Arn Strohmeyer
Eine
„infernalisches High-Tech-Massaker“
und einen „Rückfall in die Barbarei“ nennt Norman
Finkelstein in seinem neuen Buch „Israels Invasion in
Gaza“ den Überfall auf das dicht besiedelte
palästinensische Gebiet unter Hamas-Kontrolle. Die
„Wertegemeinschaft“ der westlichen Staaten und auch die
meisten führenden Intellektuellen (ganz besonders die
Israels!) sahen dem Morden schweigend zu und fanden
sogar rechtfertigende Worte, weil Israel ja schließlich
von den Raketen der Hamas bedroht worden sei. Die Zahlen
sind bekannt, aber Finkelstein nennt sie noch einmal für
alle, die es nicht wissen oder nicht wissen wollen: In
den fast zehn Jahren von 2001 bis zum Beginn des Krieges
im Dezember 2008 sind nicht einmal zwanzig Tote auf
israelischer Seite durch Qasam-Raketen zu beklagen
gewesen, auf palästinensischer Seite in Gaza haben die
immer wieder stattfindenden militärischen Überfälle und
Liquidierungsaktionen Israels Hunderte von Menschenleben
gefordert. Im Krieg kamen dann noch 1400 Tote hinzu. Wie
viele Menschen ihr Leben inzwischen aufgrund der
israelischen Abriegelungs- und Blockadepolitik wegen
schlechter Versorgung und fehlender Medikamente verloren
haben, lässt sich gar nicht ermitteln. Und wer kennt die
Zahl der Krüppel und Traumatisierten?
Der Beschuss mit den selbst gebastelten
Qassam-Raketen, der ja mehr ein symbolischer Akt des
verzweifelten Sich-Wehrens in einer hoffnungslosen
Belagerungssituation ist (sollten die eingeschlossenen
und auf „Diät“ gesetzten und zum Elend verurteilten
Palästinenser Dankesbriefe und Blumensträuße nach Israel
schicken?), kann also das auschlaggebende Kriegsmotiv
für die Israelis nicht gewesen sein. Was war es dann?
Finkelstein nennt als erstes Motiv Israels radikale
Ablehnung jeglicher Verhandlungsbereitschaft mit der
Hamas. Sie hatte 2006 freie Wahlen gewonnen und wäre ein
legitimer Gesprächspartner gewesen. Diesem
„Friedensdruck“ wollte das militärische und politische
Establishment in Jerusalem sich unter keinen Umständen
beugen.
Finkelstein schreibt: „Eine lang
anhaltende Waffenruhe würde die Aufmerksamkeit auf den
in Worten und Taten zum Ausdruck gekommenen Pragmatismus
der Hamas lenken, den internationalen Druck auf das
verhandlungsunwillige Israel ansteigen lassen und somit
das strategische Ziel Israels untergraben, sich die
wertvollen Teile des Westjordanlandes einzuverleiben.
Der Angriff auf die Hamas war bereits im März 2007
beschlossene Sache. Der Waffenruhe vom Juni 2008 stimmte
Israel nur zu, weil die israelische Armee Zeit zur
Vorbereitung brauchte.“ Letzteres hat der israelische
Verteidigungsminister Ehud Barak zugegeben.
An anderer Stelle schreibt Finkelstein:
„Aus der Sicht Israels galt es in jedem Fall, die Hamas
zu einer Wiederaufnahme ihrer Angriffe [mit Qassam] zu
verleiten und sie anschließend zu radikalisieren oder zu
vernichten, um sich so die legitime
Verhandlungspartnerin vom Hals zu schaffen
beziehungsweise den Weg frei zu machen für eine
Konfliktbereinigung nach israelischem Geschmack.“ Die
Hamas musste also mit allen Mitteln ausgeschaltet
werden.
Das zweite Kriegsmotiv wurde von den
Israelis freimütig zugegeben: die „Wiederherstellung
ihrer Abschreckungsfähigkeit“. Damit war und ist nicht
gemeint, dass Israel in der Lage sein soll, sich gegen
die Bedrohungen von außen zu wehren, was ja
nachvollziehbar wäre. Ariel Sharon hat warnend
ausgesprochen, was mit „Abschreckungsfähigkeit“ gemeint
ist: „Israel verliert seine Fähigkeit zur Abschreckung
(...) unsere wichtigste Waffe - die Angst vor uns!“ Die
Nachbarn Israels müssen also ständig Angst vor diesem
Staat haben - das ist es! Denn es bestand aus
israelischer Sicht nach der militärischen Schlappe gegen
die Hisbollah im Libanon-Krieg 2006 die Gefahr, dass
Israels Feinde keine Angst mehr vor ihm haben!
