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Ist Nächstenliebe antisemitisch?
Plädoyer für eine Umkehr
zu einem friedlichen
Nahen Osten!
Prof. Rolf Verleger
Im Juli 2006, als der
sinnlose Libanonkrieg
tobte, schrieb ich folgenden
Brief an die Präsidentin
des Zentralrats der
Juden in Deutschland
und ihre Stellvertreter,
zur Kenntnis an meine
Kolleginnen und Kollegen
im 30-köpfigen Direktorium
des Zentralrats:
Sehr verehrte Frau
Präsidentin Knobloch,
sehr geschätzter Herr
Prof. Dr. Korn, sehr
geschätzter Herr Dr.
Graumann,
Sie haben in den letzten
Tagen öffentlich Partei
für die militärischen
Maßnahmen der israelischen
Regierung gegen den
Libanon ergriffen. Dazu
kann und will ich nicht
schweigen.
Es ist mir selbstverständlich
klar, dass Sie damit
die Mehrheitsmeinung
der Juden in Deutschland
ausdrücken. Jedoch ich
hätte mir von Ihnen
noch etwas mehr erwartet,
denn Sie lieben Israel,
Sie sind politisch erfahren,
und Sie sind traditionsbewusste
Juden.
1) Sie lieben Israel.
Wie kann jemand, dem
das Schicksal des Landes
Israel am Herzen liegt,
diese Militäraktion
gutheißen? Unsere dortigen
Freunde und Verwandte
werden in den nächsten
Jahren mit mehr statt
mit weniger Gefährdung
leben müssen. Bei mir
betrifft dies unter
anderen meine beiden
Geschwister, die als
Jugendliche aus Deutschland
ausgewandert sind, und
ihre Kinder und Enkel.
Diese Militäraktion
macht Israel nicht sicherer,
sondern unsicherer.
Der Zorn und die Wut
und die Gewalt der Nachbarstaaten
werden vervielfacht,
der Konflikt wird ausgeweitet
anstatt eingedämmt.
2) Sie sind politisch
erfahren. Daher wissen
Sie so gut wie jeder
andere, dass der Anlass
für den Hisbollah-Terror
gegen Israel der ungelöste
Palästina-Konflikt ist
und dass auch jetzt
die Hisbollah die zwei
israelischen Soldaten
offensichtlich darum
entführt hat, damit
sie sich als Verteidigerin
der von Israel bedrängten
Bewohner von Gaza in
Szene setzen konnte.
Jeder weiß, dass Syrien
und Iran und Russland
mit dem Palästinakonflikt
ihr trübes Süppchen
kochen - selbstverständlich
aber auch die USA, die
nach dem Irak-Debakel
nun die israelische
Armee als ihren verlängerten
militärischen Arm benutzt.
Jeder weiß daher, dass
die Alternative zum
Dschungel dieser Interessen
- und damit zum Krieg
- darin besteht, dass
die israelische und
die palästinensische
Regierung (und dem nachgeordnet
auch die libanesische
Regierung) miteinander
verhandeln und Übereinkünfte
treffen. Darauf sollten
die Freunde Israels
hinwirken anstatt die
gewählte palästinensische
Regierung zu dämonisieren.
Der Zentralrat der Juden
in Deutschland hat Erfahrung
darin, mit einer Regierung
zu verhandeln, die direkte
Rechtsnachfolgerin einer
Mörderbande ist. Der
Erfolg gibt uns darin
Recht.
3) Sie sind traditionsbewusste
Juden. Daher wissen
Sie so gut wie ich,
dass es im¬mer einen
Konflikt gegeben hat
zwischen jüdischer Religion
und Nationalis¬mus.
Im Altertum war dies
der scharfe Konflikt
zwischen unseren Propheten
und den Königen von
Juda und Israel, und
mit dem Aufkommen des
Zionismus war es die
Auseinandersetzung zwischen
Zionisten und Aguda
- eine Auseinandersetzung,
in der beide Seiten
gute Argumente hatten.
