Präsident Abbas‘ missverständliche
Rede war für Israel und seine Freunde ein gefundenes Fressen
Arn Strohmeyer
Es war in Teilen
eine wirre, unausgegorene und deshalb verunglückte Rede, die
Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas in der vergangenen Woche
auf dem palästinensischen Nationalkongress in Ramallah gehalten
hat. Dass westliche Medien und Politiker (vor allem die Israels)
nur darauf gelauert hatten, dass Abbas ein falsches Wort
entwischen würde, das also als „Antisemitismus“ oder
„Holocaustleugnung“ ausgelegt werden konnte, war klar. Und der
alte Palästinenserführer war unvorsichtig genug, sich auf dieses
politische Glatteis zu begeben. Und so tappte er in die von ihm
selbst gestellte Falle, weil seine Worte so vage, nicht
eindeutig und streckenweise so missverständlich waren.
Und die
Öffentlichkeitsarbeit der palästinensischen Autonomiebehörde
(PA) war obendrein so schlecht, dass man vergeblich auf eine
Klarstellung des Gesagten wartete. Lange Zeit konnte man von
offizieller Seite nicht erfahren, was er denn nun wirklich
gesagt hatte und war auf fragwürdige Agenturtexte und
Übersetzungen seiner Rede von Privatleuten angewiesen. Die
wichtigste Frage, die sich stellte, war: War diese Rede wirklich
„antisemitisch“ und hatte Abbas den Holocaust geleugnet?
Den Übersetzungen
zufolge hat Abbas sich auf drei jüdische Autoren bezogen: Karl
Marx, Arthur Koestler und Isaac Deutscher, die konstatiert
hätten, dass der Judenhass keine religiösen Gründe gehabt,
sondern im Geld- und Finanzgebaren der Juden seine Wurzeln
gehabt habe. Ohne im Einzelnen auf diese drei Autoren eingehen
zu können, ist diese Aussage historisch nicht korrekt, denn im
ganzen Mittelalter hat es sehr wohl einen religiösen Judenhass
gegeben, weil die Juden als Jesus-Mörder angesehen wurden und
die Kirche das Judentum als religiöse Konkurrenz empfand. Man
denke nur an Martin Luthers fanatischen Judenhass. Der
Reformator rief sogar dazu auf, sie umzubringen. Ein weiteres
Beispiel: Unter dem spanischen Königspaar Ferdinand und Isabella
mussten die Juden im 15. Jahrhundert ihrer Religion abschwören
und wurden selbst dann noch von der Inquisition verfolgt, weil
diese behauptete, dass die Juden ihre Religion im Geheimen
weiter ausübten. Es gibt noch viele Beispiele für Judenhass aus
religiösen Gründen.
Bei der Aussage von
Abbas (wieder mit Bezug auf die drei genannten Autoren), dass
der Hass auf Juden mit ihrer Rolle im Geldwesen zusammenhänge,
liegt er ja nicht ganz falsch. Wer da gleich „Antisemitismus“
schreit, zeigt nur historische Unkenntnis. Allerdings muss man
an dieser Stelle berücksichtigen, dass es zwei grundverschiedene
Definitionen von Antisemitismus gibt. Die eine Richtung erklärt
ihn aus der Geschichte heraus. Danach sind Juden nicht wegen
ihrer „Rasse“, ihrer Kultur oder ihrer Position als Minderheit
primär verfolgt worden, sondern aufgrund ökonomischer
Bedingungen. So schreibt der deutsche Soziologe Walter Hollstein:
„Bis zum Aufkommen des Kapitalismus war den Juden eine
Vorrangstellung in der Zirkulations- und Handelssphäre
eingeräumt. In der feudalistischen Epoche hatte das jüdische
‚Handels- und Wucherkapital große Ausdehnungsmöglichkeiten‘“.
