Vierzig schlimme Jahre
Uri Avnery,
9.6.07
„RUHE KAM über die Müden
/ und Entspannung über die Arbeiter / Bleiche Nacht
bedeckt / die Felder im Jesreeltal / Unten der Tau / und
oben der Mond / vom Kibbuz Bet Alfa bis Moshav Nahalal…“
So sangen wir , als wir
jung waren. Jetzt ist es ein Fernseh-Nostalgieprogramm:
junge Leute aus den Fünfzigern singen die Lieder der
Pioniere.
Die Gedanken gehen
zurück. Wer waren die Pioniere, die als erste diese
Lieder sangen?
Sie kamen aus reichen
Häusern in Petersburg, aus den Schtetl Galiziens, Söhne
und Töchter von Universitätsprofessoren in Deutschland.
Sie hätten nach Amerika auswandern können, wie es die
meisten der Immigranten damals machten. Sie wurden aber
von einem fernen Land im Orient angezogen – zu einem
großen nationalen Abenteuer. Sie lebten in elender
Armut, taten unter glühender Sonne, die sich nicht
gewohnt waren, Schwerstarbeit, und träumten von einer
perfekten menschlichen Gesellschaft.
Sie waren wirkliche
Idealisten. Sie nahmen gar nicht wahr, dass sie dabei
waren, ein anderes Volk zu verletzen. Die Araber waren
für sie ein Teil der romantischen Landschaft. Sie
glaubten in aller Unschuld, sie brächten allen
Einwohnern des Landes Segen und Fortschritt.
Heute, vier oder fünf
Generationen später sehen sie ganz anders aus. Ihre
Unschuld ist vergessen. Für viele sieht sie wie reine
Heuchelei aus, ein Vorwand für Landraub und
Unterdrückung.
Das ist eine der Folgen
von 40 Jahren Besatzung. Die jetzigen Siedler
behaupten, die Nachfolger jener Pioniere der 20er und
30er Jahre zu sein. Sie sagen, sie seien die Pioniere
von heute. Diese gewalttätigen, raubenden Grobiane
erwarten von uns wirklich, dass man Pioniere von damals
als ihre geistigen Väter ansieht.
Wenn wir all den
Schaden zusammenaddieren, den die Besatzung uns zugefügt
hat – ja, auch uns und nicht nur den direkten
Opfern, den Einwohnern der besetzten Gebiete - so
sollten wir dies nicht vergessen. Die Besatzung
vergiftet die nationale Erinnerung. Sie beschmutzt nicht
nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und
zwar nicht nur in den Augen der Welt, sondern auch in
unseren eigenen Augen.
ES IST schon genug, was
die Besatzung gegenüber der jüdischen Religion angetan
hat.
In meiner Kindheit wurde
ich gelehrt, dass das Judentum eine humane Religion sei,
„ein Licht unter den Völkern“. Judentum bedeutet Gewalt
abzulehnen, die geistigen Kräfte den körperlichen
vorzuziehen, einen Feind zum Freund zu machen. Einem
Juden ist es erlaubt, sich selbst zu verteidigen – „Wenn
jemand auf dich zukommt, um dich zu töten, dann töte ihn
zuerst“ – so steht es im Talmud. Aber nicht, weil er
Gewalt liebt und von der Macht berauscht ist.
Was ist davon geblieben
?
Besorgte Freunde sandten
mir vor kurzem eine E-Mail mit einigen haarsträubenden
Zitaten eines Statements von Rabbiner Mordechai Eliyahu,
dem früheren sephardischen Oberrabbiner Israels und dem
geistigen Führer der Siedler und des ganzen religiös-
zionistischen Lagers. In einem Brief an den
Ministerpräsidenten urteilt der Rabbiner, dass es
unzulässig sei, Mitleid mit der zivilen Bevölkerung von
Gaza zu haben, wenn sie israelische Soldaten gefährde.
Sein Sohn Shmuel interpretierte diese Verfügung im
Auftrag seines Vaters: wenn das Töten von 100 Arabern
nicht ausreicht, um den Beschuss mit Kassam-Raketen zu
beenden, dann müssen Tausend getötet werden. Und wenn
dies nicht genügt, dann 10 000 und 100 000 oder gar eine
Million. All dies, um die Kassams zu stoppen, denen es
in all den Jahren kaum gelungen ist, ein Dutzend Juden
zu töten.
Welche Verbindung gibt
es zwischen dieser „religiösen“ Einstellung und dem
Gott, der in Genesis 18 versprochen hat, Sodom nicht zu
zerstören, wenn in ihr nur zehn Gerechte gefunden
werden?
