Was über Bremer Friedensfreunde
hereinbrach, als sie sich dem Boykott gegen Früchte aus
Israel anschlossen
Von Arn
Strohmeyer
So viel verbaler Unrat ist selten auf
friedliche Demonstranten geworfen worden wie in diesen Tagen
auf die Pazifisten des Bremer Friedensforums. Diese Gruppe
kämpft seit Jahrzehnten unermüdlich an allen Fronten gegen
Krieg, Gewalt, Rüstung und Bruch der Menschenrechte. Nun hat
sich auch schon lange nach Bremen herumgesprochen, dass
Israels nun schon seit über vier Jahrzehnten andauernde
Besetzung des Westjordanlandes und die Blockade des
Gaza-Streifens eine schwere Verletzung des Völkerrechts und
der Menschenrechtscharta sind, von Moral und jüdischer
Ethik, an die gerade viele Juden erinnern, ganz zu
schweigen. Nach langer intensiver Diskussion über die
inzwischen in der ganzen Welt stattfindenden (und auch von
vielen Juden unterstützten) Boykottaktionen, beschloss das
Friedensforum, auch einen kleinen Beitrag zu leisten und mit
seiner Boykottaktion Druck auf Israel auszuüben, die
völkerrechtswidrige Annexion und Besiedlung des
Westjordanlandes aufzugeben.
Dass man auch in Israel beginnt, die Zeichen
der Zeit zu verstehen, bewies in der vergangenen Woche
Verteidigungsminister Ehud Barak, als er Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu warnte weiter tatenlos zuzuschauen, wie
Israel in der Welt politisch immer mehr in die Isolation
gerate. Denn gerade hatte in der UNO Israels engster
Verbündeter Deutschland für eine Resolution gestimmt, die
Israels Siedlungspolitik verurteilte. Das einzige Veto kam -
wie immer - von den USA. In derselben Woche trat auch ein
hoher israelischer Diplomat von seinem Posten zurück. Er gab
an, Israels Politik nicht mehr vertreten zu können. Die Zeit
schien also günstig für eine Boykottaktion.
Das Bremer Friedensforum stellte ein
Flugblatt für seine Demonstration her, in dem es klar und
eindeutig die Gründe für seine Boykottaktion gegen Israels
Früchte aus den besetzten Gebieten begründete: Israel darf
nach einem Urteil des europäischen Gerichtshofes (die
höchste Gerichtsinstanz in den EU-Ländern) aus dem Jahr 2010
keine Früchte aus den besetzten palästinensischen Gebieten
in die EU unter dem Markenzeichen „Made in Israel“
einführen, weil diese Gebiete völkerrechtlich nicht zu
Israel gehören. Früchte aus den palästinensischen Gebieten
müssen separat ausgezeichnet werden. Das tut Israel aber
nicht, es exportiert seine Produkte weiter unter dem Label
„Made in Israel“. Die EU lässt es geschehen und setzt ihr
eigenes höchst richterliches Urteil nicht durch.
Das Bremer Friedensforum hat diesen
Sachverhalt auf seinem Flugblatt erklärt und auch
hinzugefügt, dass sich sein Protest nicht gegen Juden oder
Bürger Israels richtet, sondern gegen die Politik der
israelischen Regierung, die sich nicht an internationale
Konventionen und das Völkerrecht hält. Wie man aus diesem
Text Parallelen zur sogenannten „Reichskristallnacht“ ziehen
kann, wo SA-Leute vor jüdischen Geschäften mit Schildern
„Deutsche wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ aufzogen,
bleibt das Geheimnis dieser Leute. Denn damals ging es um
die Diskriminierung und Terrorisierung einer Minderheit der
Bevölkerung, hier um den Protest gegen die Politik einer
Regierung.
