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Detaillierte Augenzeugenberichte von der
brutalen Realität der Besatzung
Ekkehart
Drost hat ein aufrüttelndes Buch über den israelischen
Siedlerkolonialismus geschrieben
Arn
Strohmeyer
Offiziellen
israelischen Verlautbarungen zufolge gibt es eigentlich gar
keine Besatzung. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wird
nicht müde, diese Feststellung zu wiederholen, und die
meisten Israelis nehmen ihm das auch ab. Auf vielen
Landkarten ist das Westjordanland denn auch schon
annektiert, Grenzen zu Israel sind nicht mehr eingezeichnet.
Dieses Gebiet, das als „Judäa und Samaria“ bezeichnet wird,
ist für die Zionisten das eigentliche historische jüdische
Kernland – und dorthin zurückzukehren, kann eben nicht
illegal sein. Dass da mehr als 2000 Jahre dazwischen liegen,
dass dort seit vorgeschichtlicher Zeit auch Angehörige
vieler anderer Völker gesiedelt haben und dass die Mehrheit
der Juden wegen Missionierung und Konversion (siehe die
Ausführungen des israelischen Historikers Shlomo Sand in
seinem Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“) keineswegs
aus dem sogenannten „Heiligen Land“ stammt, was interessiert
das machtbewusste Zionisten? Die Mythen und Legenden sind
immer noch wirkmächtiger als die historische Wahrheit.
Selbst der
Zionistenführer und erste Ministerpräsident Israels, David
Ben Gurion, war sich des Unrechts, das die Zionisten den
Palästinensern antaten, voll bewusst. Er schrieb 1938:
„Warum sollten die Araber mit uns Frieden schließen? Wäre
ich selbst ein arabischer Führer, würde ich niemals mit
Israel verhandeln. Das ist ganz natürlich: Wir haben deren
Land geraubt. Sicher, Gott hat es uns versprochen, aber was
geht die das an? Unser Gott ist nicht deren Gott. Wir
stammen aus Israel, aber das ist 2000 Jahre her und was
interessiert die das? Es gab Antisemitismus, die Nazis,
Auschwitz, aber war das deren Schuld? Das einzige, was die
sehen, ist: Wir kamen her und stahlen ihr Land. Warum
sollten sie das akzeptieren?"
Ehrliche,
aber äußerst zynische Worte. Der revisionistische
Zionistenführer Wladimir Zeev Jabotinsky formulierte
denselben Sachverhalt so: „Hat man je ein Volk gesehen, das
sein eigenes Land hergibt? Desgleichen werden die arabischen
Palästinenser auf ihre Souveranität nicht ohne Gewalt
verzichten.“ Der sogenannte palästinensische „Terrorismus“
erscheint im Zusammenhang mit solchen Zitaten führender
Zionisten in einem ganz anderen Licht, denn das Völkerrecht
kennt für solche Eroberungs- und Besatzungssituationen
durchaus ein Widerstandsrecht. Die Inbesitznahme Palästinas
war von Anfang an das Ziel des zionistischen
Siedlerkolonialismus. Im sogenannten Sechs-Tage-Krieg 1967
kam als neue Eroberung neben dem Gaza-Streifen und den
Golanhöhen das Westjordanland unter israelische Herrschaft.
Das brutale Militärregime dort, unter dem 2,4 Millionen
Menschen seitdem leben und leiden müssen, nicht „Besatzung“
zu nennen, ist wohl der Gipfel sprachlich-ideologischer
Verschleierung.
Der deutsche
Friedensaktivist und Publizist Ekkehart Drost hat sich als
Mitarbeiter des Programms EAPPI des Weltkirchenrates
aufgemacht, sich selbst bei einem mehrmonatigen Aufenthalt
im Westjordanland von den Realitäten der israelischen
Besatzungspolitik zu überzeugen. Wie andere Autoren und
Menschenrechtler machte er dort erschreckende Erfahrungen.
Ob es nun die brutale willkürliche Gewalt der israelischen
Armee gegenüber den Palästinensern ist, die nächtlichen
Razzien mit den Verhaftungen (auch von Kindern!), die
Einkesselung und Abriegelung der Menschen durch Mauern und
Checkpoints mit der totalen Beschränkung der
Bewegungsfreiheit, die Häuserzerstörungen und der tägliche
Landraub, um Platz für Judaisierungsprojekte und Siedlungen
zu schaffen, die Gewalt der Siedler gegen die wehrlosen
Menschen, die permanente Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen,
wobei Polizei und Armee tatenlos zuschauen oder sogar Hilfe
leisten, der Augenzeuge Ekkehart Drost beschreibt alle diese
Ungeheuerlichkeiten der Organe eines Staates, der zur
sogenannten westlichen Wertegemeinschaft gehören will, mit
großer Eindringlichkeit.
Er hat
unzählige Palästinenser getroffen, die ihm berichten, vieles
hat er mit eigenen Augen gesehen und detailliert
protokolliert. Muss man das alles immer wieder aufschreiben?
könnte man fragen. Ja, man muss es immer wieder sagen,
schreiben und an die Öffentlichkeit bringen, weil die
Verbrechen schon so lange andauern und kein Ende abzusehen
ist. Und weil die Medien gerade in Deutschland sich aus
historischer Schuld und aus Angst vor dem Vorwurf des
Antisemitismus scheuen, die Realitäten der israelischen
Besatzung im Westjordanland beim Namen zu nennen. Dabei
verlangen gerade die Verbrechen der Nazis wie der Holocaust
die gegenteilige Schlussfolgerung zu ziehen: alle
Verletzungen der Menschenrechte aufzuklären und gegen sie
anzugehen, wo immer sie geschehen – und sei es auch in
Israel.
