Der palästinensische Mandela
Uri Avnery,
15.8.07
DIE TEILUNG der
palästinensischen Gebiete in Hamastan im Gazastreifen
und Fatahland auf der Westbank ist eine Katastrophe.
Eine Katastrophe für die
Palästinenser, eine Katastrophe für den Frieden und
deshalb auch eine Katastrophe für die Israelis.
Die israelische, politische
und militärische Führung ist glücklich über diese
Teilung, entsprechend der Doktrin „was schlecht für die
Palästinenser ist, ist gut für Israel“. Diese Doktrin
leitete die zionistische Politik von Anfang an. Chaim
Arlosoroff, der zionistische Führer, der 1933 am Strand
von Tel Aviv ermordet wurde, verurteilte in seiner
letzten Rede schon diese Doktrin: „Nicht alles, was für
die Araber schlecht ist, ist für die Juden gut – und
nicht alles, was für die Araber gut ist, ist schlecht
für die Juden.“
WERDEN DIE Palästinenser
diese Teilung überwinden?
Es sieht so aus, als würden
die Chancen dafür von Tag zu Tag kleiner. Die Kluft
zwischen beiden Parteien wird immer breiter.
Die Fatahleute in der
Westbank - mit Präsident Mahmoud Abbas an ihrer Spitze -
verurteilen die Hamas als Bande von Fanatikern, die den
Iran imitieren und von ihm geleitet werden und die, wie
die Ayatollahs, ihr Volk ins Unglück führen.
Die Hamasleute dagegen
klagen Abbas an, ein palästinensischer Marschall Petain
zu sein, der mit dem Besatzer einen Bund gemacht hat und
sein Volk den schlüpfrigen Hang der Kollaboration
hinabführt.
Die Propaganda beider Seiten
ist voller Gehässigkeit, und die Gewalt gegeneinander
erreicht neue Höhen.
Es sieht wie eine Sackgasse
aus. Viele Palästinenser sind verzweifelt, da sie keinen
Ausweg finden. Andere suchen nach kreativen Lösungen.
Afif Safieh, der Chef der palästinensischen Vertretung
in Washington, schlägt z.B. vor, eine palästinensische
Regierung aus völlig neutralen Experten zu bilden, die
weder Mitglieder bei der Fatah noch bei der Hamas sind.
Die Chancen dafür sind allerdings sehr gering.
Aber bei privaten Gesprächen
in Ramallah taucht immer öfter ein Name auf: Marwan
Barghouti.
„Er hält den Schlüssel in
der Hand“, sagen sie dort, „für beide Konflikte, für den
Fatah-Hamas-Konflikt und den
israelisch-palästinensischen.
EINIGE SEHEN Marwan als den
palästinensischen Nelson Mandela.
Ihrer Erscheinung und in
ihrem Auftritt nach sind die beiden sehr verschieden,
physisch und in ihrem Temperament. Aber sie haben auch
viel Gemeinsames.
Beide wurde im Gefängnis zu
Nationalhelden. Beide wurde wegen Terrorismus angeklagt.
Beide unterstützen den gewalttätigen Kampf. Mandela
unterstützte 1961 die Entscheidung des Afrikanischen
Nationalkongresses, einen bewaffneten Kampf gegen die
rassistische Regierung (aber nicht gegen weiße
Zivilisten) zu beginnen. Er blieb 28 Jahre im Gefängnis,
weil er sich weigerte,, seine Freilassung mit einer
Erklärung zu erkaufen, in der er auf Gewalt verzichtet
hätte. Marwan unterstützte den bewaffneten Kampf der
Fatah-Tanzim-Organisation und ist deshalb zu mehrfach
lebenslänglich verurteilt worden.
Aber beide sind für Frieden
und Versöhnung – auch bevor sie ins Gefängnis gingen.
Ich sah Barghouti zum 1. Mal 1997, als er sich einer
Gush-Shalom-Demo in Harbata, einem Dorf in der Nähe
Bilins, anschloss. Es war eine Demo gegen den Bau der
Modiin-Illit-Siedlung, mit dem gerade angefangen worden
war. Fünf Jahre später demonstrierten wir während seiner
Gerichtsverhandlung im Gericht mit dem Slogan:
„Barghouti an den Verhandlungstisch, nicht ins
Gefängnis!“
LETZTE WOCHE besuchten wir
Marwans Familie in Ramallah.
