Der Antisemitismus-Vorwurf als Rufmord
Wolfgang Gehrcke zeigt in seinem neuen Buch auf, wie
angeblicher Judenhass zum Kampfbegriff gegen Linke
gemacht wird
Arn
Strohmeyer
Es ist
ein Paradox, dass die politischen Kräfte, die historisch
am meisten mit dem Antisemitismus belastet sind,
ausgerechnet Linken und ganz besonders der Partei
gleichen Namens permanent Antisemitismus unterstellen,
ja Kampagnen fahren, die auch vor Denunziation und
Rufmord nicht zurückschrecken. „Rufmord“ heißt denn auch
das Buch des Bundestagsabgeordneten der Linkspartei
Wolfgang Gehrcke, das die Strategien und Methoden
offenlegt, mit denen besagte politische Kräfte in dieser
Hinsicht vorgehen. Der Autor arbeitet dabei sehr klar
heraus, dass Antisemitismus-Kampagnen gegen linke
Bewegungen in erster Linie subversive Absichten
verfolgen, das heißt, sie sollen „mitten ins Herz des
politischen und moralischen Selbstverständnisses der
Linken zielen –auf soziale Gerechtigkeit, Frieden und
angeblichen Antisemitismus.“
Diese
Kampagnen sollen die ganze Partei und deren führende
Repräsentanten, aber auch einzelne politisch unabhängige
Persönlichkeiten, die sich selbst als „links“ bezeichnen
wie etwa Günter Grass oder Jakob Augstein, desavouieren
oder mundtot machen und damit das linke Selbstbild
zerstören, das das etablierte Machtsystem als ständige
Bedrohung empfindet. Natürlich sollen solche Kampagnen
auch Zwietracht und Verwirrung in die Reihen der Linken
tragen, um diese zu diffamieren, auszugrenzen und zu
schwächen – eine infame Strategie, die – man muss es
sagen – in der Vergangenheit aber oft erfolgreich war,
denn die Linke spricht, was den Konflikt zwischen Israel
und den Palästinensern betrifft, leider nicht mit einer
Sprache.
Dass es
bei solchen Antisemitismus-Kampagnen zumeist gar nicht
um Antisemitismus geht, sondern nur um die Zerstörung
des politischen Gegners, legt Gehrcke überzeugend dar,
auch welche politischen Gruppierungen, Parteien und
Netzwerke daran beteiligt sind. Unterstützung erhält er
in seiner Argumentation von der Wissenschaft: Umfragen
und Untersuchungen verschiedener Träger (der
Expertenbericht der Bundesregierung, die Arbeit des
Konstanzer Soziologen Wilhelm Kempf, Studien der
Friedrich-Ebert-Stiftung und der Universität Bielefeld)
belegen alle das ziemlich stabile Muster, dass der
Antisemitismus im politischen Spektrum von links nach
rechts zunimmt. Das heißt, dass Anhänger von CDU/CSU,
SPD und Grünen höhere Antisemitismus-Werte aufweisen als
Anhänger der Linken, ob sie nun dieser Partei angehören
oder nicht.
Der
permanente Vorwurf, dass der Antisemitismus eine
Grundposition der Linken ist, kann also nur als Schimäre
bezeichnet werden, ein Wahngebilde und sonst nichts.
Dass die Mainstream-Medien solche Ergebnisse aber gar
nicht zur Kenntnis nehmen und die Gleichung links =
antisemitisch permanent wiederholen, sagt viel über den
Zustand dieser Medien und die politische Kultur in
Deutschland aus, um die es nicht zum Besten steht.
Gehrcke schreibt: „Es drängt sich der Verdacht auf, das
Verschweigen [der Umfrageergebnisse] habe damit zu tun,
dass dieses Ergebnis ihnen allen gegen den Strich geht.
Was nicht in den Rahmen der Anti-Linken-Kampagne passt,
was verhindert, dass sich das Stereotyp vom linken
Antisemitismus festsetzt, findet nicht statt.“
Dass
gerade alles, was links ist, und die Partei dieser
Richtung besonders aggressiv mit dem
Antisemitismus-Vorwurf attackiert werden, hängt
natürlich damit zusammen, dass Linke seit jeher was
Menschenrechte und Völkerrecht angeht bis heute eine
universalistische Werte-Tradition haben, was ja auch
heißt, dass sie viel sensibler auf Verstöße gegen
Völkerrecht und Menschenrechte reagieren, in diesem Fall
Israels Verbrechen an den Palästinensern sehr direkt
ansprechen. Da nach der deutschen philosemitischen
Staatsräson aber jede Kritik an Israel „antisemitisch“
ist, geraten da natürlich Linke und die Linkspartei ganz
besonders ins Visier. Wie wenig eine kritische Sicht auf
Israels Politik aber mit wirklichem Antisemitismus zu
tun hat, legt Gehrcke überzeugend dar. Denn wirklicher
Antisemitismus ist eine äußerst inhumane Form des
Rassismus, die an Israel gestellte Forderung nach
Erfüllung und Einhaltung von Völkerrecht und
Menschenrechten ist aber ein sehr humaner und
selbstverständlicher Anspruch.
