der Vergangenheit
gelernt und gingen nicht in seine Fallen.
Sein siamesischer Zwilling Ehud Barak ist eifrig dabei, in die
Medien „Nachrichten“ über eine grandiose Operation zu schleusen:
jeden Augenblick sollen mit einem Streich – wie Alexander der
Große mit dem Gordischen Knoten – Dutzende von
Siedlungs-“Außenposten“, die seit 2001 mit geheimer
Regierungsunterstützung errichtet wurden, vernichtet werden. Aber
außer den Medienleuten selbst glaubt keiner so recht daran, dass
dies geschehen wird. Ganz gewiss nicht die Siedler, nach ihrem
wissenden Lächeln zu beurteilen.
Was also tun, um die Auflösung der Außenposten zu verhindern?
Netanyahu, der König von PR, hat eine Lösung: eine neue Provokation,
um die Aufmerksamkeit von der letzten abzuziehen. Das Shepherd-Hotel
zieht jetzt die Aufmerksamkeit der Welt von den Hügeln in ‚Judäa und
Samaria’ weg. Wenn man Zahnschmerzen hat, vergisst man die
Bauchschmerzen.
Was, sagt er, die Goyim wollen uns verbieten, in Jerusalem zu bauen,
in unserer heiligen Stadt? Unsere ewige Hauptstadt, die für alle
Ewigkeit vereinigt worden ist?! Was für eine Chutzpe! Wollen sie
Juden verbieten, in New York zu bauen? Wollen sie Engländern
verbieten, in London zu bauen?!
Netanyahu übertraf sich selbst, als er erklärte, dass jeder Araber
in West-Jerusalem leben könne, warum könne dann ein Jude nicht ein
Haus in Ost-Jerusalem bauen?
Das ist deutlich und auf den Punkt gebracht -- und absolut falsch.
Wenn Netanyahu solche Dinge sagt, weiß man nicht genau, ob er
bewusst Lügen verbreitet (obwohl sie leicht widerlegt werden können)
oder ob er selbst seinen Unwahrheiten glaubt. So sagte er z.B., dass
er sich noch an die britischen Soldaten vor seinem Haus erinnere,
als er noch ein Kind war – doch der letzte britische Soldat hatte
schon ein Jahr bevor er geboren wurde, das Land verlassen
Die Wahrheit ist, dass abgesehen von äußert seltenen Ausnahmen, kein
Araber eine Wohnung in West-Jerusalem erwerben, geschweige denn ein
Haus dort bauen kann – obwohl große Teile der westlichen Stadt aus
früheren arabischen Stadtteilen bestehen, deren Bewohner während des
1948er Krieges flohen oder vertrieben wurden. Den früheren Besitzern
der Häuser in diesen Vierteln (Talbiya, Katamon, Baka’a, Dir Yassin),
die in Ost-Jerusalem Zuflucht fanden, wurde es nicht erlaubt, zu
ihren Häusern zurückzukehren, als Jerusalem 1967 „vereinigt“ wurde.
Es wurde ihnen auch keine Kompensation gezahlt (wie ich es in der
Knesset vorgeschlagen hatte).
Aber Netanyahu ist es gleichgültig, ob ihm die Leute glauben oder
nicht. In dieser Woche war er, wie in den anderen Wochen seit
seiner Rückkehr zur Macht, voll mit seinem Überleben als
Ministerpräsident beschäftigt. Um zu überleben, muss die Koalition
intakt bleiben. Um dies zu erreichen, muss er zeigen, dass er unter
amerikanischem Druck nicht zusammenknickt. Es gibt keinen besseren
Platz als Jerusalem, um dies zu beweisen.
Über Jerusalem, wie offizielle Sprecher nie müde werden zu sagen –
über Jerusalem gibt es einen nationalen Konsens: von Wand zu Wand:
von der Linken bis zur extremen Rechten.