Ich hatte Fadwa Barghouti
zum ersten Mal bei der Beerdigung von Yasser Arafat
getroffen. Ihr Gesicht war feucht von Tränen. Wir
standen mitten in der Menge der Trauernden, und der Lärm
um uns war ohrenbetäubend; wir konnten also nur wenige
Worte mit einander austauschen.
Dieses Mal war sie ruhig und
beherrscht. Sie lachte nur, als sie hörte, dass Teddy
Katz, ein Gush-Shalom-Aktivist, der bei dem Treffen
teilnahm, einen Zehennagel für Marwan geopfert hatte:
während unseres Protestes im Gericht waren wir
gewalttätig von der Gerichtspolizei angegriffen worden,
und einer war kräftig mit seinen Stiefeln auf Teddys Fuß
in einer Sandale getreten.
Fadwa Barghouti ist von
Beruf Anwältin und Mutter von vier Kindern (drei Söhnen
und einer Tochter). Der Älteste, Kassem, war auch schon
ein halbes Jahr im Gefängnis gewesen – ohne
Gerichtsverhandlung. Sie ist eine gepflegte Person mit
dunkelblonden Haaren ( „Alle Familienmitglieder, außer
Marwan sind blond,“ erklärte sie und fügte mit einem
seltenen Lächeln hinzu, „vielleicht wegen der
Kreuzfahrer“.)
Die Barghoutis sind eine
große Hamula (eine weitläufige Familie), die sechs
Dörfer in der Nähe Bir Zeit bewohnen. Dr. Mustafa
Barghouti, der für sein Engagement für Menschenrechte
bekannte Arzt, ist ein entfernter Verwandter. Marwan und
Fadwa, die auch eine geborene Barghouti ist – stammen
aus Kobar.
Marwan Barghoutis Familie
lebt in einer netten Eigentumswohnung. Auf meinem Weg
dorthin fiel mir die große Bautätigkeit in Ramallah auf.
Es sieht so aus, als würden an jeder Ecke neue Häuser
entstehen, einschließlich Geschäftshochhäuser.
Neben der Wohnungstür
wünscht ein gestickter Gruß auf Englisch: „Willkommen in
meiner Wohnung!“ Die Wohnung selbst ist mit vielen Fotos
und Zeichnungen von Barghouti geschmückt, auch eine
große Zeichnung, die von einem bekannten Foto inspiriert
wurde: es zeigt Marwan im Gericht, wie er seine in
Handschellen gefesselten Hände wie ein siegreicher
Boxer über seinem Kopf hält. Als die Sicherheitskräfte
nach ihm suchten, nahmen sie drei Tage lang die Wohnung
in Besitz und hissten eine große israelische Fahne auf
dem Balkon.
Fadwa ist eine der wenigen
Personen, die ihn besuchen dürfen. Nicht als Anwältin,
sondern nur als „nahe Verwandte“ - eine Definition,
die Eltern, Ehepartner, Geschwister und Kinder unter 16
einschließen.
Im Augenblick sind etwa 11
000 palästinensische Gefangene in israelischen
Gefängnissen. Wenn man annimmt, dass zu „nahen
Verwandten“ im Durchschnitt fünf Personen zählen, dann
wären es 55 000 mögliche Besucher. Doch auch diese
benötigen für jeden Besuch eine Genehmigung, und viele
werden aus „Sicherheitsgründen“ abgewiesen. Auch Fadwa
benötigt für jeden Besuch eine Genehmigung, die ihr nur
erlaubt, direkt zum Gefängnis und zurück zu fahren –
ohne irgendwo in Israel zu halten. Den drei Söhnen ist
es nicht erlaubt, ihren Vater zu besuchen, da alle drei
inzwischen älter als 16 sind. Nur die junge Tochter darf
ihn besuchen.
ES GIBT kaum jemand, der
beim palästinensischen Volk so populär ist wie Marwan
Barghouti. In diesem Punkt ähnelt er auch Mandela,
während er im Gefängnis saß.
