Drei
Generale, ein Märtyrer
Uri Avnery, 27.3.04
Fünfhundert Hamas-Mitglieder
mit schwarzen und weißen Bärten saßen mir gegenüber. Ehrwürdige
Scheichs und junge Männer. An der Seite waren einige Reihen von
Frauen besetzt. Ich stand auf der Bühne mit den gekreuzten Fahnen
Israels und Palästinas auf meinem Revers und sprach Hebräisch.
Wie ich schon einige Male
erzählt habe, geschah das folgendermaßen: Ende 1992 verbannte der
neue israelische Premierminister Yitzhaq Rabin 415 islamistische
Aktivisten - überwiegend Hamas-Mitglieder - in das libanesische
Grenzgebiet. Als Protest dagegen bauten wir Zelte gegenüber dem Sitz
des Premierministers in Jerusalem auf. Dort verbrachten wir -
israelische Friedensaktivisten (die später Gush Shalom gründeten)
und arabische Bürger Israels, die vorwiegend Mitglieder der
islamischen Bewegung waren - 45 Tage und Nächte. Meistens war es
sehr kalt, unsere Zelte waren oft mit Schnee bedeckt. In den Zelten
wurde viel diskutiert, die Juden lernten etwas über den Islam und
die Muslime über die jüdische Religion.
Die verbannten Militanten
selbst vegetierten ein Jahr lang in der hügeligen Landschaft
zwischen der israelischen und der libanesischen Armee. Die ganze
Welt verfolgte ihr Leid. Nach einem Jahr durften sie zurückkommen,
und die Hamas-Führer in Gaza organisierten anlässlich ihrer Heimkehr
einen Empfang für sie im größten Saal der Stadt. Sie luden die
Israelis ein, die gegen die Verbannung protestiert hatten. Ich wurde
gebeten, eine Rede zu halten. Ich sprach über den Frieden, und in
der Pause wurden wir eingeladen mit unseren Gastgebern zu Mittag zu
essen. Ich war von der freundlichen Haltung der Hunderte von
Menschen, die anwesend waren, beeindruckt.
Zweifellos wären Scheich
Ahmed Yassin und der Sprecher der Verbannten, Dr. Abd-al-Aziz al
Rantisi (der letzte Woche der Nachfolger Scheich Yassins wurde),
anwesend gewesen, hätte man sie nicht weiter inhaftiert.
Ich erzähle diese Erfahrung,
um darauf hinzuweisen, dass das Bild von Hamas als unverbesserlicher
Feind jeglichen Friedens und Kompromisses nicht genau ist. Natürlich
sind seit dieser Zeit zehn Jahre des Blutvergießens, der
Selbstmordattentate und gezielter Anschläge vergangen. Aber auch
heute ist das Bild wesentlich komplexer, als man auf den ersten
Blick meint.
Es gibt in der Hamas
verschiedene Strömungen. Der ideologische harte Kern lehnt in der
Tat jeglichen Frieden und Kompromiss mit Israel ab. Sie betrachten
Israel als eingepfropften Fremdkörper in Palästina, das nach
islamischer Lehre ein muslimisches "wakf" (religiöse Stiftung) ist.
Viele Hamas-Anhänger betrachten die Organisation aber nicht so sehr
als ideologisches Zentrum, sondern eher als ein Instrument, um
Israel bei der Verfolgung realistischer Ziele zu bekämpfen.
Scheich Yassin erklärte vor
einigen Monaten in einer deutschen Zeitung, dass der Kampf nach der
Errichtung eines Palästinenserstaates in den Grenzen von 1967
eingestellt würde. Vor kurzem bot er einen 30jährigen
Waffenstillstand ("hudna") an. (Das erinnert mich sehr an einen von
Ariel Sharons Vorschlägen, dass Israel den Gaza-Streifen aufgeben
und große Teile der West Bank für eine Interimsphase von 20 Jahren
behalten wolle.)
Deswegen diente die
Ermordung des Scheichs keinem positiven Ziel, sondern war eine
Torheit.
