Das
Schicksal
eines
deutschen
Juden
im
20.
Jahrhundert
Die
Lebenserinnerungen
des
Verlegers
Joseph
Melzer
sind
ein
bewegendes
Zeitdokument
Arn
Strohmeyer
-
8.02.20121
Joseph Melzer
Ich habe neun Leben gelebt.
Ein jüdisches Leben im 20. Jahrhundert
Frankfurt/Main 2010
ISBN 978-3-86489-306-3 - 24 Euro |
So
manchem
Zeitgenossen,
der
seit
über
70
Jahren
in
Mitteleuropa
unbehelligt
im
Frieden
lebt,
fehlt
inzwischen
schlicht
das
Vorstellungsvermögen,
was
Menschen
–
insbesondere
Juden
– im
20.
Jahrhundert
mit
zwei
Weltkriegen
und
dem
Holocaust
erlebt
und
durchlitten
haben.
Um
sich
das
immer
wieder
bewusst
zu
machen,
hat
die
Erinnerung
eine
so
wichtige
Funktion,
damit
so
etwas
wie
Auschwitz
(als
Synonym
für
Barbarei
schlechthin)
sich
nicht
wiederhole,
wie
Theodor
W.
Adorno
es
formuliert
hat.
Einen
wichtigen
Beitrag
zu
dieser
Erinnerungsliteratur
hat
jetzt
der
Westend-Verlag
mit
der
Herausgabe
der
Lebenserinnerungen
des
deutsch-jüdischen
Verlegers
Joseph
Melzer
(1907
–
1984)
erbracht.
Wenn
der
Autor
schreibt,
er
habe
neun
Leben
gelebt
(das
ist
auch
der
Titel
des
Buches,
mit
dem
Untertitel
Ein
jüdisches
Leben
im
20.
Jahrhundert),
dann
glaubt
man
ihm
das
aufs
Wort.
Im
ost-galizischen
Schtetl
Kuty
in
eine
liberal-jüdische
Familie
hineingeboren,
erlebt
er
hier
noch
trotz
aller
Entbehrungen
und
Armut
eine
fast
„heile“
jüdische
Welt,
in
der
es
auch
kaum
Feindschaft
gegen
Juden
gab.
Der
Erste
Weltkrieg
und
seine
Folgen
zwingen
die
Familie
zum
Umzug
nach
Berlin.
Dort
erlebt
er
als
junger
Mann
die
„goldenen
zwanziger
Jahre“,
knüpft
Kontakte
zu
jüdischen
Intellektuellen
und
gibt
die
Zeitschrift
Die
freie
jüdische
Monatsschau
heraus,
die
aber
nach
einem
Jahr
ihr
Erscheinen
einstellen
musste.
Melzer
wird
Zeuge
des
Aufstiegs
der
Nazis
in
Berlin.
Immer
noch
auf
der
Suche
nach
einer
Berufsperspektive
(er
hatte
die
Schulbildung
vorzeitig
abbrechen
müssen,
war
Autodidakt
und
ein
Selfmademan),
bewirbt
er
sich
um
Verkaufs-Vertretungen
für
deutsche
Bücher
in
Palästina.
Dort
lebte
er
zunächst
in
einem
Kibbuz,
eröffnete
dann
in
Tel
Aviv
einen
Buchladen
und
später
mit
dem
bekannten
Autor
Ben
Chorin
in
Jerusalem
ein
Buchantiquariat.
Da
die
Geschäfte
aber
nicht
gut
liefen,
stieg
er
aus
dem
Laden
aus
und
ging
–
nicht
zuletzt
auch,
weil
seine
Zweifel
am
Zionismus
wuchsen
–
zurück
nach
Berlin.
Er
erlebt
dort
1936
die
Olympiade.
Da
er
aber
nur
ein
begrenztes
Visum
hatte,
muss
er
Deutschland
wieder
verlassen
und
reiste
über
London
nach
Paris.
