Wie sie uns die Bombe
gestohlen haben
Uri Avnery, 8.12.07
ES WAR, als
ob eine Atombombe auf Israel gefallen wäre.
Die Erde bebte. Unsere
politischen und militärischen Führungskräfte standen unter
Schock. Die Schlagzeilen schrieen vor Wut auf.
Was ist geschehen?
Etwas Katastrophales: der
amerikanische Geheimdienst, der aus 16 verschiedenen
Agenturen besteht, hat ein einstimmiges Urteil gefällt:
schon 2003 beendeten die Iraner ihre Bemühungen, eine
Atombombe zu bauen, und sie haben diese Bemühungen seitdem
nicht wieder aufgenommen. Selbst wenn sie in Zukunft ihre
Meinung ändern würden, dann bräuchten sie noch fünf Jahre,
um ihr Ziel zu erreichen.
SOLLTEN wir darüber nicht
überglücklich sein? Sollte Israels Bevölkerung nicht auf
den Straßen tanzen wie am 29.November 1947 – vor 60 Jahren?
Schließlich sind wir nun so gut wie gerettet!
Bis zu dieser Woche haben wir
regelmäßig gehört, dass die Iraner eine Bomben produzieren
wollen, die jeden Augenblick unsre bloße Existenz bedroht.
Nichts weniger als das. Mahmoud Ahmadinejad, der neue Hitler
des Nahen Ostens, der jeden zweiten Tag verkündet, Israel
müsse von der Landkarte verschwinden, war im Begriff, seine
eigene Prophetie zu erfüllen.
Eine kleine Atombombe, selbst so
eine winzige, wie die, die 1945 über Japan fallen gelassen
wurde, würde genügen, das ganze zionistische Unternehmen
auszulöschen. Wenn sie auf Tel Avivs Rabin-Platz fallen
würde, würde das wirtschaftliche, kulturelle und
militärische Zentrum Israels in einer schwarzen Pilzwolke
verdampfen – zusammen mit Tausenden von Juden. Ein zweiter
Holocaust.
Und sieh da – keine Bombe und
kein „Jede-Minute“! Der böse Ahmadinejad kann uns, so viel
er will, bedrohen – er hat gar nicht die Mittel dazu, um uns
zu schaden. Ist das nicht ein Grund zum Jubeln und Feiern?
Warum sieht es denn wie ein
nationales Unglück aus?
EIN 2-CENT- Psychologe ( wie
ich) könnte sagen: Juden haben sich an die Angst gewöhnt.
Nach Hunderten von Jahren voller Verfolgung, Vertreibungen,
Inquisition, Pogromen und dem Holocaust haben wir in unsern
Köpfen kleine rote Warnlämpchen, die schon bei geringsten
Anzeichen von sich nähernder Gefahr aufleuchten. An solch
eine Situation sind wir gewöhnt. Wir wissen, was wir tun
müssen.
Aber wenn diese Lichter
ausbleiben und keine Gefahr am Horizont auftaucht, dann
haben wir das Gefühl, dass irgendetwas Verdächtiges
passiert. Da stimmt irgend etwas nicht. Vielleicht sind die
Lämpchen nicht in Ordnung. Vielleicht ist es in Wirklichkeit
eine Falle!
Es gibt in dieser Situation
eine kleine Befriedigung . Während die unmittelbare Gefahr
der Auslöschung noch einmal vorüberging, haben wir das
Gefühl, allein zu sein, wieder einmal allein.
Das ist ein anderes Anzeichen
jüdischer Einzigartigkeit: wir sind vor aller Welt allein.
Genau wie in den Tagen des Holocaust haben uns die Goyim im
Stich gelassen. Angesichts des iranischen Monsters, das uns
zu verschlingen droht, stehen wir hier allein.
All unsere Medien wiederholen
dies unisono wie ein Orchester, das keinen Dirigenten
braucht, weil es die Musik auswendig kennt.
Es stimmt, auch andere Völker
können Genugtuung aus dem Alleinsein ziehen. Meinem
Gedächtnis hat sich ein britisches Poster eingeprägt, das an
den Mauern Palästinas hing, als in der dunklen Zeit nach
Frankreichs Besetzung durch die Nazis die Briten ganz allein
im Krieg waren. Unter dem ernsten Gesicht Winston Churchills
stand der Slogan: „Nun denn : alleine!“
Doch bei uns ist das fast zu
einem nationalen Ritus geworden. Wie wir in den guten alten
Zeiten von Golda Meir sangen: „Die ganze Welt ist gegen uns/
das ist eine alte Melodie,/ und jeder der gegen uns ist/
lass ihn zur Hölle gehen…“
Zu jener Zeit hat eine
Theatergruppe dies sogar zu einem Volkstanz gemacht.
In den letzten paar Jahren hatte
sich eine riesige Koalition gegen den Iran formiert. Die
iranische Bombe wurde zum Kernstück eines internationalen
Konsens, der von Amerika, der Königin der Welt, angeführt
wurde. Im Einvernehmen all seiner fünf permanenten
Mitglieder hat der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen
Teheran verhängt.