Die Ursache seiner Autorität
ist schwierig zu erklären. Sie kommt nicht von seiner
hohen Position in der Fatah, da die Bewegung nicht
durchorganisiert ist, und es kaum eine klare Hierarchie
gibt. Seit der Zeit als er noch ein einfacher Aktivist
in seinem Dorf war, kam er nur dank seiner
Persönlichkeit in der Organisation hoch. Es ist jenes
Mysteriöse, das man Charisma nennt. Er strahlt eine
ruhige Autorität aus, die nicht von äußerlichen Zeichen
abhängig ist.
Der Diffamierungskrieg
zwischen Fatah und Hamas berühren ihn nicht. Die Hamas
achtet darauf, ihn nicht anzugreifen. Im Gegenteil, als
diese eine Liste von Gefangenen zum Austausch mit dem
gefangenen Soldaten Gilad Shalit aufstellte, stand
Marwan Barghouti - obwohl ein Fatahführer - als erster
auf der Liste.
Er war es, der zusammen mit
den gefangenen Führern anderer Organisationen das
berühmte „Gefangenen-Dokument“ zusammenstellte, das zu
nationaler Einheit aufrief. Alle palästinensischen
Fraktionen akzeptierten dieses Dokument. Das war die
Basis für das „Mekka-Dokument“, das die (kurzlebige)
Regierung der nationalen Einheit schuf. Bevor es von
den Parteien unterzeichnet wurde, wurden eilige Boten zu
Marwan gesandt, um sein Einverständnis zu erhalten. Erst
als dies gegeben worden war, unterzeichneten es auch die
anderen.
MEINEN BESUCH in Ramallah
nütze ich auch aus, um einen Eindruck der Meinungen von
Barghoutis Anhängern zu bekommen. Sie versuchen, nicht
vom Klima des gegenseitigen Hasses mitgerissen zu
werden, das gerade die Führung beider Seiten beherrscht.
Einige von ihnen sprechen
sich deutlich gegen die Aktionen von Hamas aus, doch
versuchen sie, die Ursachen zu verstehen. Nach ihnen
waren Hamasleute im Gegensatz zu Fatahleuten nie im
Westen gewesen und haben keine ausländischen
Universitäten besucht. Ihre geistige Welt wurde durch
das religiöse Bildungssystem geformt. Ihr Horizont ist
ziemlich eng. Die komplexe internationale Situation, in
der die palästinensische Befreiungsbewegung zu
operieren sich gezwungen sieht, ist ihnen ziemlich
fremd.
Bei den letzten Wahlen
hoffte die Hamas 35-40% der Stimmen zu gewinnen, um so
die Legitimität ihrer Bewegung zu stärken, erklärten mir
meine Gesprächspartner. Sie war vollkommen überrascht,
als sie die Mehrheit erhielten. Sie wusste nicht, was
sie damit anfangen sollte. Sie hatte keine fertigen
Pläne. Es war ein Fehler ihrerseits, auf eine Regierung
zu setzen, die nur aus Hamasmitgliedern bestand, statt
auf einer Einheitsregierung zu bestehen. Sie hatten die
internationale und israelische Reaktion falsch
eingeschätzt.
Marwans Anhänger schrecken
nicht vor Selbstkritik zurück. Ihrer Meinung nach ist
Fatah nicht ohne Schuld an dem, was im Gazastreifen
passierte. Die Bewegung hatte nicht weise gehandelt, als
sie Hamasführer verhaftete und demütigte. Zum Beispiel
verhaftete sie Mahmoud al-Zahar, den Außenminister der
Hamasregierung, demütigte ihn, indem sie ihm den Bart
abschnitt und ihn beim Namen einer berühmten ägyptischen
Tänzerin nannte. Dies ist einer der Gründe für den
brennenden Hass al-Zahars und seiner Kollegen gegen die
Fatah.