Heutzutage haben leider
viele Juden diesen Maßstab
verloren und denken,
man sei ein um so besserer
Jude, je entschiedener
man für Israels Gewaltpolitik
eintritt. Aber ein solches
„Judentum“: Ist das
noch das gleiche Judentum,
dessen Wesen unser einflussreichster
Lehrer Hillel so definierte:
„Was Dir verhasst ist,
tu Deinem Nächsten nicht
an“? Ist das noch das
gleiche Judentum, als
dessen wichtigstes Gebot
unser Rabbi Akiba benannte:
„Liebe Deinen Nächsten
wie Dich selbst“? Das
glaubt mir doch heutzutage
keiner mehr, dass dies
das „eigentliche“ Judentum
ist, in einer Zeit,
in der der jüdische
Staat andere Menschen
diskriminiert, in Kollektivverantwortung
bestraft, gezielte Tötungen
ohne Gerichtsverfah¬ren
praktiziert, für jeden
getöteten Landsmann
zehn Libanesen umbringen
lässt und ganze Stadtviertel
in Schutt und Asche
legt. Ich kann doch
wohl vom Zentralrat
der Juden in Deutschland
erwarten, dass dies
wenigstens als Problem
gesehen wird.
Selbstverständlich weiß
ich, dass ich hier gegen
jahrzehntelang fest
gefügte Meinungen argumentiere.
Aber ich bin nicht der
erste, ich werde nicht
der letzte sein, und
zusammen mit besonnenen
Menschen in Israel und
außerhalb Israels können
wir die Dinge zum Guten
wenden.
Die israelische Regierung
braucht unsere Solidarität.
Im Moment ist sie auf
einem falschen Weg,
daher braucht sie von
solidarischen Freunden
jetzt nicht mehr Waffen
oder mehr Geld oder
mehr public relations,
sondern mehr Kritik.
Mit freundlichen und
besorgten Grüßen
Von den Angeschriebenen
erhielt ich jedoch damals
[1] nur Reaktionen wie
diese: „... sehr erstaunt
... dass ausgerechnet
Sie ... viele abgedroschene,
antizionistische Argumente
von vermeintlichen Israel-Freunden
kritiklos übernehmen
... Mit Ihrer einseitigen,
polemischen Kritik ...
spielen (Sie) allen
Feinden Israels direkt
in die Hände.“ „Ihr
Schreiben hat mich ...
verärgert ... Sachliche
Kritik ist ... erlaubt.
Ihre Anschuldigungen
sind jedoch polemisch,
hämisch und bar jeglicher
Sensibilität.“
Als ich dann, enttäuscht
von diesen Argumenten
und ruhelos über den
nicht endenden sinnlosen
Krieg, meinen Brief
öffentlich machte -
in der taz, denn die
Jüdische Allgemeine
wollte den Brief nicht
abdrucken - da bekam
ich neben einigen weiteren
heftigen Beschimpfungen
eine überwältigende
positive Resonanz. Zu
dieser positiven Resonanz
gehört auch, dass Sie
mich hier (zum 13. Friedenspolitischen
Ratschlag 2006, Kassel,
d. Hrsg.) eingeladen
haben. Dafür danke ich
Ihnen sehr herzlich.
Ich möchte hier drei
Themen ausführlich darstellen,
die in meinem Brief
angesprochen wurden.
Dies sind: 1. der biblische
Auftrag der Nächstenliebe,
2. Geschichte des Zionismus
und 3. die heutige Problematik
jüdischer Identität.
1. Der Auftrag der
Nächstenliebe - eine
notwendige Klarstellung
„Liebe Deinen Nächsten
wie Dich selbst“. Die
meisten Menschen, mit
denen ich darüber ins
Gespräch kam, halten
dieses Gebot für eine
Erfindung des Christentums.