Vor unsern Augen fällt diese
Koalition nun aus einander. Präsident Bush kommt ins
Stottern. Der Vorwand für einen amerikanischen militärischen
Angriff besteht nicht mehr – der Wunschtraum der
israelischen Regierung und der Neocons. Sogar der Vorwand
für noch strengere Sanktionen besteht nicht mehr. Wer weiß
– vielleicht werden in nächster Zukunft sogar die
bestehenden schwächeren Sanktionen aufgelöst werden.
DIE ERSTE Reaktion der
israelischen Führung war energisch und bestimmt: totale
Leugnung.
Der amerikanische Bericht ist
einfach falsch, verkündeten alle Medien. Er gründe sich auf
falsche Informationen. Unsere eigenen Nachrichtendienste
haben viel genauere Daten, die beweisen, dass an der Bombe
weiter gebaut werde.
Wirklich ? Alle Informationen
des Mossad gehen automatisch zur CIA. Sie sind ein Teil der
Masse von Dateien, auf die sich der amerikanische Bericht
stützt. Man muss auch daran denken, dass der veröffentlichte
Teil des Berichtes nur 3% des ganzen Dokumentes darstellt.
Also dann lügen die
amerikanischen Nachrichtendienste bewusst. Da kann man
sich der Schlussfolgerung nicht erwehren, dass trübe
politische Motive hinter ihren eindeutigen Befunden
liegen. Vielleicht wollen sie ihre falschen Berichte, auf
die Präsident Bush seine Invasion in den Irak zu
rechtfertigen versuchte, ausgleichen. Damals haben sie
übertrieben – jetzt untertreiben sie. Vielleicht wollen sie
sich an Bush rächen und glauben, die Zeit sei reif, zumal er
zu einer lahmen Ente geworden ist. Oder sie schließen sich
der allgemeinen amerikanischen Meinung an, der es nicht nach
noch einem Krieg zumute ist. Und natürlich sind ihre
Verantwortlichen Antisemiten.
Selbst wenn die amerikanischen
Geheimdienste in ihrer Naivität glauben, dass der Iran die
Arbeit an der Bombe eingestellt hat, zeigt es nur, dass
auch sie etwas zu naiv sind. Sie können sich nicht
vorstellen, dass die Iraner sie täuschen. Wer weiß das
besser als wir, wie leicht es ist, eine Atombombe zu
verstecken und die ganze Welt zu täuschen. Und wir taten
dies jahrelang.
Doch all dies ändert nichts an
der Tatsache: dass dieser Bericht der amerikanischen
Politik eine neue Richtung gibt und die ganze internationale
Konstellation verändert.
Der Krieg gegen den Iran, der
das entscheidende Ereignis für 2008 werden sollte, wird
vorläufig zu einem Nicht-Ereignis.
WELCHES SIND die Folgen soweit
es Israel betrifft? Warum stehen unsere verantwortlichen
Politiker seit der Veröffentlichung des Berichtes unter
Schock ?
Die Möglichkeit eines
unabhängigen israelischen Militärschlages gegen den Iran
ist verschwunden. Israel kann keinen Krieg ohne den
uneingeschränkten Rückhalt der USA führen. Wir versuchten es
einmal – den Sinaikrieg 1956 – dann gab uns Präsident Dwight
Eisenhower eine Ohrfeige. Seitdem bemühen wir uns sehr, vor
jedem Krieg den Segen der USA zu bekommen.
Was unser Militär und die
Nachrichtendienste betrifft, so ist der Bericht auch aus
einem anderen Grund noch eine absolute Katastrophe. Die
iranische Bombe spielt beim jährlichen Kampf um ein
massives Stück des Budgetkuchens eine unentbehrliche Rolle.
Für rechte Demagogen ist die
Auswirkung noch entmutigender. Binyamin Netanjahu hatte
seine ganze Strategie auf die iranische Hysterie gebaut und
hoffte, auf der Bombe direkt zum Ministerpräsidentenamt zu
reiten.
Abgesehen davon - wenn das
iranische Problem keine Rolle mehr spielt, dann wird das
palästinensische eine größere Rolle spielen. Das trifft
besonders für Washington DC zu . Präsident Bush ist in
Schwierigkeiten; sein Fiasko in Afghanistan und im Irak geht
weiter. Jede amerikanische Bemühung, im Irak mit seiner
schiitischen Mehrheit eine stabile Regierung zu
installieren, hängt vom Rückhalt des schiitischen Iran ab.
Bushs Traum von einem Blitzkrieg gegen den Iran – und so der
Geschichte seinen Stempel aufzudrücken - hat sich in
Wohlgefallen aufgelöst.
Was kann er noch tun, um irgend
ein positives Vermächtnis zu hinterlassen? Die einzige
Alternative ist der israelisch-palästinensische Frieden.
Vielleicht gibt er jetzt der armen Condoleezza mehr
Rückhalt. Vielleicht wird er sich selbst mehr einbringen.
Tatsache ist: Er wird Israel nächstens zum ersten Mal
während seiner Präsidentschaft besuchen.
