The Angry Man
Lion Wagenaar zum Gedächtnis
Prof. Helmut Spehl
Meine Bekanntschaft mit Lion
Wagenaar, die sich schon
bald zur Freundschaft zweier
Antipoden entwickelte, geht
zurück auf eine
Leserzuschrift, die der
Spiegel, arg verkürzt
und des eigentlichen
Anliegens beraubt, 1967
veröffentlicht hat. Es war
diese Leserzuschrift aus
Jerusalem, die im August
1967 unseren Briefwechsel
auslöste, den ich zwei Jahre
später als Privatdruck unter
dem Titel «Briefe vom
Anderen Israel» zu
verbreiten begann. Meine
Naivität und das Halbwissen
meiner frühen Jahre ist dort
ebenso festgehalten wie sein
Scharfblick und sein
beispielloser
Gerechtigkeitssinn. Ich
hatte für die Drucklegung
das volle Einverständnis von
Dr. Wagenaar, aber mir war
auch bewußt, daß seine Frau
dem Wagnis mit großer Sorge,
ja in panischer Angst
entgegensah. Er machte auch
schon vorher von seiner
radikalen Ablehnung des
Zionismus kein Hehl, wie
etwa seine Zuschriften an
verschiedene Zeitungen in
aller Welt zeigen, die
allerdings in der Regel
nicht gedruckt wurden. Man
muß den zeitlichen
Hintergrund sehen: im Juni
1967 hatte Israel seinen
Sechs-Tage-Sieg errungen,
und die goi’sche Welt
überschlug sich in
Bewunderung. Es blieben, so
jedenfalls sah es aus, auch
in der jüdischen Welt nicht
viele übrig, die dem, was da
im Zionismus kommen mußte,
offenen Auges entgegensahen.
Als ich Lion Wagenaar im
Sommer 1970 in Jerusalem
besuchte, lag das Abenteuer
des gedruckten und unter der
Hand verbreiteten
Briefwechsels weitgehend
hinter uns. Ich erlebte
damals, was ich später nie
mehr erlebte: ich erhielt
eine beachtliche Zahl von
Zuschriften, die mir
zeigten, daß es mit der
veröffentlichten Bewunderung
nicht weit her ist.
Vielleicht kann das Bündel
dieser Zuschriften eines
Tages gedruckt werden – es
sind Namen darunter, die
jeder noch kennt. Die den
äußeren Umständen nach
überraschende Gesprächigkeit
auch hoher Herren ist nicht
schwer zu verstehen: ich
hatte in einem jeweils
beigefügten Schreiben darum
gebeten, vom Inhalt der
«Briefe» öffentlich keinen
Gebrauch zu machen. Nimmt
man, wie ich es später
gemacht habe, unserer
umgestülpten Nachkriegswelt
das Alibi des Vertraulichen,
wird man von der
aufgeschütteten Elite
geschnitten und vom
opportunistischen Bodensatz
verketzert. Damals habe ich
gesehen, wie zeitlos gültig
die Maßgabe ist, die Nestroy
so leichthin in den Refrain
eines Couplets verpackt hat:
„Und ’s ist alles nit wahr!
Und ‘s ist alles nit wahr!“
Ich will hier nicht von dem
Eindruck berichten, den ich
gewann, als ich Lion
Wagenaar drei Jahre nach
unserer schriftlichen
Kontaktaufnahme persönlich
kennenlernte. Ich will statt
dessen wiedergeben, welchen
Eindruck Dr. Wagenaar bei
einer holländischen
Journalistin hinterlassen
hat. Renate Rubinstein hatte
die «Briefe vom Anderen
Israel» gelesen, als sie
1969, bei ihrer zweiten
Erkundungsreise nach dem
“Sechs-Tage-Krieg”,
Dr. Wagenaar in
Jerusalem aufsuchte. Ich bin
recht gut darüber
informiert, wie das zustande
kam. Ben Otker, der Gründer
und Herausgeber des “Palestina-Bulletins”,
hatte in Holland, ähnlich
wie ich in Deutschland, den
Privatdruck unter der Hand
verbreitet, und Renate
Rubinstein war auf den “Last
angry man”, wie sie das ihm
gewidmete kleine Kapitel
überschrieb, neugierig
geworden. Sie schreibt, er
sei der
„indrukwekkendste en
oorspronkelijkste geest“
gewesen, den sie auf ihrer
Reise kennengelernt habe.
Ich gebe hier aus ihren 1979
in dritter Auflage
gedruckten Reiseberichten: «Jood
in Arabië, Goi in Israël»
die wesentlichen Stellen
wieder:
Ich habe den Mann
aufgesucht, der die Blumen
auf das Grab des Unbekannten
Arabischen Soldaten gelegt
hat mit der Botschaft „Von
einem Juden“. Er ist ein
Jude – und was für einer!