Dass der „rächende Gott“
des „Alten Testaments“
nichts von Nächstenliebe
hielt, erscheint den
meisten Menschen, die
in einer christlich
geprägten Umgebung aufgewachsen
sind, selbstverständlich.
Aber auch Juden habe
ich getroffen, die ebenfalls
davon überzeugt waren,
dass Nächstenliebe das
weiche christliche Prinzip
sei, während das Judentum
sich auf die Gerechtigkeit
berufe, wonach Gleiches
mit Gleichem zu vergelten
sei („Auge um Auge,
Zahn um Zahn“). Diese
Überzeugungen klingen
alle sehr logisch und
systematisch, nur: Sie
stimmen nicht.
Vielmehr: „we-ahaw-ta
le-rea’-cha kamo-cha“
- „und-lieb-Du zum-Nächsten-Dein
wie-Du“, üblicherweise
übersetzt mit „Liebe
deinen Nächsten wie
Dich selbst“, oder „Liebe
Deinen Nächsten - er
ist wie Du“ (Zunz) oder
„Halte lieb Deinen Genossen,
Dir gleich“ (Buber &
Rosenzweig) steht im
3. Buch der Torah, Kapitel
19, Vers 18. (Die Torah
- die „Weisung“ - sind
die „Fünf Bücher Moses“.)
Formal betrachtet ist
es eine der vielen Stellen
in der Torah, an denen
der Verfasser - also
nach jüdischer Überzeugung
Moses im Auftrag Gottes
- die Leser in der Befehlsform
anspricht. Nach traditioneller
jüdischer Zählung gibt
es 613 solcher Stellen
in Befehlsform. Diese
Gebote und Verbote sind
Gottes „Aufträge“ („Mizwot“,
Einzahl „Mizwa“) an
sein Volk, das sich
diesen Auftraggeber
als seinen Gott erkoren
hat. An jeden dieser
Aufträge haben sich
fromme Juden und Jüdinnen
zu halten - solche,
die wichtig erscheinen
wie „Du sollst nicht
töten“, solche, die
gezielter Vorarbeit
bedürfen wie „Seid fruchtbar
und mehret Euch“, solche,
die den heutigen Leser
etwas ratlos hinterlassen
wie das Verbot, aus
Wolle und Baumwolle
gemischte Kleidung anzuziehen,
solche, die human erscheinen
wie „Brate das Zicklein
nicht in der Milch seiner
Mutter“ und eben auch
solche wie „Liebe Deinen
Nächsten wie Dich selbst“.
Für orthodoxe Juden
ist all dies gleich
wesentlich - formal
betrachtet: Der Auftrag,
den Nächsten zu lieben
wie sich selbst, muss
erfüllt werden ebenso
wie der Auftrag, keine
Kleider zu tragen, die
aus Baumwolle und Wolle
gemischt sind.
Wie bei jedem Auftrag
Gottes an sein Volk
stellte sich dem Judentum
die Frage, was nun genau
mit diesem Auftrag gemeint
ist. Diskussionen zu
diesen Fragen wurden
geführt und sind im
Talmud zusammengetragen.
Wesentliche Prinzipien
dabei sind zumindest
zwei, nämlich erstens,
sich an den einfachen
Wortlaut zu halten,
zweitens aber auch „einen
Zaun um die Torah zu
machen“.
Vom ersten Prinzip,
dem einfachen Wortlaut,
ist mit dem „Nächsten“
wohl eher der Mit-Israelit
gemeint. Denn „Liebe
Deinen Nächsten wie
Dich selbst“ ist der
zweite Halbsatz eines
Satzes, dessen erste
Hälfte lautet „Räche
nicht und trage nichts
nach den Kindern Deines
Volkes“. Und wenn sich
der erste Halbsatz doch
ausdrücklich auf „Kinder
deines Volkes“ bezieht,
sollte das für den zweiten
Halbsatz wohl auch gelten.
