Jenseits aller Wirklichkeit
Der
Israel-Besuch von Außenminister Sigmar Gabriel musste zum
Desaster geraten
Arn Strohmeyer
Wenn man die
politische Wirklichkeit so falsch einschätzt, darf man sich über
die fatalen Folgen nicht wundern. Der deutsche Außenminister
Sigmar Gabriel kennt sehr genau die Realitäten in
Israel/Palästina, aber sie offiziell nicht wahrzunehmen, ist
deutsche Staatsräson. Vor Jahren schon war Gabriel in Israel
gewesen, hatte Hebron besucht und hatte sich erschüttert über
die dortigen brutalen Besatzungsverhältnisse gezeigt. Es fiel
sogar das Wort „Apartheid“, aber auf Druck der empörten
Israel-Lobby knickte der damalige Wirtschaftsminister ein und
nahm seine Äußerung zurück.
Gabriel ist
diesmal nicht eingeknickt. Er ist „standhaft“ geblieben, weil er
das Gespräch mit den israelischen regierungskritischen
Nicht-Regierungsorganisationen „Betselem“ und „Breaking the
Silence“ nicht abgesagt und Ministerpräsident Netanjahu
daraufhin das Treffen mit ihm abgesagt hat. Immerhin, könnte man
lobend sagen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, ja es ist
geradezu ein Beleg dafür, dass Gabriels Besuch beim „guten
Freund Israel“ zum Desaster wurde und alles über den wirklichen
Stand der deutsch-israelischen Beziehungen aussagt. Denn zuerst
hatte der deutsche Außenminister sich mit dem bevorstehenden
Besuch in Israel und Palästina als Vermittler für neue
Friedensgespräche angeboten. Da musste er sich von offizieller
Seite sagen lassen, dass das gar nicht erwünscht sei: „Wir
wissen selbst, was wir zu tun haben,“ fertigte der Botschafter
Israels in Berlin Jakov Hadas-Handelsman dieses Angebot arrogant
ab.
Dass der
Außenminister des größten und wirtschaftlich stärksten
EU-Staates, von dem Israel sich gern atomar ausrüstbare U-Boote
schenken lässt, bei einem offiziellen Besuch in Israel vom
Ministerpräsidenten empfangen wird, ist eigentlich eine
Selbstverständlichkeit. Das sah die israelische Regierung aber
anders: Sie stellte Gabriel ein Ultimatum: Entweder die
Gespräche mit den Vertretern der Zivilgesellschaft werden
abgesagt, wenn nicht, gibt es kein Treffen mit Netanjahu. Das
war der nächste Affront gegenüber der deutschen Seite. Auch wenn
Gabriel tapfer bekannte, dass das Nichtzustandekommen des
Treffens „keine Katastrophe“ sei – der Vorgang ist eine
Katastrophe für die Beziehungen der beiden Staaten, die
angeblich ja so vorbildlich sind. Vielleicht war es auch die
Vergeltung dafür, dass Angela Merkel kürzlich die
deutsch-israelischen Regierungskonsultationen wegen Netanjahus
Ankündigung, neue Siedlungen zu bauen, abgesagt hatte.
Gabriel hat
sich vor seinem Besuch und in Israel selbst nicht nur jedweder
Kritik an der in jeder Beziehung völkerrechts- und
menschenrechtswidrigen Politik des zionistischen Staates
gegenüber den Palästinensern enthalten, er hatte anlässlich
seines Israel-Besuches einen Namensartikel in deutschen
Zeitungen (so im „Bremer Weser-Kurier“ vom 25. April 2017)
verbreiten lassen, in dem er die Beziehungen zu Israel in einer
Weise lobt und preist, dass es einem angesichts der realen
Vorgänge in diesem Land die Sprache verschlägt.
Unter der
Überschrift „Gemeinsam gegen Nationalismus. Über Europa und
Israel“ schreibt der Außenminister: „Der Staat Israel hatte [bei
seiner Gründung] den gleichen Wertekern wie die Gründerstaaten
der europäischen Einigung nach der Katastrophe des Weltkrieges:
soziale und politische Sicherheit. Das war auch der Traum der
jüdischen Einwanderer aus aller Welt. Sie träumten von einem
Staatswesen, das menschlich und solidarisch sein sollte und vor
allem Schutz und Sicherheit bietet. Es gibt eine moderne
Verbindung zwischen Israel und Europa: Die israelische
Demokratie ist ein pluralistisches Kaleidoskop. Europa und
Israel stehen auf dem Boden einer robusten Demokratie. Europa
und Israel wollen nicht wieder Opfer von Autokratie und
Nationalismus werden. Europäische und israelische Demokraten
kämpfen gegen die Verfolgung Andersdenkender und
Andersgläubiger.“
Und weiter:
„Deutschland und Europa stehen auch an der Seite dieses Israel,
weil es ein Land sein will, das allen seinen Bürger mit Fairness
und Anstand begegnen will. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges
und dem europäischen Neuanfang teilen wir Europäer die Werte des
jungen israelischen Staates und ein Fundament der gleichen
moralischen Prinzipien. Es sind diese gemeinsamen Werte, die
Israel, Europa und auch Amerika, trotz aller unterschiedlichen
Ansichten, immer wieder zusammenbrachten.“
Wertegemeinschaft mit Israel und Teilung der gleichen
moralischen Prinzipien? Behandlung aller seiner Bürger mit
Fairness und Anstand? Diese Zeilen erinnern an Angela Merkels
fatale Rede vor der Knesset in Jerusalem 2008 anlässlich des 60.
