Ein
dreifaches Hoch auf Kosova!
Uri Avnery, 23.2.08
EIN SERBE fährt auf der
Autobahn in der falschen Richtung und hört dabei Musik aus
dem Radio. Plötzlich wird das Programm von einer
dringenden Meldung unterbrochen: „Achtung! Ein verrückter
Fahrer fährt auf der Autobahn in die falsche Richtung!“
„Nur einer?“ fragt der Serbe,
„Alle fahren falsch!“
„Wow!“ der Gedanke kam mir in
den Sinn, als ein serbischer Freund mir diesen Witz
erzählte, „Wie sehr ähneln wir uns!“
Und in der Tat, so sehr die
Serben sich auch von den Israelis unterscheiden, so haben
wir anscheinend vieles gemeinsam. Beide Völker glauben, „die
ganze Welt sei gegen sie“. Beide sind vollkommen davon
überzeugt, dass sie absolut recht haben, auch wenn
andere das Gegenteil behaupten.
Wie die Israelis so sind auch
die Serben stets mit ihrer Vergangenheit beschäftigt. Für
sie wie für uns ist die Geschichte wichtiger als die
Gegenwart. Die Zukunft ist eine Geisel der Vergangenheit.
Vor vielen Jahrhunderten lebten
die Serben im Kosovo. Laut ihrer Version stand die Wiege
ihrer Kultur auf diesem Stück Land. Dort fand 1389 das
entscheidende Ereignis ihrer Geschichte statt: die große
Schlacht gegen die ottomanischen Türken. Dass die Serben
dabei eine deutliche Niederlage erfuhren, macht das
Andenken nicht geringer. Dass danach ein Volk albanischer
Abstammung in diesem Lande Wurzel fasste, tut auch nichts
zur Sache. In ihren Augen ist das Volk, das seit
Jahrhunderten dort lebt, ein fremdes Volk, das Land ist „das
Erbe ihrer Vorfahren“ und „gehört uns, weil unsere Religion
(die serbisch-orthodoxe) es so sagt.“ Das klingt doch
irgendwie bekannt, oder?
Im 2. Weltkrieg wurde das
Gefühl der Solidarität zwischen Serben und Juden
zementiert. Unser Gefühl war natürlich auf Seiten der
tapferen Partisanen. Die Juden, denen es gelang, die
befreiten Gebiete von Tito zu erreichen, waren vor dem
Holocaust gerettet. Serben und Juden wurden zusammen in den
kroatischen Konzentrationslagern ermordet, in denen es so
grausam zuging, dass selbst die SS-Offiziere schauderten,
wenn sie einen Besuch abstatteten.
Der Tod Titos und der
Zusammenbruch seines Regimes setzte dem Gefühl der
Solidarität kein Ende - im Gegenteil. Unsere Rechten
verliebten sich in Slobodan Milosevic. Ariel Sharon
unterstützte ihn öffentlich. Vielleicht mochte er die
Mischung von tief empfundener Opfermentalität und
gnadenloser Brutalität.
All dies erklärt die gemischten
Gefühle vieler Israelis gegenüber der
Unabhängigkeitserklärung von Kosova. ( wie die Kosovaren ihr
Land selbst nennen).
ICH FÜRCHTE, dass sich auch in
dieser Sache meine Ansichten von denen anderer Israelis
unterscheiden. Ich fühlte mit den Massen der albanischen
Kosovaren, die in dieser Woche auf den Straßen Pristinas
tanzten.
Sie erinnerten mich an die
Mengen, die vor 60 Jahren in den Straßen Tel Avivs feierten,
als die UN-Vollversammlung entschied, einen jüdischen Staat
zu gründen. (Er entschied zwar auch die Gründung eines
palästinensisch-arabischen Staates, aber das ist nahezu
vergessen worden).
In der vergangenen Woche hat
man in der ganzen Welt die Fragen debattiert: Haben die
Kosovaren das Recht, auf einen eigenen Staat – oder nicht?