Jedoch werden Gottes
Aufträge von der talmudischen
Diskussion im Allgemeinen
nie auf den einfachen
Wortlaut reduziert.
Denn wenn man die Gebote
darauf eingrenzen würde,
bestünde leichter die
Gefahr, sie nicht zu
erfüllen. Dieses Prinzip
nennt sich „einen Zaun
um die Torah aufstellen“.
Ein bekanntes Beispiel
ist der Auftrag, das
Zicklein nicht in der
Milch seiner Mutter
zu braten. Kochen könnte
man es dann ja eigentlich.
Überhaupt: Kann man
in Milch anbraten? Und
wenn man Kälbchen und
Kuhmilch statt Zicklein
und Ziegenmilch nimmt,
ist es doch sowieso
erlaubt?! Solche Überlegungen
schienen den talmudischen
Lehrern nur dazu angetan,
den Auftrag nicht zu
erfüllen. Diesen schoben
sie einen Riegel vor,
indem sie aufgrund des
Auftrags, das Zicklein
nicht in der Milch seiner
Mutter zu braten, die
strikte Trennung von
Milch- und Fleischprodukten
beim Kochen und Essen
zur Verpflichtung erklärten.
Diese Logik ist ganz
dem verhaftet, was man
tatsächlich macht, nicht
dem, was wohl der moralische
Sinn sein könnte. Wendet
man diese Logik nun
auf den Auftrag der
Nächstenliebe an, kommt
man ganz selbstverständlich
auf folgende Überlegungen:
Selbst angenommen, der
Auftrag gilt nur gegenüber
Juden, kann man dann
riskieren, ihn gegenüber
beliebigen Leuten, die
man in Hamburg oder
auf Mallorca trifft,
nicht einzuhalten? Es
könnte ja ein Jude darunter
sein! Tatsächlich trifft
man jüdische Minderheiten
in allen Ländern, und
selbst wenn einer aussieht
wie ein Chinese, könnte
ja seine Großmutter
mütterlicherseits zum
Judentum übergetreten
sein, zum Beispiel als
sie Kontakt mit deutschen
Juden hatte, die vor
Hitler nach Shanghai
geflohen waren. Das
Gleiche gilt natürlich
für eine Palästinenserin:
Ihre Großmutter könnte
aus Bagdad stammen und
dort dem Charme des
jüdischen Funktionärs
der Kommunistischen
Partei des Irak erlegen
sein und ihn vor einem
Rabbiner geheiratet
haben. Weiß man es?
Selbst ein deutscher
Skinhead könnte - zu
seinem größten Ärger
- jüdischer Herkunft
sein. Es bleibt also
gar nichts anderes übrig,
in diesen Zeiten, in
denen jüdische Menschen
nicht mehr in geschlossenen
Stämmen als Nomaden
leben, - und diese Zeiten
begannen spätestens
mit der babylonischen
Gefangenschaft ca. 600
v. Jesus’ Geburt - als
den Auftrag der Nächstenliebe
auf alle Menschen anzuwenden,
sonst könnte man in
die Gefahr kommen, ihn
nicht zu erfüllen.
All dies mag den christlich
geprägten Lesern etwas
sonderbar vorkommen.
Aber dies ist genuin
talmudische Logik.
Im übrigen, schlicht
und ergreifend, finden
sich fünfzehn Verse
später folgende klaren
Worte (3. Buch Mose,
Kap.19, 33-34): „Und
wenn es wohnt mit Dir
ein Bewohner [d.h. fremder
Herkunft] in Eurem Lande,
quält ihn nicht. Wie
ein Bürger von Euch
sei Euch der Bewohner,
der mit Euch wohnt,
und liebe ihn wie Dich
selbst, denn solche
Bewohner wahrt Ihr im
Lande Ägypten, ich bin
Euer Gott.“
Oben wurde angemerkt,
dass für orthodoxe Juden
alle Aufträge der Bibel
gleichermaßen wichtig
sein müssen. Trotzdem:
Die „Weisen“, die vor
und nach der Zerstörung
des Zweiten Tempels
lebten und deren Meinung
im Talmud zusammengefasst
und diskutiert wird
und die damit das Judentum
formten, wie wir es
heute kennen, diese
Weisen haben Gewichtungen
vorgenommen. Es ist
uns kein Weiser überliefert,
der das Verbot der Mischkleidung
von Wolle und Baumwolle
für das Wichtigste hielt.