Staatsjubiläums. Acht Mal hatte sie in dieser Rede die
Wertegemeinschaft mit diesem Staat beschworen, in dessen
Herrschaftsbereich (Westjordanland und Gazastreifen) 4,4
Millionen Menschen leben, die keinerlei bürgerliche und
politische Rechte besitzen, sondern von einer brutalen
Besatzungspolitik unterdrückt werden. Der israelische Historiker
Tom Segev hatte nach Merkels Rede gefragt, ob sie den Kontakt
zur Realität verloren habe und geistig-politisch immer noch in
der DDR lebe. Auch Gabriel macht vor der Brutalität der
Besatzung beide Augen zu und belegt damit – allen Widersprüchen
zum Trotz – wie unehrlich, ja verlogen und neurotisch – das
deutsch-israelische Verhältnis in Wirklichkeit ist.
Zudem: Was für
ein „pluralistisches Kaleidoskop“ die israelische Demokratie
ist, belegt der Gabriel-Besuch mehr als deutlich: Der deutsche
Außenminister darf nicht einmal mit Vertretern der
außerparlamentarischen zivilgesellschaftlichen Opposition
sprechen, wenn er auch einen Termin beim Ministerpräsidenten
haben will. Das hat nicht einmal die kommunistische Diktatur
China hohen deutschen Besuchern versagt. Und die „gemeinsame
Ablehnung des Nationalismus“, die Gabriel anpreist? Weiß er oder
sieht er nicht, dass es kaum einen nationalistischeren Staat auf
der Welt gibt als das zionistische Israel? Dass gerade aus
diesem Ultra-Nationalismus die Probleme resultieren, die den
Konflikt mit den Palästinensern so unlösbar machen? Der
Artikeltext des deutschen Außenministers ist eine einzige devote
Ergebenheitsadresse. Dass so etwas in Israel nicht belohnt und
gewürdigt wird – die Quittung dafür bekam er postwendend.
Die deutsche
und die EU-Außenpolitik gegenüber Israel will trotz aller
Affronts und Rückschläge nicht erkennen und wahrhaben, was
couragierte Kenner und Kritiker der zionistischen Politik seit
Jahren sagen – etwa der amerikanisch-jüdische Wissenschaftler
und Publizist Henry Siegman, der früher Direktor des American
Jewish Congress war und heute das US/Middle East Project
leitet. Er bezeichnet die Europäer, die so eng – wie Angela
Merkel (und jetzt auch Sigmar Gabriel) – hinter Israel stehen
als „falsche Freunde“, weil sie glaubten, aus Sühne für den
Holocaust müssten sie alle Taten des jüdischen Staates
akzeptieren – in Wirklichkeit schadeten sie ihm damit. Er
spricht auch das Wegsehen oder die Heuchelei der sogenannten
internationalen Gemeinschaft an: „Der eigentliche Skandal ist,
dass die Völkergemeinschaft zwar genau weiß, wo die Probleme
liegen, aber nicht genug Mut aufbringt, sie zu benennen,
geschweige denn sie zu lösen. (...) Erstaunlich ist, dass die
Völkergemeinschaft so tut, als nehme sie Israel die Behauptung
ab, das Opfer zu sein, die von ihm besetzten Menschen aber die
Aggressoren. Deshalb erlaubt sie weiterhin die Enteignung der
Palästinenser, sodass hier die Gesetze des Dschungels walten.“
Und weiter:
„Aber die Erwartung, unkritische Unterstützung werde zu einer
größeren Bereitschaft Israels führen, für den Frieden Risiken
auf sich zu nehmen, steht im Widerspruch zur Geschichte dieses
Konflikts. Diese hat vielmehr gezeigt: Je kleiner der
Widerspruch ist, den Israel von seinen Freunden im Westen
erhält, desto kompromissloser wird sein Verhalten gegenüber den
Palästinensern. Auf der anderen Seite aber: Barrikaden und
Checkpoints der Armee, Kampfhubschrauber und Düsenjäger,
gezielte Ermordungen und militärische Übergriffe, ganz zu
schweigen vom massiven Diebstahl palästinensischen Landes. Ist
es nicht vollkommen unehrlich, so zu tun, als wäre Israels
Besetzung nicht selbst ein unerbittlicher Akt der Gewalt gegen
drei Millionen palästinensische Zivilisten? Könnte die Besetzung
auch nur einen Tag länger währen, wenn Israel seine Gewalt
aufgeben würde?“
25.04.2017