Der Autor
argumentiert sehr vorsichtig und hütet sich, als
Linken-Politiker zu weit zu gehen, um nicht Vorwände für
neue Attacken zu liefern. So fehlt in seinem Buch eine
klare und unmissverständliche Auseinandersetzung mit dem
Zionismus, den Petra Wild in geradezu klassischer Weise
mit ihrer Definition als Siedlerkolonialismus geliefert
hat: „Der reine Siedlerkolonialismus, für den Israel ein
Beispiel ist, strebt danach, die einheimische
Bevölkerung durch eine eingewanderte Siedlerbevölkerung
vollständig zu ersetzen. Die Grenzen werden stets weiter
nach vorne verschoben und die einheimische Bevölkerung
wird auf stets kleiner werdenden Flächen
zusammengedrängt, um ihr Land und ihre Ressourcen für
die Siedlerbevölkerung freizumachen. Charakteristisch
für siedlerkolonialistische Gebilde sind neben
territorialer Expansion ein ausgeprägter Rassismus in
der Siedlerbevölkerung und die Behauptung, das Land sei
menschenleer gewesen, als die Siedler kamen.“ Selbst in
Israel mehrt sich die Kritik an dieser Ideologie, die
für die brutale Besatzungspolitik und die Unterdrückung
der Palästinenser verantwortlich ist und von der der
israelische Philosoph Omri Boehm sagt: „Der Zionismus
ist nicht vereinbar mit humanen Werten.“
Ständig
wiederholen Gehrcke und auch Beschlüsse der Gremien
seiner Partei die Formel, dass das Existenzrecht Israels
nicht bestritten werden dürfe. Da muss man aber fragen:
Wer bestreitet das eigentlich? Selbst die schärfsten
Kritiker der israelischen Politik tun das nicht und
weisen diese Unterstellung zurück, die nichts als ein
Teil der israelischen Propaganda ist. Man darf doch wohl
darauf hinweisen, dass es im Völkerrecht den Begriff des
Existenzrechts gar nicht gibt, denn wenn ein Staat einen
anderen anerkennt, erkennt er natürlich auch seine
Existenz an. Zudem: Wenn man Israels Forderung nach
Anerkennung seines Existenzrechts ernst nehmen würde,
hätte man doch ein Recht darauf zu wissen, welchem Staat
mit welchen Grenzen man da das Existenzrecht zusprechen
soll. Israels heutige Grenzen verlaufen – weitere
Expansion nicht ausgeschlossen – irgendwo zwischen
Mittelmeer und Jordan. Man möchte aber genau wissen,
welcher Staat Israel mit welchen Grenzen ein
Existenzrecht hat. Dazu sagt Gehrcke nichts.
Eine
realistische Sicht auf den nun schon über hundert Jahre
andauernden Konflikt zwischen Juden und Palästinensern
kann es aber nur geben, wenn man sehr sauber zwischen
den Begriffen Judentum, Israel und Zionismus und
entsprechend zwischen Antisemitismus, Kritik an Israels
Politik und Antizionismus unterscheidet. Tut man das
nicht, muss man zu ungenauen oder sogar falschen
politischen Schlussfolgerungen kommen. Eine solche
klarere begriffliche Trennung an dieser Stelle hätte
Gehrckes Buch gut getan. Er geht in diesem Zusammenhang
auch nicht auf die sehr wichtige Frage ein, welche
Funktion die Antisemitismus-Kampagnen Israels und seiner
Lobbyisten haben: Nämlich von den permanenten
Verletzungen von Völkerrecht und Menschenrechten
abzulenken, die Israel begeht, und den „terroristischen“
Palästinensern alle Schuld für die Gewalt dort
zuzuschieben. Gut zu erkennen war dieser Vorgang im
Juli/ August des vergangenen Jahres, als Israel den
Gazastreifen in Schutt und Asche bombte und dabei auch
keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nahm. Als es in
deutschen Städten angesichts dieses äußerst gewaltsamen
und völlig unverhältnismäßigen Vorgehens Demonstrationen
und Proteste gab, inszenierten die Israel-Lobbyisten
sofort eine Kampagne „gegen den zunehmenden
Antisemitismus“. Ein reines Ablenkungsmanöver von dem
grausamen Geschehen in Gaza. Was den früheren
israelischen Botschafter in Berlin, Avi Primor, zu der Bemerkung
veranlasste: „Der Hass auf Israel nimmt nicht zu, aber
die Sympathien für diesen Staat nehmen ab.“
Ein
zusätzlicher Beleg des hier Gesagten: Israels
Regierungschef Netanjahu hat ja gerade (mit
anschließendem zweifelhaftem Widerruf) erklärt, dass die
Palästinenser so „antisemitisch“ seien, dass ihr Führer
Husseini, Hitler sogar zum Holocaust überreden konnte.
Auf solche völlig absurden, aber in der politischen
Realität gewichtigen propagandistischen
Instrumentalisierungen des Antisemitismus-Vorwurfs der
israelischen Politik geht der Politiker Gehrcke leider
nicht ein, was aber kein Argument gegen sein sehr
lesens- und empfehlenswertes Buch ist.
Wolfgang
Gehrcke: Rufmord. Die Antisemitismus-Kampagne gegen
links, Papyrossa-Verlag Köln, ISBN 978-3-89438-586-6,
12,90 Euro
8.11.2015