Was dann über die Bremer Pazifisten
hereinbrach, könnte sich kein Autor eines Schauer- oder
Gruselromans besser ausdenken. Den Anfang machte die „linke“
TAZ. Dort fand sich über das Anliegen und die Motive der
Bremer Friedensaktivisten kein Wort, dafür hatte der Bremer
TAZ-Redakteur Benno Schirrmeister aber ein Interview mit dem
Landtagsabgeordneten der Grünen und Vorsitzenden der
Deutsch-Israelischen Gesellschaft Hermann Kuhn gemacht. Der
hatte nichts anderes zu sagen als „blanker Antisemitismus!“
Der Bremer Weser-Kurier berichtete sehr ausgewogen, ließ
beide Seiten zu Wort kommen, stellte diese Berichterstattung
aber selbst wieder in Frage, indem er ein Interview mit dem
Direktor des Moses-Mendelsohn-Zentrums für europäische
jüdische Studien in Potsdam, Julius Schoeps, brachte, das
ausgerechnet der bekannteste Bremer „Antideutsche“ geführt
hatte. Tenor des Interviews: Blanker Antisemitismus!
Natürlich meldete sich auch BILD zu Wort,
sprach von „Hetze gegen Israel“ und schrieb weiter, dass die
Bilder dieser Aktion „an das dunkelste Kapitel deutscher
Geschichte“ erinnere. Sogar in Israel wurde die
Boykott-Aktion wahrgenommen. Die „Jerusalem Post“ ließ in
einem Interview Dieter Graumann, den Vorsitzenden des
Zentralrats der Juden in Deutschland zu Wort kommen. Tenor:
Blanker Antisemitismus!
Auch über den Verfasser dieser Zeilen, der an
der Aktion teilgenommen hatte, und über die Bremer
Linkspartei, die es gewagt hatte, auf ihrer Webseite über
die Boykottaktion objektiv zu berichten, brach eine
regelrechte verbale Schlammflut herein. Ein Erlanger
Israel-Freund schickte das berühmt-berüchtigte Foto mit den
SA-Schlägern vor jüdischen Geschäften. Daneben hatte er das
Foto gestellt, auf dem vier Bremer Friedenaktivisten mit
umgehängten Pappschildern friedlich vor dem Supermarkt
stehen und sich für den Boykott israelischer Früchte stark
machen.
Volkes Seele kochte, hier einige weitere
Beispiele bedeutender „Diskussionsbeiträge“ für einen
Nahost-Frieden und zur Einhaltung internationaler Verträge,
Urteile und Konventionen durch Israels Regierung:
„Unfassbar, Worte fehlen mir! Wann findet die Fusion der NPD
mit der Linken statt? 70 Jahre nach Auschwitz fordern
Deutsche auf ‚Kauft nicht bei Juden!‘ Pfui. wirklich pfui!“
Ein anderer schrieb: „Ich finde Euch widerwärtiger als die
echten Nazis. Ich habe für Euch nur tiefen Ekel und
Verachtung übrig. Ihr seid für mich der größtmögliche
vorstellbare Dreck!“
Das Internet-Portal „Politically incorrect“
schrieb: „Sozialisten und Judenhasser sind wohl identisch.
Die offensichtliche Parallele der Untaten der
Nationalsozialisten ist auch den Sozialisten in Bremen
aufgefallen, weshalb man wohl in Bremen auf Uniformen
verzichtet hat!“ Einer warf dem Verfasser dieser Zeilen vor,
in Bremen „zur Hetzjagd auf Juden aufgerufen“ zu haben. Ein
anderer meinte, es sei höchste Zeit, dass der Mossad diesen
Hetzern einen Besuch abstatten sollte, was man wohl als
Morddrohung ansehen kann, da dieser israelische Geheimdienst
ja für seine Liquidierungsaktionen bekannt ist.