Ich hörte keine Dementis zur
Behauptung von Hamas, dass Muhammed Dahlan, der frühere
Vertraute und Sicherheitsberater von Mahmoud Abbas,
zusammen mit den Amerikanern einen Militärcoup geplant
hatte. Dahlan, der Liebling der Amerikaner (und der
Israelis), glaubte, ihrer Meinung nach, dass er, wenn er
mit Waffen und Geld ausgerüstet wäre, den Gazastreifen
übernehmen könnte. Das brachte die Hamas zu der
Entscheidung, zuerst zu handeln und selbst einen
bewaffneten Schlag auszuführen. Da die Mehrheit der
Öffentlichkeit die Hamas unterstützte und Dahlan
verachtete, der der Kollaboration mit der Besatzung
bezichtigt wurde, gewann die Hamas leicht. Dahlan war
von Abbas ins Exil geschickt worden.
Das Zentrum von Hamas liegt
im Gazastreifen. Dies ist das Problem von Khaled Mashal,
dem Hamasführer, der in Damaskus lebt. Im Gegensatz zu
seinen beiden Vertretern, hat er keine Wurzeln im
Gazastreifen. Deshalb benötigt er Geld, um seine
Stellung dort zu stärken. Er erhält es aus dem Iran.
(Ich hätte hier gern einige
Eindrücke der Gesichtspunkte der Hamas gegeben, aber es
ist ganz unmöglich, den Gazastreifen zu betreten,
während unsere Hamas-Gesprächspartner von Ostjerusalem
alle ins israelische Gefängnis geschickt worden waren.)
WIE WOLLEN die Palästinenser
aus dieser Klemme herauskommen? Wie können sie noch
einmal eine nationale Führung aufbauen, die von allen
Teilen der Bevölkerung in der Westbank und im
Gazastreifen akzeptiert werden wird, und die in der Lage
ist, den nationalen Kampf zu führen und mit Israel
Frieden zu machen, wenn Frieden möglich wird ??
Barghoutis Anhänger glauben,
dass im richtigen Augenblick, wenn Israel zu der
Schlussfolgerung kommt, dass es Frieden braucht, er aus
dem Gefängnis entlassen wird und eine zentrale Rolle bei
der Versöhnung spielen wird – ähnlich wie Mandela, der
aus dem Gefängnis in Südafrika entlassen wurde, als die
weiße Regierung zu dem Schluss kam, dass das
Apartheidregime nicht länger aufrecht erhalten werden
konnte. Um uns in solch eine Situation zu bringen,
müssten die israelischen Friedenskräfte schon jetzt eine
große öffentliche Kampagne für Barghoutis Entlassung
starten.
Was wird unterdessen
geschehen?
Kaum einer auf der
palästinensischen Seite glaubt, dass Ehud Olmert ein
Friedensabkommen schließen und dieses danach auch
erfüllen wird. Kaum einer glaubt, dass irgendetwas bei
dem „Internationalen Treffen“ herauskommen wird, das
vermutlich im November stattfinden wird. Die
Palästinenser sind davon überzeugt, dass dies ein
Knochen ist, den Präsident Bush Condoleezza Rice
hinwirft, deren Stellung dramatisch sinkt.
Und wenn dieses keine
Resultate haben wird?
„Es wird kein Vakuum geben,“
sagte mir einer der Fatahführer, „wenn die Bemühungen
von Präsident Abbas keine Früchte bringt, dann gibt es
eine weitere Explosion wie die Intifada nach Camp
David.“
Wie ist das möglich, nachdem
die Fatahaktivisten ihre Waffen abgegeben und der
Gewalt abgeschworen haben? „Eine neue Generation wird
kommen,“ sagte mein Gesprächspartner, „so wie es vorher
geschehen ist – die eine Altersgruppe wird müde und die
nächste Gruppe wird ihren Platz einnehmen. Wenn die
Besatzung nicht zu einem Ende kommt und es keinen
Frieden gibt, einen Frieden, der die nächste Generation
zu den Universitäten, zur Familie, zur Arbeit und zum
Geschäft zurückkehren lässt, dann wird eine neue
Intifada ausbrechen.“
Um Frieden zu erreichen,
brauchen die Palästinenser nationale Einheit, genau so
wie die Israelis einen Konsens brauchen. Der Mann, der
für die Palästinenser die Hoffnung auf Einheit
symbolisiert, sitzt jetzt im Hasharon-Gefängnis.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)