Definiert
Israels Regierung, was heute Antisemitismus ist?
Ein israelischer Historiker kritisiert die zu große
deutsche Identifikation mit der zionistischen Ideologie
Arn Strohmeyer - 9.08.2019
Antisemitismus ist in
Deutschland wieder ein Thema geworden. Über seine
angebliche Zunahme berichten deutsche Medien fast jeden
Tag. Nun soll diese Form des Rassismus hier auch gar
nicht verharmlost werden, die es zweifellos in einem
Teil der Bevölkerung gibt. Auf der anderen Seite besteht
kein Zweifel daran, dass Antisemitismus in hysterischer
Weise hochgepuscht wird, denn alle Umfragen belegen,
dass die Vorurteile gegenüber Muslimen viel größer sind
als gegenüber Juden. Islamophobie wird aber ganz
offensichtlich klein gehalten, über die Gründe darf man
spekulieren.
Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz wiederholt seit
Jahren: „Ich sehe überhaupt keine neue Qualität des
Antisemitismus. Ich würde auch gern die Wortwahl
‚antisemitische Ausschreitungen‘ hinterfragen. Ich
beobachte die Szene seit 30 Jahren. Seit 30 Jahren wird
mit dem Thema Politik und Stimmung gemacht.“ Benz sieht
die größere Gefahr heute viel mehr in der Feindschaft
gegenüber Muslimen. Die Islamophobie arbeite mit ganz
ähnlichen Argumentationsmustern und Stereotypen wie der
Antisemitismus. Gemeinsam sei diesen Vorurteilen die
Einteilung in Gut und Böse sowie das Phänomen der
Ausgrenzung: „Das Feindbild der Juden wird heute durch
das Feindbild der Muslime ersetzt. Wieder geht es um die
Ausgrenzung einer Minderheit. Es ist höchste Zeit, die
Diskriminierungsmechanismen zu verstehen und schließlich
zu verhindern.“
Nun wird in deutschen Mainstream-Medien der
Antisemitismus-Begriff so gut wie nie hinterfragt. Ob es
um eine Attacke auf einen Kippa-Träger, Schmierereien an
Synagogenwänden oder Vandalismus auf jüdischen
Friedhöfen, BDS oder Kritik an Israels menschen- und
völkerrechtswidriger Politik geht – alles wird über
einen Kamm geschert und fällt in den meisten Medien
unter den pauschalen Begriff Antisemitismus. Aber
Antisemitismus ist eine Ideologie und man kann sie auf
ihre Ursachen und Auswirkungen hin untersuchen und
kritisch hinterfragen. Differenzierung tut da not!
Das leistet in vorbildlicher Weise ein israelischer
Historiker. Sein Name: Daniel Blatman. Er lehrt an der
Hebräischen Universität in Jerusalem (sein Fachgebiet
ist der Holocaust) und er ist zugleich der
Chefhistoriker des Warschauer Ghetto-Museums. Ein Mann
also, den man wahrhaftig nicht unter
Antisemitismus-Verdacht stellen kann. Er spricht in
einem jetzt erschienenen Aufsatz von der „Verzerrung des
Antisemitismus“ besonders in Deutschland und einer
„Hexenjagd“ auf alle, die den gängigen
Antisemitismus-Begriff nicht akzeptieren und womöglich
noch Israels Politik kritisieren. Als Beispiel nennt er
den erzwungenen Abgang des Direktors des Jüdischen
Museums in Berlin Peter Schäfer, eines international
hoch geachteten Judaisten. Sein Konzept passte
bestimmten jüdischen Kreisen in Israel und Deutschland
nicht, also musste er gehen. „Hexenjagd“ eben.