Der deutsch-jüdische Psychoanalytiker und
Philosoph Erich Fromm hat einmal ein einfaches, aber sehr
einsichtiges Beispiel für zwischenmenschliche Psychologie
vorgebracht: Wenn Peter etwas über Paul aussagt, sagt das
vielmehr über ihn selbst (Peter) aus als über Paul. Auf das
hier vorliegend aktuelle Beispiel angewandt muss man fragen:
Was geht in den Köpfen dieser Leute vor? Fehlt ihnen jedes
historische und politische Wissen und
Unterscheidungsvermögen? Ist heute wirklich derjenige ein
Antisemit, der von Israel nichts als die Einhaltung
internationaler Verträge, Konventionen und Urteile verlangt
und sich dagegen wendet, dass Israel unter Berufung auf den
Holocaust sein Prinzip „uns ist alles erlaubt“ praktiziert?
Sind Friedensaktivisten, die Menschenrechte
und Selbstbestimmung - so wie sie Israel für sich selbst in
Anspruch nimmt - auch für die Palästinenser fordern, mit den
SS-Schergen in Auschwitz gleichzusetzen? Wäre es nicht auch
in Israels ureigenem Interesse, seinen verhängnisvollen
politischen Kurs der Besatzung und Beherrschung eines ganzen
Volkes aufzugeben - um der eigenen Zukunft willen? Ich
könnte hier eine lange Liste von Juden aufzählen, die das
genau so sehen und vor der Fortsetzung dieses Kurses warnen,
weil sie sich um das Überleben des jüdischen Staates sorgen.
Darf Israel wirklich alles, ohne sich an Recht und Gesetz zu
halten? Steht hier nicht der gesamte Werte-Kanon des Westens
auf dem Spiel?
Man muss an dieser Stelle auch den „neuen“
Antisemitismusbegriff erwähnen, den Israel in die
Auseinandersetzung gebracht hat. Früher war ein Antisemit
derjenige, der behauptete, dass den Juden auf Grund
bestimmter rassischer Merkmale schlechte Eigenschaften
zukämen. Auf diese Weise wurden die Juden zu „Untermenschen“
gemacht. Die Folgen sind bekannt. Heute ist jeder ein
Antisemit, der Israels Politik kritisiert. Eine geniale
Definition angesichts der Politik eines Staates, den das
internationale Recht nicht interessiert. Äußerst merkwürdig
ist diese Definition auch deshalb, weil Israel und seine
Anhänger immer wieder stolz betonen, dass dieser Staat die
einzige Demokratie im Nahen Osten sei. Aber Demokratien
zeichnen sich gerade dadurch aus - ja es ist ihr
Wesenselement - , dass über ihre Politik frei und offen
diskutiert werden kann und man diese durch andere Mehrheiten
auch ändern kann.
Dürfen Deutsche Israels Politik kritisieren
oder sogar - wie in Bremen geschehen - sogar gegen sie
demonstrieren? Mir fallen auf diese Frage nur die zutiefst
humanen Sätze ein, die der des israelische
Literaturwissenschaftler Ran Hacohen formuliert hat: "Der
Missbrauch von angeblichem Antisemitismus ist moralisch
verabscheuungswürdig. Es waren Hunderte von Jahren nötig und
Millionen von Opfern, um Antisemitismus - eine spezielle
Form des Rassismus, der historisch zum Genozid führte - in
ein Tabu zu verwandeln. Menschen, die dieses Tabu
missbrauchen, um Israels rassistische und und genozidale
Politik gegenüber den Palästinensern zu unterstützen, tun
nichts anderes, als die Erinnerung an jene jüdischen Opfer
zu schänden, deren Tod aus humanistischer Perspektive nur
insofern Sinn hat, als er eine ewige Warnung an die
Menschheit ist vor jeder Art von Diskriminierung, Rassismus
und Genozid."
Den Holocaust als universalistisches
Vermächtnis für eine humanere Welt zu sehen und nicht als
Vermächtnis für Israels chauvinistische und ethnozentrische
Politik - das wollen diese Worte sagen. Darf man Israel also
kritisieren? Ich muss noch einen sehr human denkenden Juden
zitieren, den Tübinger Philosophie-Professor Ernst Tugendhat.