Doch dieser Mythos ist längst gestorben. Solch ein Konsens besteht
nicht mehr. Gerade jetzt sind die meisten Israelis bereit, die
arabischen Viertel Ost-Jerusalems der palästinensischen Regierung
für wirklichen Frieden zurückzugeben. Ich kenne keine jüdische
Mutter, die bereit wäre, ihren Sohn in einem Krieg für das Shepherd
Hotel zu opfern.
ICH MÖCHTE noch einen anderen Mythos widerlegen, der unnachgiebig
von unsern Medien propagiert wird: dass sich gerade ein nationaler
Konsens gegen Präsident Obama bildet.
Im
klassischen Hebräisch sagen wir: Keine Bären, kein Wald. Oder im
Umgangssprachlichen: Keine Vögel, keine Schuhe.
Viele Israelis, ja, sehr viele hoffen, dass Barack Obama für sie
tun wird, was ohne ihn unmöglich ist: den Frieden bringen. Sie sind
über unser politisches System verzweifelt, über beides, die
Koalition und die Opposition, von der Rechten und der Linken, sie
sind davon überzeugt, dass nur eine Macht von außen diese Hoffnung
realisieren kann.
Falls Obama tatsächlich mit Netanyahu wegen der hartnäckigen
Weigerung, den Siedlungsbau in der Westbank einzufrieren und wegen
des Weiterbaus in Ost-Jerusalem zusammenstoßen solle, dann werden
viele Israelis um einen Sieg Obamas beten. Sie wissen, dass in
dieser Schlacht nicht Netanyahu, sondern Obama die wahren Interessen
Israels vertritt.
Die Frage ist nur, ob Obama – wie seit Dwight Eisenhower kein
vorausgegangener Präsident - die Macht hat, die Sache durchzuziehen.
Netanyahu glaubt es nicht. Seine amerikanischen Partner – die
geschlagenen Republikaner, die Neo-Cons, die sich jetzt
zurückhalten, die fast schweigenden evangelikalen Prediger – das
ganze besiegte Lager hofft, sein Glück wieder zu gewinnen, indem es
die jüdische Lobby und die israelische Regierung ermutigt, Obama zu
provozieren. Netanyahu, der in der Vergangenheit den Kongress gegen
das Weiße Haus mobilisierte, glaubt, er könne das noch einmal tun.
Unsere Zeitungen berichten mit Häme durch Tabellen und Schaubildern,
dass Obamas Ansehen in Amerika im Sinken begriffen sei. Es ist nicht
schwer zu erraten, dass diese Information aus Avigdor Liebermans
Außenministerium stammt, aus derselben Quelle, die die
amerikanischen Medien mit Berichten über die wachsende Opposition
gegen Obama in der israelischen Öffentlichkeit versorgt. Bald werden
die amerikanischen Medien zeigen, wie israelische Demonstranten
Poster schwenken, auf denen Obama in SS-Uniform zu sehen ist, so wie
es Yassir Arafat bzw. Yitzhak Rabin vor ihm geschehen ist.
In
der Schlacht geht es nicht um 20 Außenposten und auch nicht um 20
Apartments auf Grund und Boden des Shepherd-Hotels. Jedes Haus in
jeder Westbanksiedlung dient einem höheren Zweck: der Möglichkeit
den Frieden zu zerstören. Jedes israelische Haus in Ost-Jerusalem
dient demselben erhabenen Ziel. Die Gegner des Friedens wissen, dass
kein arabischer Führer je ein Friedensabkommen unterzeichnen wird,
das Ost-Jerusalem nicht als palästinensische Hauptstadt bestimmt,
und kein arabischer Führer wird jemals ein Friedensabkommen
unterzeichnen, das nicht die ganze Westbank dem neuen Staat
Palästina vermacht.
Auf den Schultern Barak Obamas ruht eine schwere historische
Verantwortung: nicht einzuknicken, nicht nachzugeben und keine
„Kompromisse“ zu schließen. Auf dem totalen Einfrieren der
Siedlungsaktivitäten zu bestehen – als erster und notwendiger
Schritt in Richtung Frieden – um seinet- und auch um unsretwillen.
Als Israeli habe ich das Gefühl, ihm zurufen zu müssen: Ja, du
kannst!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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