Das Völkerrecht wurde analysiert, Präzedenzfälle geprüft,
wissenschaftliche Pro und Contra-Argumente erhoben.
Mir erscheint dies irrelevant.
Wenn eine Bevölkerung entscheidet, dass sie eine Nation ist,
sich wie eine Nation verhält und wie eine Nation kämpft –
nun, dann ist sie eine Nation und hat das Recht auf einen
Nationalstaat.
(Dies sagte ich einmal zu Golda
Meir in der Knesset. Sie hatte – wie üblich – die Existenz
einer palästinensischen Nation geleugnet und ihr berühmtes
Wort wiederholt „So etwas gibt es nicht.“ „Frau
Ministerpräsidentin“, antwortete ich ihr, „vielleicht haben
sie Recht, und die Palästinenser irren sich, wenn sie
glauben, sie seien eine Nation. Aber wenn Millionen Menschen
irrtümlich glauben, sie seien eine Nation, sich wie eine
Nation verhalten und wie eine Nation kämpfen – nun dann sind
sie eine Nation.“)
Dies ist der einzige Test, der
Gültigkeit hat. Und die Kosovaren haben diesen Test
bestanden. Deshalb gibt es eine kosovarische Nation, und sie
hat ein Recht auf einen Staat. Lang lebe die Republik
Kosova!
DIE HEBAMME der unabhängigen
Republik Kosova war der völkermordende Milosevic. Als er
entschied, eine mörderisch ethnische Säuberung durchzuführen
und Millionen von Kosovaren aus ihrem Land zu vertreiben,
setzte er dem Recht der Serben ein Ende, weiter über den
Kosovo zu regieren. Dies bewies noch einmal, wie recht
Thomas Jefferson hatte, als er in der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung „ ein anständiges Maß an Respekt
für der Meinung der Menschheit“ verlangte .
Milosevic, genau wie sein
Bewunderer Sharon, hatte nur Verachtung vor der Meinung der
Menschheit. Sie hatten beide Unrecht, genau wie Stalin, der
einmal verächtlich fragte: „Wie viele Divisionen hat der
Papst?“ Die Errichtung der Republik Kosovo ist eine Strafe
für Milosevic, genau wie die Staatsgründung Israels ein
Racheakt für Adolf Hitler war ( obwohl es die Palästinenser
sind, die den Preis zahlen mussten).
Das Gewissen der Menschheit war
empört über die monströse Vertreibung, und dieses Mal hatte
sie Divisionen oder wenigstens Geschwader. Die US-Luftwaffe
bombardierte Serbien und zwang Milosevic, mit der
entsetzlichen Operation aufzuhören. Die Kosovaren kehrten in
ihre Häuser zurück, und die Unabhängigkeit war nur noch
eine Sache der Zeit.
(Viele meiner Freunde waren
schockiert, als ich die Bombardierung unterstützte. Für sie
war alles, was die Nato oder die Amerikaner taten, von vorn
herein schlecht. Ich sagte ihnen, dass ich gegen Genozide
allergisch bin. Selbst wenn Gott einen Genozid verordnet
(wie nach der Bibel gegen die Amalekiter, die Kanaaniter und
die Perser in Esthers Zeit),bin ich dagegen. Um einen
Genozid zu verhindern, bin ich sogar bereit, den Teufel zu
unterstützen)
Die Lektion des Kosovo-Kapitels
ist einfach: seit dem 2. Weltkrieg kann man keinen
Völkermord mehr begehen, ohne dass sich das Gewissen der
Welt erhebt und dies zu verhindern versucht. Manchmal
geschieht dies spät, sogar erschreckend spät, aber am Ende
wird das Opfer wieder auf seinen Füßen stehen.
SOLLTE ISRAEL die
Unabhängigkeit des Kosovo anerkennen?
In der vergangenen Woche sah
ich ein Fernsehinterview mit dem Knessetmitglied Arjeh Eldad
der extremen Rechten. Einen Augenblick lang geriet ich fast
in Panik: es schien, als würde er die Unabhängigkeit des
Kosovo begrüßen. Aber sein nächster Satz beruhigte mich. Er
war absolut gegen die Anerkennung.