Was ja auch nicht
verwundert und eher aus der Not geboren war, weil den Juden der
Zugang zu den meisten Berufen versagt war – etwa Landwirtschaft,
Handwerk usw. Hollstein schreibt weiter: „Die Juden erfüllten in
der Zirkulationssphäre konkrete Funktionen zur Aufrechterhaltung
der mittelalterlichen Gesellschaft und wurden deshalb nicht
umsonst von Königen und Adel beschützt. Das Aufkommen des
Kapitalismus und die damit verbundene Verwandlung aller Klassen
in Produzenten von Tauschwerten (und nicht mehr nur
Gebrauchswerten) und Geldbesitzer beendigte notwendigerweise die
Vorrangstellung der Juden in der Zirkulationssphäre. Durch die
Entwicklung der Städte und einer einheimischen Handelsklasse
werden die Juden völlig aus dem Handel verdrängt. Sie werden zu
Wucherern, deren hauptsächliche Kundschaft Adelige und Könige
sind.“
Und weiter: „Der
relative Überfluss an Geld erlaubt es, dem Adel, das Joch der
Wucherer abzuschütteln. Die Juden werden nach und nach aus allen
Ländern vertrieben. Einige assimilieren sich und gehen in der
einheimischen Bourgeoisie auf. In einigen Städten, vor allem in
Deutschland und Italien, beschäftigen sich die Juden
hauptsächlich damit, dem Volk, vor allem Bauern und Handwerkern,
Kredite zu geben. Zu kleinen Wucherern abgesunken, (…) werden
die Juden oft zu Opfern blutiger Aufstände. Im Allgemeinen ist
der mittelalterliche Kapitalismus die Periode der grausamsten
Judenverfolgungen.“ In Osteuropa, schreibt Hollstein weiter,
habe der mittelalterliche Kapitalismus so gut wie nicht
existiert, weil es dort keine Trennung zwischen Kaufmanns- und
Wucherkapital gegeben habe. Dort seien die Juden vor allem
Kaufleute und Zwischenhändler gewesen. Während sie aus
Westeuropa verdrängt worden seien, hätten sie im Osten Europas
ihre Position festigen können. Das sind historische Fakten zum
Verständnis des Antisemitismus, wenn auch keine Gründe für
Antisemitismus.
Den hier genannten
historischen Gründen für Antisemitismus steht die Auffassung der
Zionisten gegenüber: Der Antisemitismus habe nichts mit
historischen Umständen zu tun: Er ist ewig, unvergänglich und
geschichtslos, er ist ein beständiges Charakteristikum der
menschlichen Natur. Der Zionist Leo Pinsker ging so weit, den
Antisemitismus für eine Psychose zu halten, die er für unheilbar
und sogar für vererbbar erklärte. Die Zionisten leiten aus
diesem Antisemitismus-Begriff ihre Absicht ab, in Palästina
ihren eigenen Nationalstaat zu schaffen, weil nur so der
Judenhass umgangen werden könne. Dass Zionismus und
Antisemitismus sich komplementär ergänzen, ist auch kein
Geheimnis: Denn der Judenhass des letzteren fördert den
Nationalismus und Zusammenhalt des ersteren. Zudem sorgt
Antisemitismus dafür, dass mehr Juden nach Israel auswandern.
Für die israelische
Politik hat dieser ahistorische Antisemitismus-Begriff den
Vorteil, dass sie sich bei allem, was sie tut, aus der
Verantwortung stehlen kann. Denn schuld sind ja immer die
„anderen“, eben die „Antisemiten“. Ein solcher
Antisemitismus-Begriff entlastet Israel auch davon, (darauf
weist der israelische Journalist Gideon Levy in einer Reaktion
auf die Abbas-Rede hin), sich für seine Verbrechen an den
Palästinensern zu entschuldigen. Immerhin hat sich Abbas für
seine halbwahren und missverständlichen Äußerungen entschuldigt.