Blatman nennt die Veränderung („Verzerrung“) des
Antisemitismusbegriffs eine „Revolution“. Warum? Er
setzt den traditionellen, vertrauten Antisemitismus, der
durch Feindseligkeit, Hass und Dämonisierung gegenüber
Juden und Judentum gekennzeichnet war und ist (es gibt
ihn ja noch) und sich in Mythen und Stereotypen
ausdrückt von dem neuen funktionalen
Antisemitismus ab, der auf dem Prinzip beruht,
dass jeder, den bestimmte Juden als antisemitisch
definieren wollen, als solcher auch definiert wird.“
Was Blatman dann definitorisch ausführt, ist für das
deutsches Mainstream-Verständnis ein solcher Tabubruch,
dass man es wörtlich anführen muss: „Mit anderen
Worten, es handelt sich [bei dem funktionalen
Antisemitismus] nicht mehr um einen Antisemitismus, der
zwischen Juden und Nichtjuden nach Kriterien wie
Religion, Kultur, Nationalität oder Rasse unterscheidet
– sondern um einen, der zwischen Antisemiten und
Nicht-Antisemiten unterscheidet, nach Kriterien, die von
der israelischen Regierung und von Juden und
Nicht-Juden, die ihn unterstützen, in Deutschland und
anderen Ländern aufgestellt werden.“
Und weiter: „Was hier geschieht ist nicht weniger als
eine historische Revolution im Verständnis des
Antisemitismus: Antisemitische Deutsche definieren nicht
mehr, wer ein Jude ist, der aus der Gesellschaft
verbannt werden muss, sondern bestimmte Juden
definieren, wer ein Antisemit oder ein Philosemit ist,
und die Deutschen nehmen ihre Meinung an.“
Das ist harter Tobak. Denn diese Definition bedeutet
nicht mehr und nicht weniger, dass die Führung in Israel
festlegt, was Antisemitismus ist und was nicht und dass
man im Ausland – besonders in Deutschland – diesen
Vorgaben brav und gehorsam folgt. Die tägliche Erfahrung
lehrt, dass dies keine Verschwörungstheorie ist. Die
treue und blinde Anhängerschaft der israelischen
ideologischen Vorgaben reicht von kleinen antideutschen
Zirkeln und Postillen, der Deutsch-Israelischen
Gesellschaft über die Springer-Presse bis in den
Bundestag und das Bundeskanzleramt.
Wenn man die Antisemitismus-Vorwurfs-Ideologie kritisch
hinterfragt, dann muss man eine Antwort auf die Frage
finden: cui bono? Was soll diese Ideologie leisten, wem
soll sie letztlich nutzen und welches Ziel verfolgt sie?
Der israelische Psychologe Benjamin Heit-Hallahmi hat
schon von fast dreißig Jahren die Antwort auf diese
Fragen gegeben: Der Antisemitismus-Vorwurf wird in
erster Linie benutzt, um jede Kritik am israelischen
Vorgehen gegen die Palästinenser abzublocken und zum
Schweigen zu bringen.
Beit-Hallahmi schreibt: „Das Ziel dieser Verteidigung
ist, den Zionismus mit einer Mauer der Immunität zu
umgeben, so dass keine rationale Diskussion seiner Ziele
und Implikationen mehr möglich ist. So eine Immunität
braucht der Zionismus in der Tat, weil er durch normale
politische Standards nicht verteidigt werden kann.“ Da
wird dann eben Antisemitismus und Antizionismus
gleichgesetzt, um zum gewünschten Ziel des Abwürgens
jedes Diskurses über die israelische Politik zu kommen.
Der von Israel definierte und vertretene Antisemitismus
ist also auch eine Verteidigungs- und
Rechtfertigungsstrategie des Zionismus und seiner
äußerst unmoralischen, weil von Gewalt diktierten
Politik. Ein anderes Mittel zur Rechtfertigung des
Zionismus ist die Dämonisierung der Araber bzw.
Palästinenser als „Antisemiten“ oder sogar als „Nazis“.
Den Palästinensern wird dann unterstellt, dass sie den
Genozid der Nazis an den Juden fortsetzen wollten –
Ergebnis einer Projektion, also einer seelischen
Übertragung eigener feindlicher Regungen und
Aggressionen auf den „Anderen“, den „Feind“.
Sehr aufschlussreich ist die Formulierung Blatmans, dass
bestimmte Juden definierten, wer Antisemit oder ein
Philosemit sei und dass die Deutschen diese Meinung
annähmen. Hat nicht kürzlich ein protestantischer
Bischof von „Überidentifikation“ der Deutschen
mit Israel gesprochen und für diesen Tabubruch verbale
Prügel von allen Seiten bekommen? Solche Reaktionen sind
immer verräterisch, weil sie psychologisch gesehen
aussagen, dass da einer eine sehr unbequeme Wahrheit
ausgesprochen hat, die man schnell wieder im Orkus der
Verdrängung verschwinden lassen muss. Aber die empörten
Reaktionen bestätigen genau das, was der Bischof
behauptet hat, dass es eine Überidentifikation
mit Israel gibt.
Dabei hatte der Bischof mit Überidentifikation
nur einen Begriff angeführt, den der Israeli Moshe
Zuckermann seit Jahren benutzt. Er schreibt in seinem
Buch Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der
Deutschen vor der Vergangenheit: „Nachvollziehbare
deutsche Schuldgefühle haben die öffentliche Sphäre
Deutschlands über Jahrzehnte in entscheidendem Maß
geprägt, zuweilen merkwürdige (Re-)Aktionen zeitigend,
nicht zuletzt im Bereich der staatsoffiziellen Politik.