Welchen Unterschied gibt
es zwischen dieser moralischen Haltung und der
Nazi-Methode, zehn Geiseln für jeden vom Widerstand
getöteten deutschen Soldaten zu erschießen?
Die Verfügung des
Rabbiners hat keine Reaktion hervorgerufen. Es gab
keinen Aufschrei, weder von seinen Anhängern noch von
der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Zahl der Rabbiner,
die öffentlich solche Methoden unterstützen, geht in die
Hunderte. Die meisten kommen aus den Siedlungen. Dies
ist eine „religiöse“ Ansicht, die in der vergifteten
Atmosphäre der Besatzung gedeihen konnte, eine
Besatzungsreligion. Sie bringt über die ganze jüdische
Religion der Gegenwart und Vergangenheit Schande.
Kein Wunder, dass eine
Person mit starkem religiösen Bewusstsein, Avraham
Burg, der frühere Sprecher der Knesset und Vorsitzender
der Jewish Agency, sich in dieser Woche vom Zionismus
losgesagt hat und forderte, die Bezeichnung Israels als
„Jüdischen Staat“ aufzugeben.
DER HINWEIS, dass die
Besatzung die israelische Armee zerstört, ist nicht neu.
Eine Armee kann ihre
Aufgabe, den Staat gegen potentielle Feinde zu
verteidigen, nicht mehr erfüllen, wenn sie
jahrzehntelang als Kolonialpolizei beschäftigt war. Man
kann Todesschwadronen attraktive Namen verpassen –
„Kommando Mango“ oder „Einheit Pfirsich“ – doch bleiben
sie, was sie sind: ein Instrument brutalen Mordens und
der Unterdrückung.
Ein Offizier, der heute
eine Aktion einer Undercovereinheit in der Altstadt von
Nablus – nämlich den Mord an einem „ranghohen
Militanten“ im Mafiastil plant - wird anderntags nicht
in der Lage sein, ein Panzerbataillon gegen einen
raffinierten Feind zu führen. Eine Armee, die auf
Steinewerfer schießt, Kinder in den Gassen des
Flüchtlingslagers Balata verfolgt oder eine
Ein-Tonnen-Bombe auf Wohngebäude wirft, kann nicht über
Nacht zu einer wirksamen Militärmacht auf einem
modernen Schlachtfeld werden.
Man muss gar nicht den
Vinograd-Bericht gelesen haben. Es genügt, die
Kommandeure von 1967 – Leute wie Yitzhak Rabin, Israel
Tal, Ezer Weizman, Dado Elazar und Matti Peled – mit den
entsprechenden Leuten von heute vergleichen. Nach 40
Jahren verachtenswürdigem Tun gegen eine wehrlose
Bevölkerung zieht die Armee keine jungen Leute mehr an,
die selbständig denken und hoch motiviert sind, Leute
die wagen und improvisieren können. Sie zieht die
Mittelmäßigen der Mittelmäßigen an.
Im Sechstage-Krieg
hatten wir eine kleine, hoch entwickelte Armee, die den
Staat von innerhalb der Grünen Linie verteidigte, die
von Abba Eban mit „Auschwitzgrenze“ beschrieben wurde.
Diese Armee benötigte kaum sechs Tage, um vier
gegnerische Armeen zu besiegen. Seitdem ist das Gebiet
größer geworden und hat ideale „Sicherheitsgrenzen“
erreicht, die Armee ist viel größer geworden und ihr
Budget viel aufgeblasener. Die Ergebnisse konnten im
zweiten Libanonkrieg gesehen werden.
Vom militärischen
Gesichtspunkt aus ist die Besatzung eine ernste
Bedrohung der Sicherheit des Staates.
DER OBERSTE Gerichtshof
ist nicht verschont geblieben. Früher haben
Meinungsumfragen gezeigt, dass die Öffentlichkeit die
Knesset verhöhnt und die Regierung verspottet, aber
den Obersten Gerichtshof als eine Bastion der Demokratie
und als eine Quelle des Stolzes respektierte.
Jetzt wird
offensichtlich, dass es dafür keine solide Basis gab. In
dem Augenblick, in dem der Oberste Richter Aharon Barak
sich aus dem Gerichtwesen zurückzog, versank das ganze
juristische System in einem Morast von Intrigen,
gegenseitiger Anklagen und sogar übler Nachrede. Nicht
nur in anonymen Internetblocks, sondern auch in den
Statements des neuen Justizministers, der von einem vom
persönlichen Korruptionsskandalen verfolgten
Ministerpräsidenten ernannt wurde.