Relevanter: Es ist uns
auch kein Weiser überliefert,
der den Auftrag, Auge
mit Auge und Zahn mit
Zahn zu vergelten, für
das Wichtigste hielt.
Jedoch das Gebot der
Nächstenliebe wurde
durchaus für zentral
erklärt. Dies - so überliefert
der Talmud [2] - sei
die Meinung von Rabbi
Akiwa gewesen. Dies
blieb übrigens nicht
unwidersprochen. Aber
auch hier hielt nun
nicht etwa ein kerniger
Altvorderer das Prinzip
des „rächenden Gottes“
hoch. Vielmehr war der
an dieser Stelle zitierte
Rabbi ben Asai der Meinung,
das wichtigste Prinzip
der Torah sei, dass
Gott alle Menschen nach
seinem Bilde erschaffen
habe. Der Talmud zitiert
hier Ben Asai offenbar
nicht, um Rabbi Akiwa
zu widersprechen, sondern
weil sich aus diesem
Gleichheitsprinzip das
von Rabbi Akiwa betonte
Gebot unmittelbar herleiten
lässt, den Nächsten
ebenso zu behandeln
wie man sich selbst
behandeln würde.
Rabbi Akiwa war einflussreich,
aber noch einflussreicher
war Hillel. Hillel,
geboren 70 v. J., war
der bedeutendste geistige
Führer des Judentums
während der Zeit des
2. Tempels. Zu ihm –
so erzählt der Talmud
im Traktat über den
Schabbat (Blatt 31a)
– kam ein Nichtjude,
wohl ein Römer, und
sagte: „Lassen Sie mich
zum Judentum übertreten,
aber unter der Bedingung,
dass Sie mir die ganze
Torah beibringen in
der Zeit, in der ich
auf einem Bein stehen
kann.“ Das heißt, er
stellte die Frage nach
dem Wesentlichen, allerdings
in einer spöttischen
Form. Hillel, der ein
Muster an Sanftmut war,
ging auf den Mann ein,
ließ ihn also sich auf
ein Bein stellen und
sagte zu ihm: „deAlach
Ssani leChawrach Lo
ta’Awed - Was Dir verhasst
ist, tu Deinem Nächsten
nicht an. Das ist die
ganze Torah, der Rest
ist Erläuterung. Geh
und lerne.“
Diese Anekdote gibt
offensichtlich eine
nochmalige Antwort auf
die Frage, inwieweit
der Auftrag der Nächstenliebe
sich auch auf Nichtjuden
bezieht. Der Mann, den
er direkt anspricht,
ist ja Nichtjude. Vermutlich
ist er ein römischer
Besatzungssoldat. Es
könnte auch ein israelischer
Bulldozerfahrer sein,
der ein palästinensisches
Haus plattwalzt. Oder
ein deswegen steinewerfender
palästinensischer Jugendlicher.
Oder ein verhetzter
und überforderter israelischer
Soldat, der auf diesen
Jugendlichen schießt.
Oder eine Palästinenserin,
die ihren ermordeten
Bruder rächen will und
sich deswegen in einem
Haifaer Strandrestaurant
in die Luft sprengt.