Die drei Generäle, die
heutzutage die Politik Israels bestimmen - Premierminister Ariel
Sharon, Verteidigungsminister Sha'ul Mofaz und Stabschef Moshe
Ya'alon - behaupten, dass "kurzfristig" zwar die Angriffe auf
israelische Staatsbürger zunehmen werden, "langfristig" würde es
jedoch dazu nützen, den "Terrorismus auszurotten". Sie sind dabei
aber sehr vorsichtig und definieren nicht, wann das "Kurzfristige"
endet und das "Langfristige" beginnt. Unsere Generäle glauben nicht
an Terminkalender.
Ich nehme mir die Freiheit,
diesen drei glorreichen Strategen mitzuteilen: Quatsch mit
Tomatensoße (wie es im hebräischen Slang heißt). Oder vielmehr
Quatsch mit Blut.
Kurzfristig gefährdet diese
Tat unsere persönliche Sicherheit; langfristig stellt sie eine noch
größere Gefahr für unsere nationale Sicherheit dar.
Kurzfristig hat die Tat die
Motivation der Hamas erhöht, tödliche Angriffe auszuführen. Jeder
Israeli weiß das und trifft momentan zusätzliche Vorkehrungen. Aber
weniger offensichtliche Ergebnisse sind viel bedrohlicher.
In den Herzen
Hunderttausender Kinder in den Palästinensergebieten und den
arabischen Ländern hat dieser Mord einen Sturm der Wut und
Rachsucht, zusammen mit Frustrations- und Erniedrigungsgefühlen
hinsichtlich der Ohnmacht der arabischen Welt, entfacht. Das schafft
nicht nur Tausende neuer potentieller Selbstmordattentäter im Lande
selbst, sondern Zehntausende Freiwilliger für die radikalen
islamischen Organisationen überall in der arabischen Welt. (Ich weiß
das, denn im Alter von 15 schloss ich mich unter ähnlichen Umständen
der bewaffneten hebräischen Untergrundbewegung an.)
Es gibt für eine kämpfende
Organisation keine stärkere Waffe als einen Märtyrer. Es reicht wohl
aus, wenn ich Avraham Stern alias Ya'ir erwähne, der 1942 von der
britischen Polizei in Tel Aviv getötet wurde. Sein Blut gab dem
Entstehen der Lehi-Untergrundbewegung (mit dem Spitznamen "die
Stern-Bande") einen Impuls, und nur vier Jahre später spielte diese
eine große Rolle bei der Vertreibung der Briten aus Palästina.
Aber Ya'irs Ansehen war
nichts im Vergleich zu dem Ansehen, das Scheich Yassin genießt. Der
Mann wurde praktisch geboren, um eine Rolle als heilig gesprochener
Märtyrer zu erfüllen: eine religiöse Persönlichkeit, ein Gelähmter
im Rollstuhl, körperlich gebrochen, aber nicht in seinem Geist; ein
Militanter, der viele Jahre im Gefängnis verbrachte; ein Führer, der
seinen Kampf fortsetzte, nachdem er wie durch ein Wunder einen
früheren Attentatsversuch überlebte; ein Held, der feige aus der
Luft ermordet wurde, als er die Moschee nach dem Gebet verließ.
Selbst ein genialer Schriftsteller hätte keine Figur erfinden
können, die besser geeignet wäre, von Milliarden Muslimen dieser
und der kommenden Generationen verehrt zu werden.
Der Mord an Yassin wird die
Zusammenarbeit zwischen den kämpfenden Palästinenserorganisationen
fördern. Hier zeigt sich ebenfalls eine Parallele zur hebräischen
Untergrundbewegung. In einer gewissen Phase des Kampfes gegen die
Briten waren die Mitglieder der Hagana, der halboffiziellen
Untergrundarmee der zionistischen Führung (die mit der Fatah von
heute zu vergleichen ist), sehr unzufrieden. Die Hagana, (zu der
auch die Eliteformation Palmah gehörte) wurde als untätig
betrachtet, während Irgun und Lehi als heldenhaft erschienen, die
unglaublich kühne Aktionen ausführten. Die Unruhe innerhalb der
Hagana führte zum Auftauchen einer Gruppe, die sich "Kämpfendes
Volk" nannte, und die für die enge Zusammenarbeit zwischen den
verschiedenen Organisationen plädierte. Einige Hagana-Mitglieder
liefen zur Lehi über.