Hier
gelang
es
ihm
durch
einen
Zufall,
an
wertvolle
alte
Bücher
zu
kommen,
und
er
eröffnete
in
Paris
ein
Antiquariat.
Aber
auch
dies
sollte
nur
ein
kurzer
Aufenthalt
sein.
Melzer,
der
immer
noch
polnischer
Staatsbürger
war
(Galizien
war
nach
dem
Ersten
Weltkrieg
polnisch
geworden),
musste
nach
Warschau
reisen,
um
seinen
Pass
verlängern
zu
lassen.
Er
kommt
dort
genau
zu
dem
Zeitpunkt
1939
an,
als
die
Hitler-Armee
Polen
überfiel.
Er
flieht
vor
den
Deutschen
in
die
Sowjetunion,
kommt
dort
aber
nicht
in
die
Freiheit,
wie
er
gehofft
hatte,
sondern
wird
als
„deutscher
Spion“
verhaftet
und
zur
Zwangsarbeit
in
den
sibirischen
Gulag
geschickt.
Nach
Monaten
schwerster
körperlicher
Arbeit
als
Holzfäller
in
den
Wäldern
Sibiriens
kommt
er
wieder
frei,
weil
Churchill
die
polnische
Exil-Armee
mit
Waffen
ausrüstete
und
Stalin
deshalb
eine
Amnestie
für
polnische
Bürger
erließ.
Melzer
konnte
sich
nach
Sarmakand
in
Usbekistan
durchschlagen,
wo
er
sich
mühsam
mit
Gelegenheitsarbeiten
über
Wasser
hält.
Er
heiratet
und
sein
Sohn
Abraham
kommt
dort
zur
Welt.
Nach
Kriegsende
konnte
er
mit
seiner
Familie
zurück
nach
Deutschland
gelangen,
er
unterbrach
die
Fahrt
aber,
um
sich
in
Polen
das
NS-Vernichtungslager
Majdanek
anzusehen,
was
ihm
die
Schrecken
des
Holocaust
vor
Augen
führte.
Er
musste
dann
mit
seiner
Familie
noch
einige
Zeit
im
DP-Lager
Admont
in
der
Steiermark
verbringen,
bis
sie
nach
Israel
ausreisen
konnten.
In
Haifa
steigt
er
wieder
in
den
Buchhandel
ein,
macht
sich
wieder
mit
einem
Laden
selbstständig.
Er
arbeitet
bis
zur
Erschöpfung,
wird
krank,
hat
Probleme
mit
dem
Klima,
dazu
kommt,
dass
seine
Zweifel
am
Zionismus
ständig
wachsen.
Er
beschließt,
gegen
den
Willen
seiner
Frau,
die
nicht
im
Land
der
Täter
leben
will,
zurück
nach
Deutschland
zu
gehen.
Er
schreibt:
„Ich
habe
geglaubt,
dass
ich
mit
Deutschland
für
immer
gebrochen
habe.
Aber
ich
habe
mich
wohl
getäuscht
oder
es
mir
nur
eingebildet.
Im
Inneren
meines
Herzens
sehne
ich
mich
nach
Deutschland
zurück,
nach
der
deutschen
Sprache,
nach
der
deutschen
Kultur,
von
der
ich
annahm,
dass
sie
nicht
vollständig
von
den
Nazis
zerstört
worden
ist,
nach
der
deutschen
Landschaft,
die
ich
in
meiner
Jugend
lieben
gelernt
habe,
nach
dem
deutschen
Wetter
und
dem
deutschen
Unwetter.
Die
brennende
Sonne
in
Israel
macht
mich
krank.“
Die
Familie
lässt
sich
in
Köln
nieder.
Melzer
bekommt
eine
kleine
Summe
„Wiedergutmachungsgeld“
für
seine
verlorene
Existenz
in
Paris,
gründet
den
Joseph-Melzer-Verlag
und
gibt
bedeutende
Judaika
(etwa
die
Werke
von
Ludwig
Börne)
heraus.