... Er ist ein frommer Jude,
ein Schüler des großen
jüdischen Philosophen Nathan
Birnbaum. Von der Klagemauer
hält er sich fern, denn:
”Aus dem israelischen Schutz
will ich keinen Profit
ziehen.“ Er besucht auch die
besetzten Gebiete rund um
Jerusalem nicht, denn: “Ich
will nicht, daß man mir
nachschaut, wie wir den
Nazis nachgeschaut haben.”
Er sagt: “Ich lebe in der
inneren Emigration. Die
Juden haben allezeit im Exil
gelebt, ich lebe in Israel
im Exil.” Seine Ablehnung
des Zionismus ist total. Er
macht dem Zionismus den
Kardinalvorwurf, daß er das
Land gestohlen und die
Bewohner vertrieben hat, und
daß er aus Juden Preußen
macht. “Natürlich, einen
Teil des Grund und Bodens
haben Juden von arabischen
Bauern gekauft. Aber seit
wann hat privatrechtlich
erworbenes Eigentum
staatsrechtliche Gültigkeit?
Wenn halb Brooklyn von Juden
gekauft wurde, wird das dann
ein Jüdischer Staat?”
Natürlich, es gibt mildernde
Umstände. “Aber darf ich
heute ein Fahrrad stehlen,
weil man mir gestern eines
gestohlen hat?” Über Recht
kann nicht verhandelt
werden. Verhandelt werden
kann nur über das Strafmaß.
Aber zunächst einmal gilt:
“Das geraubte Hab und Gut
muß zurückgegeben werden,
und ich meine damit nicht
das kürzlich [im
Sechs-Tage-Krieg] geraubte,
ich meine ganz Palästina.”
Das Vorhaben der Leute von
New-Outlook, also
jener linksgerichteten
Gruppe, die Israels
Existenzrecht mit einer
Politik der Aussöhnung mit
den Arabern kombinieren
möchte, nennt er “bla-bla”.
Martin Buber nennt er einen
“Gentleman-Verbrecher”. Er
deutet auf P. und erklärt
ihm: “Wenn ich Ihnen die
Brille vom Gesicht schlage,
dann werden Sie doch böse,
nicht wahr? Und Sie werden
sich doch erst dann mit mir
versöhnen wollen, wenn ich
Ihnen die Brille zurückgebe,
nicht wahr?” Ja, sagt P.
“Nun, was Buber vorschwebt,
ist: ‘Also gut, Sie kriegen
ein Glas zurück, das andere
behalte ich. Ehrlich
geteilt!‘ ... ” (Renate
Rubinstein: Jood in Arabië,
Goi in Israël, 1967, 1969.
Meulenhoff Editie,
Amsterdam. Dritte Auflage
1979, S. 146).
Ich will zu diesen klaren
Beispielen der
Radikalablehnung des
Zionismus ein letztes
hinzufügen. Lion Wagenaar
hat bezeichnenderweise mein
Angebot ausgeschlagen, ihm
aus Deutschland hin und
wieder ein paar Dinge zu
schicken, die es damals in
Israel nicht gab, oder die
sehr teuer waren. “Niemals”,
so wehrte er ab, “diesem
Staat will ich keine
Zollgebühren bezahlen
müssen!”
Renate Rubinstein,
vielleicht auch sie
geblendet vom Erfolg des
Zionismus, sah Lion Wagenaar
als “last angry man”. Es ist
richtig, die dünne
Intellektuellenschicht der
innerisraelischen und
jüdischen Regimegegner war
in jener Zeit in Auflösung
begriffen, sie war
jedenfalls öffentlich nicht
mehr vernehmbar. Nichts ist
erfolgreicher als der Erfolg
– solange die mißlichen
Konsequenzen noch nicht
sichtbar werden. Aus
heutiger Sicht, mit dem
Blick auf den neuerlichen
Landraub im Gefolge des
Sechs-Tage-Sieges, könnte
man sagen, daß Lion Wagenaar
auch, oder eher, so etwas
wie ein
“first angry man”
gewesen ist. Die anderen
rigorosen Kritiker des
Zionismus machten erst etwas
später wieder von sich
reden, insbesondere als die
völkerrechtswidrige
Besiedlung der besetzten
Gebiete deutlich wurde. Ich
erinnere an meinen anderen,
ganz anders gearteten
Briefpartner und Freund
Israel Shahak, von dem Gore
Vidal viele Jahre später
gesagt hat, er sei “einer
der letzten Propheten, wenn
nicht sogar der letzte der
großen Propheten”. Ich habe
niemand mehr kennengelernt,
der die Forderung
ausgesprochen hat, den
Palästinensern ganz
Palästina zurückzugeben, und
bekundet hat, als Jude in
einem Arabischen Staat
Palästina leben zu wollen.
Aber heute, da die
Erkenntnis der durchaus
zweischneidigen Folgen des
schnellen Sieges immer
weiter um sich greift,
bräuchte sich Lion Wagenaar
wohl nicht mehr ganz allein
zu fühlen. Wer andererseits
dessen Rigorismus heute noch
schockierend findet, möge
bedenken, daß das Judentum,
und wir alle, eines noch
fernen, aber schon
absehbaren Tages, solche
“angry men” schätzen lernen
werden. Wenn alles vorbei
ist, wird man sich die
verblendeten Augen reiben
und dankbar sein, daß es
sie, weit abseits der großen
Publizistik, gegeben hat.