Ekkehart
Drost gehört zu der kleinen Schar der Mutigen in
Deutschland, die kein Blatt vor den Mund nehmen und immer
wieder ihr Erschrecken, ja ihr Entsetzen über das
ausdrücken, was die „Opfer des Holocaust“ einem anderen Volk
antun. Die Bilanz seiner Erfahrungen im besetzten Palästina
kleidet Drost in Fragen, auf die er auch keine Antworten
geben kann:
-
Wer denkt sich ein
derartiges Unrechtssystem aus?
-
Wie tief müssen Hass und
Verachtung bei den Israelis sein, um Menschen (die
Palästinenser) schlimmer als Tiere zu behandeln?
-
Warum hört man in westlichen
Ländern keinen Aufschrei des Protestes gegen einen
Staat, mit dem man doch angeblich dieselben Werte teilt?
-
Was wird aus jungen
Palästinensern nach einer Tortur ohnegleichen? Für
Monate und manchmal Jahre [durch Gefängnisaufenthalte]
herausgerissen aus Familie, Schule und Studium? Können
sie überhaupt noch Hoffnung auf ein selbst bestimmtes
Leben haben oder sehnen sie nur die nächste, die dritte
Intifada, herbei?
Der Blick in
die Zukunft ist für die Palästinenser düster, es gibt keinen
realistischen Hoffnungsschimmer. Gerade deshalb bewundert
Ekkehart Drost ihren „Sumud“, ihre Standhaftigkeit,
Beharrlichkeit, Duldsamkeit, Friedfertigkeit und
Lebensfreude. In diesem Zusammenhang zitiert er im Kapitel
seiner Begegnungen die in Deutschland lebende Israelin
Judith Bernstein, die auch voller Bewunderung für den „Sumud“
ist: „Vielleicht ist es die Überzeugung, dass sie [die
Palästinenser] nach den Kreuzrittern, den Osmanen und den
Briten eines Tages auch die Israelis überleben werden. Ein
trauriger Gedanke, der mittlerweile von vielen Israelis
geteilt wird: ‚Uns wird es bald nicht mehr geben.‘ Liegt
dies im Interesse Europas?“ Und die Israelin fragt: „Warum
kann die deutsche Regierung nicht endlich den Schritt tun
und auf die eklatante und ihr ja längst bekannte Verletzung
der Menschenrechte durch Israel hinweisen? Warum verhält
sich die deutsche Regierung so, wie sie es tut? Es kann doch
nicht allein der Holocaust sein? Die deutsche Politik
schadet Israel.“
Ekkehart
Drost hat ein wichtiges, weil aufklärendes und aufrüttelndes
Buch geschrieben, weil es die Realität im Westjordanland
unverstellt vor Augen bringt und uns an unsere eigene
Geschichte erinnert. Die Palästinenser sind das letzte Glied
in der Kette der Nazi-Verbrechen an den europäischen Juden,
die ihren Hass und ihre Traumatisierung nun an diesen
Menschen auslassen, die für sie die „neuen Nazis“ sind. Was
für eine ungeheure Verfälschung der historischen Wahrheit!
Die Palästinenser haben keine andere „Sünde“ begangen und
begehen sie noch immer, dass sie seit Urzeiten in dem Land
wohnen, das ein völlig unzeitgemäßer und anachronistischer
Siedlerkolonialismus nun seit etwa 130 Jahren für sich
beansprucht.
Aber wer
heute die Fakten klar sieht und die Dinge beim Namen nennt
wie Ekkehart Drost und Humanität, Menschenrechte und
Völkerrecht einfordert, um eine gerechte Lösung für das
Nahost-Problem zu erreichen, muss damit rechnen, von den
Vertretern und Freunden dieses Staates als „Antisemit“
denunziert zu werden. Damit ist ein Tiefpunkt in der
politischen Kultur der sogenannten „westlichen
Wertegemeinschaft“ erreicht. Auch Ekkehart Drost droht
dieser Spießrutenlauf noch. Aber die Zahl der Menschen, die
deutlich sehen, was in Israel/Palästina geschieht und
dagegen protestieren, nimmt ständig zu. Und der permanente
denunziatorische Antisemitismus-Vorwurf verliert auf Grund
seiner inflationären Verwendung immer mehr an
Überzeugungskraft, was äußerst schlecht ist für den Kampf
gegen den wirklichen Antisemitismus, den es ja auch leider
auch noch gibt. Aber diese Leute wollen das so und sehen gar
nicht, wie sehr sie ihrer eigenen Sache und damit auch
Israel Schaden zufügen.
Israels
Politik gegenüber den Palästinensern kann man weder vom
humanen, völkerrechtlichen und zivilisatorischen Standpunkt
aus rechtfertigen und verteidigen. Sie widerspricht der
jüdischen Ethik und den universalistischen Forderungen, die
sich aus dem Menschheitsverbrechen Holocaust ergeben. Und
weil das so ist, können die Lobbyisten Israels nur noch bei
jeder Gelegenheit die Kritiker dieser Politik als
„Antisemiten“ an den Pranger stellen. Andere Argumente haben
sie nicht mehr zur Verfügung. Es ist ihre letzte Bastion.
Ekkehart
Drost: Hoffen auf das Wunder. Meine Begegnungen mit
Palästinenser, Israelis und Deutschen, Gabriele Schäfer
Verlag Herne, 21 Euro
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