Immer
am
Rand
des
Konkurses
kämpft
er
sich
mit
seinem
Verlag
durch.
Dann
nimmt
er
einen
jungen
Mann
in
das
Unternehmen
auf,
der
dem
Verlag
mit
einem
erweiterten
Programm
neuen
Schwung
gibt:
Jörg
Schröder.
Die
Herausgabe
des
erotischen
Romans
Geschichte
der
O.
wird
ein
Riesenerfolg
und
bringt
viel
Geld
ein.
Schröder
trennt
sich
dann
von
Melzer
und
gründet
den
März-Verlag
–
ein
„Komplott,
das
Schröder
hinter
meinem
Rücken
geschmiedet“
hat,
wie
er
schreibt.
Der
Sohn
Abraham
übernimmt
den
Melzer-Verlag.
Mit
der
Herausgabe
von
Comic-Büchern
(Prinz
Eisenherz)
und
linken
Büchern
– es
ist
die
68er
Zeit
–
versucht
dieser
den
Verlag
zu
retten.
Vergeblich,
1971
muss
er
Konkurs
anmelden.
Aber
die
Melzers
bleiben
im
Buchgeschäft.
Abraham
(genannt
„Abi“)
arbeitet
erfolgreich
für
andere
Verlage
und
gründet
einen
neuen
Verlag.
Der
Vater
betreibt
ein
gut
gehendes
Antiquariat,
das
er
später
verkaufen
kann,
um
sich
zur
Ruhe
zu
setzen.
Ein
sehr
bewegtes
Verleger-Leben
also,
das
allein
durch
seine
Schicksalhaftigkeit
und
wechselvolle
Buntheit
ein
Stück
deutsch-jüdischer
Kulturgeschichte
darstellt.
Melzer
hat
bedeutende
Bücher
aus
diesem
Themenbereich
herausgebracht
und
so
gut
wie
alle
bedeutenden
jüdischen
Intellektuellen
des
20.
Jahrhunderts
persönlich
gekannt.
Das
allein
macht
diese
Erinnerungen
schon
überaus
spannend
und
reizvoll.
Was
sie
als
Zeitdokument
auch
politisch
so
wertvoll
machen,
ist
der
innere
Entwicklungsprozess
Joseph
Melzers.
Einem
humanen
Judentum
in
seiner
Identität
zutiefst
verpflichtet
und
anfänglich
auch
–
aus
der
Not
heraus
–
für
den
Zionismus
aufgeschlossen,
weil
er
für
die
Juden
keine
andere
Ausweichmöglichkeit
als
Palästina
sah,
geht
er
im
Laufe
der
Jahre
und
mit
der
Erfahrung
von
zwei
längeren
Aufenthalten
in
Israel
immer
mehr
auf
Distanz
zur
Politik
dieses
Staates
und
zu
seiner
Ideologie.
So
lebt
Melzer
in
einem
ständigen
Spannungsverhältnis:
Vom
Staat
Israel,
den
er
eigentlich
liebt,
entfernt
er
sich
innerlich
zunehmend,
weil
er
einmal
die
Widersprüche
dieses
angeblich
„sozialistischen
Staates“
erkannte
und
verabscheute;
zum
anderen
sah
er
täglich
die
Ungerechtigkeiten
und
Diskriminierungen,
die
die
Zionisten
den
einheimischen
Arabern
antaten.
Außerdem
musste
er
mit
dem
Zwiespalt
leben,
den
er
gegenüber
Deutschland
spürte,
das
er
auf
der
einen
Seite
auch
liebte
und
als
seine
eigentliche
Heimat
betrachtete,
dem
er
aber
andererseits
als
dem
Land
der
Täter
mit
Misstrauen
begegnen
musste.