Wohin kommen wir?! Rief er aus.
Wenn sich die Provinz Kosovo vom serbischen Staat trennen
kann, was hindert Galiläa dann, sich von Israel zu trennen?
Die Mehrheit Galiläas ist arabisch und morgen werden sie
einen eigenen arabisch-galiläischen Staat fordern. Wenn es
den Kosovaren erlaubt ist, warum nicht den Palästinensern
innerhalb Israels ?
Die Parallele ist natürlich
absurd. Zunächst einmal, weil die Araber Israels nicht von
einer Trennung träumen. Im Gegenteil: sie fordern, in Israel
integriert zu werden. Der Beweis: als Eldads extrem-rechter
Kollege Avigdor Liebermann vorschlug, die Gebiete
aufzugeben, in denen die Araber die Mehrheit bilden, stand
kein arabischer Bürger auf, um diese Idee zu unterstützen.
Offensichtlich wollen sie Bürger Israels bleiben – aber mit
den gleichen Rechten.
Wer kann also mit den Kosovaren
verglichen werden – die Israelis oder die Palästinenser?
Das hängt vom Standpunkt des Beschauers ab. Israel kann
sagen: Kosovo ähnelt Israel. Es erklärte einseitig die
Unabhängigkeit, wie wir es 1948 taten. Aber die
Palästinenser auf der West Bank und im Gazastreifen können
behaupten, dass sie es sind, die den Kosovaren ähneln und
das Recht haben, ihre Unabhängigkeit zu erklären.
Tatsächlich hat einer der PLO-Führer Yasser Abed-Rabbo dies
schon gesagt. Doch sind beide Vergleiche irreführend– weder
Israel noch Palästina haben mit dem Kosovo wirklich
Ähnlichkeit.
ABER EINE allgemeinere Frage
stellt sich: Wann hat eine nationale Minderheit das Recht,
sich abzutrennen und einen eigenen Staat zu gründen? Wenn
die Kosovaren dieses Recht haben, warum nicht auch die
Basken in Spanien? Die Korsen in Frankreich? Die Tibeter in
China? Die Tamilen in Sri Lanka? Die Kurden in der Türkei,
im Irak, Iran und Syrien? Die Luo in Kenia? Die Darfuris im
Sudan?
Das wäre ein Thema, das man
den Professoren der Politikwissenschaften überlassen
sollte. Die Realität hat ihre eigene Sprache. Kein Fall
ähnelt einem anderen. Es gibt kein internationales Tribunal,
um dies nach vorgesetzten Standards zu entscheiden, wer das
Recht hat und wer nicht. Die Sache wird in der Praxis
entschieden: wenn eine bestimmte Bevölkerung sich
entschieden hat, die Unabhängigkeit unter allen Umständen
zu erlangen, und wenn sie bereit ist, zu kämpfen und für
ihre Unabhängigkeit Opfer zu bringen – dann hat sie das
„Recht“ auf Unabhängigkeit.
Die Aspirationen einer
Minderheit hängen auch von der Haltung der Mehrheit ab. Eine
Nation, die weise genug ist, ihre Minderheit anständig zu
behandeln und nach dem Prinzip der Gleichheit, der wird es
gelingen, den Staat intakt zu halten. Länder wie Kanada und
Belgien verstehen dies und bemühen sich, ein
Auseinanderbrechen des Staates zu verhindern. Aber wenn das
dominante Volk die Minderheit misshandelt – so wie es die
Serben im Kosovo taten und wie die Russen in Tschetschenien
– dann stärken sie die Motivation, die Unabhängigkeit zu
erlangen.
ICH ERINNERE mich an ein
Gespräch, das ich mit Helmut Kohl, dem damaligen deutschen
Bundeskanzler hatte, als er Israel besuchte und vier deutsch
sprechende Israels zu einem privaten Essen einlud.