Wenn das Diktum ‚Auschwitz werden uns die Deutschen
niemals verzeihen!‘ stimmt, dann mag sich in der
performativen Überidentifizierung [Hervorhebung
durch A.Str.]mit Juden eine Art Schuldabtragung, mithin
eine selbsterteilte Vergebung, manifestieren. Wenn man
selbst Jude sein darf, ist man nicht mehr ‚Täter‘,
sondern Opfer, hat also etwas nagend Quälendes an sich ‚wiedergutgemacht‘.“
Bisweilen spricht Zuckermann in noch schärferer Form
sogar von einer Symbiose der Deutschen mit
Israel.
Blatmans Satz, dass bestimmte Juden definieren, wer ein
Antisemit oder ein Philosemit ist und dass die Deutschen
diese Meinung annähmen, bedeutet ja auch die völlige
Identifizierung mit dem von der israelischen Führung
ausgegeben Antisemitismus-Begriff. Der deutsche
Mehrheitsdiskurs debattiert also gar nicht, was
Antisemitismus wirklich ist und wann er wirklich
vorliegt, sondern man übernimmt kritiklos die
israelische Definition und identifiziert sich aus
Schuldgefühlen heraus mit einer Ideologie, die die
Zionisten – wie Blatman und Beit-Hallahmi bestätigen –
ersonnen haben, um ihren mit äußerster Gewalt
geschaffenen Staat zu rechtfertigen, zu verteidigen und
zu schützen. Moshe Zuckermann weist immer wieder auch
darauf hin, dass Israel für diesen Zweck nicht davor
zurückscheut, den Holocaust „in perfider Weise“ zu
instrumentalisieren.
Überidentifikation mit etwas oder jemandem anderen
ist aber psychologisch gesehen immer ein infantiles bzw.
neurotisches Phänomen. Es zeigt an, dass ein Individuum
oder ein Kollektiv noch nicht zur eigenen vollen
Identität gefunden hat, weil es sich in Abhängigkeit von
jemandem anderen befindet. Eine wirklich erfolgreiche
Aufarbeitung der monströsen deutschen Vergangenheit kann
also nur im Abbau, der Loslösung beziehungsweise der
Emanzipation von der Überidentifikation oder der
Symbiose mit Israel liegen – und damit auch von dem von
dort vorgeschriebenen Antisemitismus-Begriff. Das würde
die Antwort auf die Frage bedeuten, was ist wirklich
Antisemitismus und wann und wo liegt er wirklich vor?
Und wann und wo wird nur der von der israelischen
Regierung für ihre Zwecke instrumentalisierte
funktionale Antisemitismus gehorsam nachgebetet.
Eine Option für die deutsche Politik wäre: Israel
öffentlich und unmissverständlich daran zu erinnern, auf
welchen Säulen der deutsche Rechtsstaat (zumindest
idealiter) beruht: auf dem liberalen deutschen
Grundgesetz, den Menschenrechten und dem Völkerrecht.
Das heißt: dass die Beziehungen ohne Wenn und Aber auf
dieser Basis stattfinden müssen. Man könnte Israel dann
die volle Unterstützung zusichern, ein selbstbestimmter
Staat zu sein und zu bleiben, aber es muss ein
Rechtsstaat Israel sein. Deutschland könnte auf diese
Weise sein neurotisch-pathologisches Verhältnis zu
diesem Staat bereinigend aufarbeiten, und damit
gleichzeitig seine verbrecherische Vergangenheit in
moralisch einwandfreier Weise bewältigen.
Blatman schreibt in seinem Aufsatz: „Es gibt eine
bittere historische Ironie, jeden in Deutschland, der
die gegenwärtige Politik Israels kritisiert,
unterschiedslos als antisemitisch zu bezeichnen. So
dient Deutschland dem brutalen und rassistischem Konzept
des Zionismus im heutigen Israel.“ Deutschland sei,
schreibt er, zu einem führenden Mitglied der Koalition
der „Verzerrer des Antisemitismus“ geworden –
Stichworte: funktionaler Antisemitismus, Hexenjagd,
totale Identifizierung mit Israel. Der Deutsche
Bundestag mache sich zum willigen Helfer („Fußmatte“)
für Israel, seine Interessen und seinen
Antisemitismus-Begriff. In Israel habe man einmal vom
„neuen, anderen Deutschland“ gesprochen, das die
Versöhnung mit dem Täterstaat möglich machte. Blatman
hat große Zweifel, ob es dieses „andere Deutschland“
noch gibt, wenn es heute um Antisemitismus geht.
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