Das passiert jetzt unter den
Palästinensern. Die Grenzlinien zwischen den verschiedenen Gruppen
werden immer verschwommener. Die Mitglieder der
Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden kooperieren entgegen den Befehlen ihrer
politischen Führung mit Hamas und Jihad und sagen, "da wir gemeinsam
getötet werden, lasst uns gemeinsam kämpfen". Dieses Phänomen wird
zwangsläufig zunehmen und die Angriffe effektiver machen. Die
Popularität von Hamas in der Bevölkerung steigt immens, und damit
deren Fähigkeit, Angriffe durchzuführen. Das bedeutet nicht, dass
die palästinensische Öffentlichkeit das Ziel eines islamischen
Staates akzeptiert oder die Vorstellung eines Palästinenserstaates
neben Israel aufgegeben hätte. Selbst unter den Hamas-Anhängern
sympathisieren viele mit dieser Vorstellung. Aber die Bewunderung
der Massen für die Kämpfer und ihre Taten spiegelt die Überzeugung
wider, die Israelis verstünden nur die Sprache der Gewalt und dass
erfahrungsgemäß die Palästinenser ohne extreme Gewalt überhaupt
nichts erreichen könnten.
Leider gibt es keinen
wirklichen Beweis für das Gegenteil. Die Wahrheit ist, dass die
Palästinenser nie etwas erreicht haben, ohne Gewalt anzuwenden.
Deshalb werden die Petitionen, die momentan von palästinensischen
Persönlichkeiten, die es gut meinen und zur Beendigung des
bewaffneten Kampfes aufrufen, keine Wirkung haben. Sie können auf
keine andere Methode verweisen, die für ihre Öffentlichkeit
überzeugend klingt. Und unsere Regierung stellt solche Schritte
immer, ausnahmslos, als Zeichen der Schwäche dar.
Auf noch längere Sicht
stellt sich das Attentat als existenzielle Gefahr dar. Über fünf
Generationen war der israelisch-palästinensische Konflikt
hauptsächlich ein nationaler Konflikt - ein Zusammenstoß zwischen
zwei großen nationalen Bewegungen, von denen jede das Land für sich
beanspruchte. Ein nationaler Konflikt ist grundsätzlich rational, er
kann durch Kompromisse gelöst werden. Unser Albtraum war stets, dass
der nationale Kampf zu einem religiösen wird. Da jede Religion
behauptet, die absolute Wahrheit zu vertreten, erlauben religiöse
Kämpfe keine Kompromisse.
Das Märtyrertum von Scheich
Yassin schiebt die Möglichkeit, dass Israel jemals Frieden und Ruhe,
normale Beziehungen zu seinen Nachbarn mit einer erfolgreichen
Wirtschaft erreicht, in noch weitere Ferne. Es verstärkt die Gefahr,
dass zukünftige Generationen von Arabern und Muslimen Israel
weiterhin und verstärkt als Fremdkörper betrachten, der mit Gewalt
in diese Region eingepflanzt wurde und jeden anständigen Muslimen
von Marokko bis Indonesien pflichtbewusst danach streben lässt, ihn
herauszureißen.
Unsere drei Generäle sind
weit davon entfernt, solche Einsichten aufzunehmen. Sharon, Mofaz,
Ya'alon und ihresgleichen verstehen nur brutale Gewalt im Dienste
eines engstirnigen Nationalismus. Frieden begeistert sie nicht,
Kompromiss ist für sie ein schmutziges Wort. Es ist ziemlich klar,
dass sie sich wesentlich wohler fühlen, wenn an der Spitze des
palästinensischen Volkes fanatische religiöse Führer stehen anstelle
eines Mann, wie Yasser Arafat, der bereit ist, Kompromisse
einzugehen.
(Aus dem Englischen: Tony Kofoet/
Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)
Alle deutschen Texte von
Avnery Uri