Während der korpulente Kanzler
sein bescheidenes Mahl einnahm (er protestierte, als ihm nur
winzige Portionen serviert wurden), hatten wir eine lebhafte
Diskussion über Bosnien-Herzegowina, das damals im
Mittelpunkt internationaler Aufmerksamkeit stand. Ich
drückte meine Ansicht aus, dass es keine Alternative dazu
gebe, außer das Land zwischen den bosnischen Serben und den
Bosniaken (Muslime) zu teilen. Man kann nicht zwei Völker
zwingen, gegen ihren Willen zusammen zu leben, sagte ich.
„Wir können keine neuen Staaten
errichten!“ erklärte Kohl energisch. „In Europa können
Grenzen nicht verändert werden! Wenn wir damit anfangen, wo
wird es enden? Wie ist es mit der deutsch-polnischen
Grenze? Oder mit der deutsch-tschechischen Grenze?
Ich wollte mit allem
gebührenden Respekt sagen, dass diese Haltung falsch sei.
Aber ich hielt mich zurück. Er war immerhin der Chef einer
Regierung und ich nur ein kleiner Friedensaktivist. Aber
später, als ich Bosnien besuchte, wurde meine Überzeugung
nur bestärkt. Theoretisch ist Bosnien „vereinigt“ geblieben,
aber praktisch sind es zwei Staaten, die einander auf den
Tod nicht ausstehen können. Im Alltag gibt es so gut wie
keine Kontakte zwischen ihnen. Praktisch sind es zwei
Staaten, obwohl sie offiziell ein Staat sind.
Nun ist es Deutschland, das
diesen Prozess der Grenzveränderung in Europa anführt. Es
hat das neue Kosova anerkannt.
JUGOSLAVIEN ist auseinander
gebrochen, und jetzt bricht sogar Serbien auseinander. Die
Einheit Kanadas und Belgiens ist zerbrechlich. Kenia bricht
in ethnische Einheiten („Stämme“) auseinander. An vielen
Orten rund um die Welt träumen Minoritäten von ihrem eigenen
nationalen Staat.
Anscheinend ein Paradox. Ein
kleiner Staat, selbst ein Staat mittlerer Größe kann in
einer Welt, die sich unausweichlich in Richtung
Globalisierung hin bewegt, nicht mehr wirkliche
Unabhängigkeit bewahren. Staaten wie Deutschland und
Frankreich werden gezwungen, große Teile ihrer Souveränität
an regionale Superstaaten wie die EU abzutreten. Die
französische Wirtschaft und die deutsche Armee sind jetzt
mehr von Brüssel abhängig als von Paris und Berlin. Welchen
Sinn hat es also, noch kleinere Staaten zu schaffen?
Die Antwort liegt in der Macht
des Nationalismus, die nicht abgenommen hat, im Gegenteil.
Vor ein oder zweihundert Jahren konnte sich Korsika nicht
verteidigen. Um sicher zu sein, musste es ein Teil des
französischen Königreiches werden. Das Baskenland konnte
keine unabhängige Wirtschaft aufrecht erhalten und musste
deshalb Teil einer größeren wirtschaftlichen Einheit wie
Spanien sein. Aber heute, wenn die Entscheidungen in Brüssel
gemacht werden, warum sollten die Korsen und die Basken
nicht ihren eigenen Staat haben, die eigenständige
Mitglieder der EU werden ?
Das ist eine weltweite Tendenz.
Getrennte Nationen vereinigen sich nicht zu neuen Staaten,
sondern
- im Gegenteil - bestehende
Staaten brechen in ihre nationalen Komponenten auseinander.
Jeder der glaubt, dass Israelis und Palästinenser sich
morgen in einem Staat vereinigen würden, lebt nicht in der
realen Welt. Der Slogan „Zwei Staaten für zwei Völker“ ist
heute relevanter denn je.
Israel, das sich seinem 60.
Jahrestag nähert, sollte deshalb die Republik Kosova
anerkennen und ihr das Beste wünschen.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs und Christoph Glanz vom Verfasser autorisiert)
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