Wie konnte das
geschehen?
Seit vielen Jahren hat
der Gerichtshof in einer Welt der Illusionen gelebt.
Die Richter verschlossen ihre Augen vor ihren eigenen
Taten. Während sie glaubten, eine Festung des
Liberalismus und der Demokratie zu sein, erlaubten sie
außergerichtliche Todesstrafen. Sie verschlossen ihre
Augen, während Folteranwendung zur Routine wurde. Sie
erschufen riesige Mengen sophistischer Argumente, um zu
beweisen, dass die monströse Mauer aus
Sicherheitsgründen notwendig sei und ignorierten dabei
die offensichtliche Tatsache, dass es ihr Hauptziel ist,
weiteres Land für die Siedlungen zu grabschen.
Als der Internationale
Gerichtshof in Den Haag seine einfache, klare und
unwiderlegbare Meinung äußerte, dass die Mauer das
Völkerecht und die verschiedenen Konventionen verletzt,
die auch Israel unterzeichnet hat, stimmte unser
Oberster Gerichtshof nicht damit überein.
Ein Gericht, das sich
auf einem Gebiet selbst belügt, kann nicht auf einem
anderen seine Integrität aufrecht erhalten. Die
„Bastion der Demokratie“ wurde untergraben und fällt
völlig in sich zusammen.
In der Zwischenzeit wird
das Gesetzesbuch mit rassistischer Gesetzgebung
besudelt: angefangen mit dem Gesetz, dass es
israelischen Bürgern verunmöglicht mit ihren
palästinensischen Ehepartnern in Israel zu leben, bis zu
jenem Erlass, der in dieser Woche die Zustimmung der
Knesset in erster Abstimmung erhalten hat, und der es
mit den Stimmen von nur 80 Knessetmitgliedern gestattet,
ein jedes Knessetmitglied aus der Knesset
auszuschließen, dass es wagen sollte, Kritik an einem
Minister des Kabinetts oder einem hochrangigen
Armeeangehörigen zu äußern, und zwar gleich, ob dies im
Parlament oder außerhalb desselben geschieht.
ES KANN nicht verleugnet
werden: 40 Jahre Besatzung haben den Staat Israel bis
zur Unkenntlichkeit verändert.
Das stimmt für alle
Lebensbereiche. Alle sind davon betroffen worden.
Die 18Jährigen, die von
anständigen Eltern als Menschen mit moralischen Werten
erzogen worden waren, werden zum Militär eingezogen und
werden so zu einem Teil der brutalen Subkultur ihrer
Einheiten. Sie werden indoktriniert, dass jeder brutale
Akt gegen Araber gerechtfertigt sei. Nur wenige und
besondere Individuen sind in der Lage, sich dem Druck zu
entziehen. Nach drei Jahren Militärdienst verlässt die
Mehrheit die Armee als harte Männer mit abgestumpften
Gefühlen. Die Brutalität in unsern Straßen, das
routinemäßige Töten rund um unsere Diskotheken, die
Verbreitung von Vergewaltigungen und die Gewalt
innerhalb der Familien – all dies wurde zweifelsohne
durch die tägliche Realität der Besatzung beeinflusst.
Schließlich wird diese ja durch dieselben Personen
realisiert.
Ein Polizist, der nach
Hebron und an den Hawara-Kontrollpunkt gesandt wird, und
der die Bewohner dort wie minderwertige Geschöpfe
behandelt, der wie ein Sadist handelt oder den Sadismus
seiner Kameraden duldet – wird er zu einer anderen
Person, wenn er nach Tel Aviv, Haifa oder Shfa’ram
zurück versetzt wird? Wird er am nächsten Morgen
aufwachen und sich -wunderbarerweise - in einen
liebevollen Mitmenschen in einer demokratischen
Gesellschaft verwandelt haben ?
Seit Jahren lügen die
Sicherheitsdienste, die Polizei und die Armee über die
Dinge, die sich in den besetzten Gebieten ereignen. Das
Lügen wurde zur Routine. Nur wenige Journalisten in der
Welt akzeptieren fraglos diese Statements. Und wenn man
sich ans Lügen in einem Sektor gewöhnt hat, kann die
Verlogenheit woanders nicht aufgehalten werden. Die
Lügner der Armee, der Polizei und der anderen Dienste
haben sich daran gewöhnt, auch in anderen
Angelegenheiten zu lügen.