Er hat zum Antisemitismus-Problem folgendermaßen Stellung
genommen: „Wer Juden, nur weil sie Juden sind, für gut und
nicht kritisierbar erklärt, ist, was man einen Philosemiten
bezeichnen kann. Es ist leicht zu sehen, dass der
Philosemitismus in der Befürchtung gründet, als Antisemit zu
erscheinen und also im Antisemitismus seinen Grund hat. Man
kann sich vom Antisemitismus nicht befreien, indem man Juden
nicht für kritisierbar erklärt, sondern nur, indem man sich
zu ihnen wie zu normalen Menschen verhält, die wie alle
Menschen je nach den Umständen, in dem was sie tun,
kritisiert oder gelobt werden können.“ Der
Antisemitismus-Vorwurf fällt also direkt auf seine Urheber
zurück.
Die Reaktionen auf die Bremer Boykottaktion
belegt, dass man in weiten Kreisen der Bevölkerung auch nach
über sechzig Jahren mit der Aufarbeitung der furchtbaren
deutschen Vergangenheit noch nicht allzu weit gekommen ist.
Diese Reaktionen haben mit Sicherheit und Seriosität des
Urteil nichts, aber auch gar nichts zu tun. Auch von einem
„normalen“ Verhältnis zu Israel, das im Sinne Ernst
Tugendhats auch Kritik einschließt, ist man noch weit
entfernt. Die irrationale Schlammflut, die da wegen des
Bremer Protestes über die Friedensaktivisten hereingebrochen
ist, nur weil sie Menschenrechte auch für Palästinenser
einfordern, bestätigt da nicht nur Zweifel, sie könnte einen
auch verzweifeln lassen, gäbe es da nicht auch ganz andere
Stimmen.
Da meldete sich im vergangenen Jahr nach
einem Deutschland-Besuch der Israeli Yossi Wolfson zu Wort
und schrieb der deutschen „Linken“ einige markante Sätze ins
Stammbuch wie etwa diese: „In Deutschland wurde mir klar,
dass es in der deutschen Linken eine lautstarke Gruppe gibt,
die die Solidarität mit meinem Kampf [gegen die
Unterdrückung der Palästinenser und für eine friedliche
Zukunft Israels] als antisemitisch bezeichnet und mich
selbst als einen mit Selbsthass infizierten Juden. Wie in
einer auf den Kopf gestellten Welt werden die israelischen
Generäle-Politiker, die die Unterdrückung in den besetzten
Gebieten ins Werk setzen, und der extrem rechten
israelischen Regierung an die Macht verholfen haben, von
diesen Leuten innerhalb der deutschen Linken zu Helden
erklärt. Der israelische Soldat, der seine Aufgabe, die
palästinensische Zivilbevölkerung zu unterdrücken, erfüllt,
ist für gewisse deutsche Linke ein Vorbild.“
Yossi Wolfson hat sich in Deutschland immer
wieder die Frage gestellt, wenn er mit solchen Leuten
zusammentraf, ob er sich „in einen Albtraum“ verirrt habe.
„Wie kann es sein, dass solche Stimmen aus der deutschen
Linken kommen?“, fragt er sich immer wieder. Seine
Schlussbilanz: „In dieser verkehrten Welt geschieht die
Verleumdung von allem, was in meinen Augen mit dem Begriff
„links“ verbunden ist, ausgerechnet in meinem Namen, im
Namen meiner Mutter und meines Vaters, der ermordeten Juden
und des vernichteten deutschen Judentums! Diese neue Rechte,
die vorgibt, eine Linke zu sein, missbraucht die Opfer der
Naziherrschaft, angeblich für mein Leben und meine Zukunft!“
In diesem guten Sinne fühlen sich auch die
Bremer Boykotteure weiter als „links“.
Flugblatt für den 18.3.2011