Gideon Levy
schreibt über Israel wörtlich: „Eine Nation, die nicht aufgehört
hat zu besetzen, zu zerstören und zu töten, und nie daran
gedacht hat, sich für irgendetwas zu entschuldigen, bringt ihre
Opfer dazu, sich für einen miesen Satz ihres Anführers zu
entschuldigen. (…) Abbas ist viel weniger ein Holocaust-Leugner
als Israel ein Leugner der Nakba ist. Aber es ist erlaubt, die
Nakba zu leugnen, in der Tat ist es ein Muss in Israel, und es
ist zu Recht verboten, den Holocaust zu leugnen. Die Tatsache,
dass der Holocaust viel schrecklicher war als die Nakba,
legitimiert nicht die Leugnung der Katastrophe des anderen, die
niemals endet.“
Auch dass die
israelische Politik gegenüber den Palästinensern heute selbst
eine der Hauptursachen für Hass auf Juden in der Welt ist, kann
man mit diesem Antisemitismus-Begriff von sich weisen und eben
auf den „ewigen Antisemitismus“ der anderen verweisen. Dieser
zionistische und völlig undifferenzierte Antisemitismusbegriff
wird in der westlichen Welt kritiklos übernommen und vertreten,
und nur so kann man ihn bei jeder Kritik an der israelischen
Politik als Vorwurf erheben, auch und gerade gegenüber Abbas und
den Palästinensern.
Der
Antisemitismus-Begriff der NS-Ideologie hatte beides zum Inhalt:
eine pseudowissenschaftliche Rassenlehre und
Verschwörungstheorien von einem die „Welt beherrschenden
Finanzjudentum“. Man muss Abbas vorwerfen, sich gerade
angesichts dieser gefährlichen Begriffssprache ungenau und
missverständlich ausgedrückt zu haben. Hier hätte es einer
klaren und eindeutigen Distanzierung bedurft, um nicht in den
Verdacht schlimmer ideologischer Abgründe zu geraten. Dass er
den Holocaust geleugnet hat, ist unsinnig, er hat offenbar (so
ganz klar wird das aus den Übersetzungen nicht) nicht exakt die
korrekten Ursachen für dieses Mega-Verbrechen genannt oder es in
einen historisch unkorrekten Zusammenhang gestellt. Aber das ist
ja keine Leugnung.
Die Vorwürfe, die
man Abbas machen kann, gelten umgekehrt auch für die westlichen
Medien und die westliche Politik – speziell die Israels. Da
reicht eine ungenaue und in der Tat zu vage Aussage zu dem
Themenkomplex Antisemitismus und Holocaust, und schon spult die
proisraelische Propagandamaschine ihre immer gleichen
Stereotypen ab: Hier die Guten und dort die Bösen.
Differenzierung, Gebrauch einer exakten Begriffssprache sowie
ein korrekter Blick auf die Geschichte sind dabei nicht gefragt.
Israel kamen die unglückliche Aussagen von Abbas zudem gerade
recht, um von seinen Massakern an friedlichen und unbewaffneten
Demonstranten an der Grenze zum Gazastreifen abzulenken, die
inzwischen über 50 Tote und Tausende von Verletzten gefordert
haben. Ja, Abbas unglückliche Rede ist sogar geeignet, diese
Massaker noch zu rechtfertigen, sind die Palästinenser doch alle
„Antisemiten“ und „Terroristen“.
Der ganze Vorgang
erinnert stark an Ausführungen des früheren iranischen
Präsidenten Ahmadinejad vor einigen Jahren. Er hatte auf einer
Pressekonferenz einen Blick in die Geschichte geworfen und
angemerkt, dass das zionistische Regime, das Millionen
Palästinenser unterdrücke, „genauso aus den Büchern der
Geschichte verschwinden“ werde wie das Apartheidregime in
Südafrika und die Sowjetunion. Ahmadinejad hat weder gesagt, wie
das geschehen soll noch hat er ein Subjekt genannt, wer hier
angeblich vernichten will. Westliche Medien machten aus seiner
Aussage aber sofort: Der Iran will Israel vernichten! Sie
behaupten das bis heute. Dass der Iran gar nicht die
militärischen Kapazitäten besitzt, das zu tun, und dass Israels
Ministerpräsident umgekehrt ständig mit einem Präventionskrieg
auf den Iran droht – wen interessiert das schon? Das ist ein
sehr schöner Beleg für die ideologische Einseitigkeit der
westlichen Mainstream-Medien – Lückenpresse eben.
6.05.2018
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