In den besetzten
Gebieten herrscht die Korruption. Angehörige der
Militärverwaltung legen ihre Uniform ab und führen dort
zweifelhafte Geschäfte. Kapitalistische Raubritter
profitieren auch davon . Natürlich ist dies nicht die
einzige Quelle der Korruption, die sich zu einem Fluch
unseres Staates entwickelt hat, aber es handelt sich
sicher um einen mitwirkenden Faktor.
DIE BESATZUNG schafft
Fäulnis, die durch alle Poren des nationalen Organismus
dringt.
Nach 40 Jahren gibt es
wenig Ähnlichkeit zwischen dem Staat Israel, wie er
heute ist und dem, wie die Gründer in ihrer Phantasie
ihn sich vorgestellt haben: ein Modell sozialer
Gerechtigkeit, der Gleichheit und des Friedens. Die
Gründer träumten von einer modernen, aufgeklärten,
säkularen, liberalen, sozial fortschrittlichen
Gesellschaft mit blühender Wirtschaft, die allen zugute
kommt. Die Realität, wie wir sie kennen, sieht total
anders aus.
Es stimmt wohl, dass man
der Besatzung nicht alle Schuld zuschieben kann. Auch
vor 1967 war der Staat längst nicht perfekt. Aber die
Gesellschaft hatte das Gefühl, dass dies eine
vorübergehende Situation wäre. Die Dinge können
repariert und verbessert werden. Als die israelische
Republik zu einem israelischen Empire wurde, begann die
dramatische Veränderung.
AM ENDE DES
Sechs-Tage-Kriegs salutierte uns die ganze Welt. Der
kleine tapfere David hatte gegen Goliath gesiegt. Nun
werden wir als der gemeine, brutale Goliath angesehen.
Der gegen Israel
angekündigte Boykott verschiedener ausländischer
Organisationen, sollte ein Warnlicht aufleuchten lassen.
In der Unabhängigkeitserklärung der USA schrieb Thomas
Jefferson, dass sich jede Nation mit einer "geziemenden
Achtung vor den Meinungen des Menschengeschlechts"
verhalten solle. Das war nicht nur eine Sache der Moral,
sondern auch des praktischen gesunden
Menschenverstandes. Eine von unserer Seite aufrecht
erhaltene Besatzung, die das Völkerrecht verletzt,
spuckt den "Meinungen des Menschengeschlechts" ins
Gesicht.
Von Israel erwartet man
anderes als vom Kongo und Sudan. Aber seit Jahren sehen
Hunderte Millionen Menschen fast täglich mit an, wie
Israel in der Gestalt von bis an die Zähne bewaffneten
Besatzungssoldaten, eine hilflose Bevölkerung brutal
misshandelt. Die aufgestaute Wirkung dieser Bilder wird
nun deutlich.
Man kann der Meinung der
Weltöffentlichkeit mit Verachtung begegnen – im Sinne
von Stalins Frage: „Wie viel Divisionen hat der Papst?“.
Doch das ist dumm. Die internationale Meinung kann auf
tausend verschiedene Weisen zum Ausdruck kommen. Sie
beeinflusst die Politik der Regierungen und der zivilen
Gesellschaft. Die Versuche eines Boykotts sind nur ein
frühes Symptom.
Aber jenseits all der
schlimmen Dinge, die die Besatzung über Israel gebracht
hat – innerhalb und außerhalb – gibt es etwas, das uns
alle betrifft. Jeder Mensch möchte stolz auf sein Land
sein. Die Besatzung nimmt uns diesen Stolz.
AM VIERZIGSTEN
Jahrestages der Besatzung von Ost-Jerusalem wollte ein
ausländischer Fernsehsender mit mir im muslimischen
Viertel der Altstadt ein Interview machen. Wir gingen in
die Via Dolorosa, den sog. Kreuzweg. Die Straße war fast
leer. Die Geschäftleute von Läden mit Antiquitäten,
wertvollen Teppichen und Souvenirs standen mit
verzweifelten Gesichtern auf ihren Türschwellen und
versuchten, uns hineinzulocken.
Von Zeit zu Zeit ging
eine kleine Gruppen Touristen vorbei. Jede Gruppe war
von vier Sicherheitsbeamten in weißen Uniformen
begleitet, zwei vor der Gruppe und zwei am Ende und
jeder hielt eine geladene Pistole schussbereit in der
Hand. So geht man heute durch die Straße.
Das ist die Realität des
„vereinigten und unteilbaren Jerusalem, der ewigen
Hauptstadt Israels“ - so der offizielle Slogan 40 Jahre
nach seiner „Befreiung“.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom
Verfasser autorisiert)