Seine
Urteile
über
den
„jüdischen
Staat“
werden
immer
unerbittlicher:
„Der
Kampf
der
Juden
um
den
Staat
Israel
nahm
also
unmerklich
die
Form
einer
imperialistischen
Politik
an.
Am
Ende,
es
bedurfte
dazu
noch
knapp
zehn
Jahre
der
Entwicklung,
ist
es
dazu
auch
gekommen,
genau
wie
[der
Palästinenser]
Ragib
al
Naschaschibi
es
[ihm]
vorhergesagt
hatte.
Den
Juden
gelang
es,
die
ursprüngliche
palästinensische
Bevölkerung
zu
vertreiben
und
einen
eigenen
–
jüdischen
Staat
– zu
errichten.
Damit
glichen
nun
die
Juden
allen
anderen
imperialistischen
und
kolonialistischen
Völkern,
die
in
die
Welt
auszogen,
um
Land
und
Bodenschätze
zu
gewinnen.
Aber
nicht
nur
politisch
glichen
sich
die
Juden
in
Israel
den
übrigen
‚Kulturvölkern‘
an.
Das
Volk
des
Buches
verwandelte
sich
zeitgemäß
in
ein
Volk
der
Technokraten
und
Soldaten
und
reproduzierte
all
die
Fehler
und
Sünden
der
Kolonisten.
Damit
war
es
den
Juden
tatsächlich
gelungen,
so
zu
werden
wie
die
anderen
Völker.“
Joseph
Melzer
schildert
hier
mit
großer
Eindringlichkeit
den
Konflikt,
den
das
Judentum
im
20.
Jahrhundert
durch
das
Aufkommen
des
Zionismus
und
die
Gründung
des
Staates
Israel
bis
an
den
Rand
der
Spaltung
bringt:
der
Konflikt
zwischen
nationalistischen
Partikularisten
(Zionisten)
und
den
an
der
Aufklärung,
den
Menschenrechten
und
dem
Völkerrecht
sich
orientierenden
Universalisten.
Er
bringt
das
auf
die
Formel:
„Das
Ziel
der
Zionisten
war
es
augenscheinlich,
dem
Judentum
den
Universalismus
auszutreiben
–
der,
wie
Hermann
Cohen
[deutsch-jüdischer
Philosoph]
meinte,
aus
der
messianischen
Mission
des
Judentums
stammt.
Das
Judentum,
sollte
auf
einen
Stammesglauben
reduziert
werden.“
An
anderer
Stelle
schreibt
er:
„Der
Zionismus,
der
oft
mit
dem
Judentum
verwechselt
wird,
versucht
mit
europäischem
Nationalismus
ein
Judentum
zu
formen,
das
keines
mehr
ist,
weil
es
nicht
mehr
den
Messias
erwartet
und
nicht
Gottes
Sinnesänderung,
die
nach
dem
Glauben
der
jüdischen
Orthodoxie
kommen
muss
und
kommen
wird.
Zwischen
dieser
Orthodoxie
und
dem
Zionismus,
der
am
Schabbat
Straßen
baut
und
am
Jom
Kippur
Kriege
führt,
kann
es
keine
Versöhnung
geben.
Joseph
Melzer
hat
die
großen
Katastrophen
des
20.
Jahrhunderts
erlebt
und
zum
Teil
buchstäblich
am
eigenen
Leibe
erlitten.
Dazu
hat
er
die
Widersprüche
und
Spaltungen
des
Judentums
nicht
nur
als
Zeitzeuge
beobachten
können,
er
hat
sie
–
oft
unter
großen
Leiden
und
Entbehrungen
– in
sich
selbst
ausgetragen.
Er
schreibt
am
Ende
seiner
Erinnerungen,
sein
Leben
sei
„ein
gewöhnliches
jüdisches
Schicksal“
gewesen.
Aber
das
nimmt
man
ihm
nicht
ab.
Gerade
die
Außergewöhnlichkeit
seines
Schicksals
macht
seine
Lebenserinnerungen
so
überaus
lesenswert.
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