Diese Bemühung wird zwar keine
großen Erfolgsaussichten haben, aber die Leute in Jerusalem
sind trotzdem besorgt. Das hat uns gerade noch gefehlt –
Bush wird es, wie Jimmy Carter, dieser Antisemit, machen,
der Begin so lange den Arm verdrehte, bis er Frieden mit
Ägypten machte.
Was also tun? Man kann die
israelischen Diplomaten im Ausland dahingehend
instruieren, ihre Bemühungen zu verdoppeln, um die
Regierungen davon zu überzeugen, dass sich die Situation
nicht verändert hat, dass man gegen die Bombe kämpfen muss –
ob sie existiert oder nicht. Aber sagen sie das den Russen
und Chinesen! Die Regierungen der Welt sind glücklich, dass
sie endlich den Druck von Seiten Bushs los sind – alle, bis
auf das „glückliche Paar“, Nicolas Sarkozy und Angela
Merkel, die Tony Blairs Rolle - Pudel des Weißen Hauses zu
sein - übernommen haben .
DIE NEUE Situation bedeutet auch
für Ehud Olmert ein schweres Dilemma.
Auf dem Rückflug von Annapolis
gab er erstaunliche Äußerungen von sich. Wenn die
„Zwei-Staaten“-Lösung nicht realisiert wird, dann „wird der
Staat Israel zusammenbrechen“, erklärte er. Keiner im
Friedenslager hat je gewagt, so weit zu gehen.
Glaubt er, was er sagt, oder ist
es nur eine neue Schönrederei. Das ist die Frage, die
augenblicklich den Diskurs in Israel bestimmt. In andern
Worten: geht es ihm nur darum, Zeit zu gewinnen, oder ist
er wirklich dabei, an einem Friedensabkommen zu arbeiten?
Alle Anzeichen scheinen darauf
hinzudeuten, dass er nicht in der Lage ist, irgend einen
Schritt zu machen. Wenn er versucht, die erste Phase der
Road Map durchzuführen und einige Siedlungsposten auflöst,
wird sich ihm nicht nur die entschlossene Opposition der
Siedler und ihrer Unterstützer und die stille (aber sehr
wirksame) Opposition des Militärs entgegenstellen, sondern
auch eine Blockierung durch seine Regierungskollegen. Bevor
der erste Außenposten aufgelöst ist, wird die Koalition
auseinanderbrechen.
Olmert hat keine andere
Koalition zur Hand. Ehud Barak versucht immer wieder seine
rechte Flanke zu umgehen. In einer Krise kann man sich
nicht auf ihn verlassen. Die Laborpartei ist chaotisch, ohne
Rückgrat und skrupellos. Die zusammengeschrumpfte
Meretz-Partei besteht nur aus fünf Knessetmitgliedern; vier
von ihnen konkurrieren um die Parteiführung. Die zehn
Mitglieder der arabischen Fraktion – so nennt man sie
gewöhnlich, obwohl eines der Knesset-Mitglieder von Hadash
ein Jude ist – sind die Ausgestoßenen. Keine „zionistische“
Regierung würde sich offen auf ihre Unterstützung verlassen
wollen. Und in Olmerts eigener Fraktion sind einige
rechtsextreme Mitglieder, die jede Friedensbemühung
sabotieren würden.
In solch einer Situation ist das
normale Verhalten eines „wirklichen“ Politikers wie Olmert:
nichts zu tun, Erklärungen nach links und nach rechts (im
doppelten Sinne) zu geben und zu versuchen, Zeit zu
gewinnen.
In der vergangenen Woche
verkündete die Regierung Pläne, 300 neue Wohnungen im
hässlichen Har Homa, nahe Jerusalem, zu bauen. Für jemanden
wie mich, der Tage und Nächte gegen den Bau dieser
besonderen Siedlung demonstriert hat, ist das besonders
bitter. Es weist nicht auf eine bessere Wendung hin.
Andrerseits kam mir eine
interessante These von jemandem aus dem inneren Zirkel
Olmerts zu Ohren. Danach mag sich Olmert, der weiß, dass er
die Macht verliert, sagen: Wenn ich fallen muss, warum dann
nicht als jemand in die Geschichte eingehen, der sich selbst
auf dem Altar eines erhabenen Prinzips geopfert hat, statt
nur als politischer Nichtsnutz zu verschwinden.
Wenn er keinen anderen Ausweg
hat, mag er diese Lösung wählen – um so mehr, als seine
eigene Familie ihn in diese Richtung drängt.
Ich würde diese Möglichkeit als
„unwahrscheinlich“ einschätzen – aber es sind schon
seltsamere Dinge geschehen.
Vielleicht sollten die
Friedenskräfte ihre verständlichen Vorbehalte überwinden
und versuchen, die öffentliche Meinung in einer Weise zu
beeinflussen, die Olmert hilft, sich in diese Richtung zu
wenden.
So oder so, eines ist sicher:
dieser Schuft, Ahmadinejad, hat uns noch einmal übers Ohr
gehauen.
Er hat unsern kostbarsten
Besitz geraubt, die iranische Atombedrohung.
(Aus
dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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