Man sprach in der israelischen Regierung
sogar von der „völligen Zerstörung Gazas“. Es sollte
„möglich“ sein, „Gaza zu vernichten, damit sie kapieren,
dass sie sich besser nicht mit uns anlegen“, sagte der
stellvertretende israelische Ministerpräsident Eli
Jaschai drohend. Und weil das Libanon-Desaster sich
nicht wiederholen sollte, musste es diesmal ein Ziel
sein, das kein Risiko darstellte - eben die wehrlose
Zivilbevölkerung Gazas und die militärisch völlig
bedeutungslose Hamas, die im Krieg dann auch so gut wie
keinen Widerstand geleistet hat. Es ist so etwas wie ein
ehernes Gesetz der israelischen Politik: Alle Akteure,
die sich der regionalen Hegemonie Israels nicht
unterordnen wollen, müssen in die Knie gezwungen werden.
Opfer spielen da keine Rolle. Um die Nachbarn in Angst
und Schrecken zu versetzen und Israels Nationalstolz -
in der Sprache der Militärs und Politiker:
„Abschreckungsfähigkeit" - wieder herzustellen, wurde in
Gaza „eine ganze Zivilisation vernichtet“, so die
UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Mary Robinson.
Man kennt die Einzelheiten dessen, was in
den schrecklichen 22 Kriegstagen an der Jahreswende
2008/2009 geschah, in denen Gaza „von Tod und
Verwüstung“ heimgesucht wurde (Amnesty International) -
eben ein „infernalisches High-Tech-Massaker“ stattfand.
Man muss die Details des Grauens hier nicht wiederholen,
sie sind hinlänglich bekannt. Die anschließende Arbeit
der von der UNO eingesetzten Goldstone-Kommission war
exzellent, indem sie klar konstatierte: Israel hat
vielfach vorsätzlich gehandelt, als es in Gaza
Zivilisten tötete und die zivile Infrastruktur zum
größten Teil zerstörte. Und: Die unverhältnismäßige
Zerstörung und die gegen die Zivilisten gerichtete
Gewalt sei politisch gewollt gewesen ebenso wie die
Demütigung und Dehumanisierung des palästinensischen
Volkes. Dass Israel wieder keine Verantwortung für sein
Tun übernehmen musste, verwundert nicht. Die
internationale Gemeinschaft hat das Morden schweigend
oder sogar zustimmend zur Kenntnis genommen und keine
Konsequenzen gefordert und Israel nicht zur Rechenschaft
gezogen - das ist der eigentliche Skandal.
Wenn Israel und seine Anhänger bisher
durch das Beschwören des Holocaust und des „neuen
Antisemitismus“ jede Kritik am kriegerischen Verhalten
des Landes abwehren konnten, indem sie behaupten, dass
Israel nach dem Leiden der Juden unter den Nazis nicht
nach gängigen moralisch-rechtlichen Normen beurteilt
werden dürfe, dass ihm - mit anderen Worten - alles
erlaubt sei, so meint Finkelstein, dass diese
Argumentation durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung
an Überzeugungskraft verliere. Außerdem sieht er im
Gaza-Krieg eine Zäsur für die Entwicklung innerhalb des
Judentums - vor allem in den USA. Die Zustimmung zu
Israels Politik nehme dort rapide ab und die Kritik und
der Widerstand dagegen wüchsen an. Man kann nur hoffen,
dass er mit dieser Beurteilung richtig liegt.
Einzelne jüdische Stimmen weisen
jedenfalls in diese Richtung. Wie etwa die des
prominenten britischen Politikers Gerald Kaufmann, der
im Unterhaus erklärte: „Meine Großmutter, die in Polen
von einem deutschen Soldaten in ihrem Bett erschossen
wurde, ist nicht gestorben, um israelischen Soldaten,
die palästinensische Großmütter in Gaza ermorden, als
Alibi zu dienen.“ Er warf der israelischen Regierung
vor, sie habe „die anhaltenden Schuldgefühle der
Nichtjuden über das Abschlachten der Juden während des
Holocaust zynisch und schamlos ausgenutzt, um ihre Morde
an Palästinensern zu rechtfertigen.“ In Frankreich
forderte der populäre jüdische Autor Jean Moise
Braitberg den israelischen Präsidenten auf, den Namen
seines Großvaters aus der Holocaust-Gedenkstätte Jad
Vaschem in Jerusalem zu entfernen, „damit er nicht
länger zur Rechtfertigung des entsetzlichen Leids
missbraucht werden kann, das den Palästinensern angetan
wird.“
Finkelstein hat - wie man es von ihm
gewohnt ist - ein brillantes Buch geschrieben. Sein
größter Wert liegt darin, die ideologischen Hintergründe
und die direkten Mechanismen der israelischen Politik
offenzulegen, die in Deutschland immer noch mit Tabus
belegt sind.
Finkelstein, Norman: Israels Invasion in
Gaza, Edition Nautilus, Hamburg 2011, ISBN
978-3-89401-737-8, 14,80 Euro