Das Schuldkonto wird durch
sie gewiß nicht kleiner,
aber erträglicher werden.
Wir haben uns nach jenem
Sommer des persönlichen
Kennenlernens nicht mehr
gesehen. Lion Wagenaar ist
am 29. Juli 1979 in
Jerusalem gestorben. Als
mich drei Monate später aus
Holland die Todesnachricht
erreichte, habe ich eine
Grabrede geschrieben, die
umständehalber nie
gesprochen werden konnte.
Sie beginnt mit einem Vers
von Matthias Claudius, der
an seines Vaters Grab
gesprochen wurde.
Ach, sie haben
einen guten Mann
begraben,
Und mir war er
mehr.
Der Geistesverwandte war er
mir, der wie mit dem Anrecht
meiner Blutsverwandten von
mir fordern durfte, und der
mir gab, was diese niemals
geben konnten.
Er war der Gläubige, der
glaubte, um zu wissen;
Mein Antipode also im
Bereich der religiösen
Sphären.
Doch wo ich wußte, waren
unsere Lebenssphären bis zur
Deckung kongruent.
Und was ich wußte, das wußte
er zuvor.
Der Störer meiner allzu
schäbigen Kreise war er;
Ein Gläubiger, der mit
Talenten wuchern konnte.
Denn er setzte Zeichen, wo
ich nur Worte setzte.
Der Rigorose war er mir, der
mich die Macht der Ohnmacht
mit ihm teilen hieß;
Der Maß-Gebende, der Ordnung
in das Chaos einer säkularen
Schuldverstrickung brachte,
und mich verstrickte in ein
Unterfangen, das bald zum
zweiten Lebenswerk sich
weitet.
Er zeigte mir das tiefe
Elend eines ausgetriebenen
Volkes, das nicht nur
Heimatlosigkeit,
nein, schlimmer noch,
dekadenlang die tägliche
Verleumdung zu ertragen hat
- was
letternschwer im Schuldbuch
des zerstreuten Volkes
aufgeschrieben bleibt,
wenngleich als
Übertrag der Hypothek des
hochverschuldeten
Abendlandes.
Wo ich nur ahnte, war er
längst der Unerbittliche.
Der Kläger war er, der
keinen, und zuletzt sich
selber, schonte;
Der Mahner, der zum Erbarmen
und zur Einsicht drängte;
Der Richter, der Milde erst
nach abgeschlossener
Beweisaufnahme dulden
mochte.
Den schlimmen Zwiespalt, in
den der Nachfahr eines tief
gefallenen Volkes stürzen
mußte, hat er
verstanden wie kein anderer,
und hat Ihn lösen helfen
nach Prinzipien, die ewig
sind und
einfach wie allein das
Ewige: Er nannte einen
Mörder einen Mörder, und ein
Räuber war
ihm Räuber, wie sehr der
Völkermord auch Ursach' und
die Räuberei die Folge war.
Denn
ein Anrecht auf
verbrecherische Missetaten
kann nun einmal nicht
erworben und auch
nicht erlitten werden. Und
darum waren jene, die eine
Räuberei verhehlen und dies
Sühne
nennen, ihm weiter nichts
als Hehler.
Er hat die Nazi-Pest gehaßt,
wie man nur hassen kann,
Und den Zionistenstaat
verachtet mit einer
Unnachsichtigkeit,
die erst ein anderes
Geschlecht begreifen wird.
So wurde jede Zeile die er
schrieb, jede Geste, die ihm
blieb,
jede Äußerung eines
orthodoxen jüdischen Lebens,
zum kategorischen Entwurf:
Nichts gemein zu haben mit
Gemeinen.
Er löste mir den deutschen
Zwiespalt mit der Einsicht,
daß halbe Wahrheit Heuchelei
ist,
und bestenfalls noch
Selbstbetrug. Und als die
Zweifel schwanden, wuchs der
Drang, den allzu
mitleidlosen Mitbefangenen
den allzeit gültigen Ausweg
aufzuzeigen, den e r
kannte.
Kaum je hat einer sicherer
als er gewußt, daß nur die
Offenlegung und Begleichung
eines aufgelaufenen
Schuldenkontos die
reinigende Kraft gebären
kann, die Böses auflöst und
die Katastrophe wendet.
Und was ihm sicher war, ist
mir zum Sichersten geworden.
Dies alles war und gab er
mir - und gab mir mehr:
Den Glauben an die
Menschheit hat er mir
erhalten
mit seinem Glauben an mein
totgeschwiegenes
Unterfangen.
Die Seelenruhe hat er mir
genommen, doch dafür gab er
Seelenfrieden.
Er gab mir Zuversicht
entgegen allen Widrigkeiten,
und die Gelassenheit, die
ohne ihn mir nicht gelingen
wird.
Und das Prinzip Hoffnung als
Vermächtnis.
H. Spehl
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