In jedem Fall - so Hillel
- gilt das Prinzip:
„Was Dir verhasst ist,
tu Deinem Nächsten nicht
an. Das ist die ganze
Torah, der Rest ist
Erläuterung. Geh und
lerne.“
Nach diesem Prinzip
haben in der Tat die
Juden, so gut es ging,
Jahrtausende Jahre gelebt
und gehandelt.
Dieses Prinzip wurde
von den „Revisionisten“,
einer Fraktion innerhalb
der zionistischen Bewegung,
in Wort und Tat abgelehnt.
Diese Fraktion erhielt
ihren Namen, weil sie
das offizielle zionistische
Prinzip revidierte,
wonach Juden und Araber
in Palästina gleiche
Rechte haben sollten.
Sie revidierten damit
aber nicht nur den Zionismus,
sondern auch das Judentum.
2. Die zionistische
Bewegung
Um 1866 gab es in Mittel-
und Osteuropa 6 Staaten:
Die Schweiz, das Habsburger
Reich, das Russische
Reich, das Osmanische
Reich, und als einzige
Nationalstaaten einheitlicher
Sprache das 1830 unabhängig
gewordene Griechenland
und das sich formende
Deutsche Reich.
1890 waren es 10 Staaten.
Dazugekommen waren:
Bulgarien, Rumänien,
Serbien, Montenegro.
1918 waren es 16 Staaten.
Dazugekommen waren:
Polen, Litauen, Lettland,
Estland, Tschechoslowakei,
Ungarn, Albanien. (Serbien
und Montenegro schlossen
sich mit anderen Gebieten
zu Jugoslawien zusammen.)
Es war in dieser Atmosphäre
nur natürlich, dass
auch unter den Juden
Osteuropas, im Russischen
Reich, der Wunsch nach
einem eigenen Staat
Anhänger fand. Für diesen
Wunsch sprach, dass
sie sich durch eine
Reihe wesentlicher Merkmale
von den Volksgruppen
in ihrer Umgebung, die
ihrerseits alle nach
nationaler Unabhängigkeit
strebten, unterschieden:
-
Durch ihre Sprache.
Die Juden sprachen
durchweg jiddisch,
also eine auf dem
Deutschen basierende
Sprache mit vielen
Einsprengseln aus
dem Hebräischen
und aus ihrer slawischen
Umgebung. Zum Beispiel
„taitsch is gewejn
mejn tattes mamme-luschen“
heißt „Jiddisch
ist meines Vaters
Muttersprache gewesen“
(„luschen“ - langes
U - ist das hebräische
Wort für Sprache
in polnisch-jüdischer
Aussprache, „tatte“
ist slawisch). Dass
sie diese „taitsche“
Sprache so für sich
pflegten und behielten,
zeigt, wie kulturell
getrennt sie von
ihrer Umgebung lebten,
und es zeigt, wie
eng verbunden sich
das europäische
Judentum bis 1933
der deutschen Kultur
gefühlt hatte.
-
Durch ihre Schrift.
Jiddisch wurde mit
für diese Zwecke
adaptierten hebräischen
Buchstaben geschrieben.
Das wirkt sehr exotisch,
aber war eigentlich
sehr praktisch,
weil in einem Teil
der jüdischen Siedlungsgebiete
das kyrillische
Alphabet verwendet
wurde, im anderen
Teil das lateinische,
und das hebräische
Alphabet sowieso
für das Lesen des
Gebetbuchs gelernt
werden musste. Die
Rolle des Jiddischen
in Wort und Schrift
können wir heute
kaum noch erahnen.
Der „Bund“, die
sozialistische Organisation
der Juden im Zarenreich,
kommunizierte selbstverständlich
auf Jiddisch. Beispielsweise
sieht man im US-amerikanischen
Einwanderungsmuseum
auf Ellis Island
Fotos von den ersten
Arbeiterdemonstrationen
in den USA, mit
Transparenten in
Jiddisch.
-
Durch ihre Religion.
Dazu wurde oben
einiges gesagt.
Selbstverständlich
war aber auch die
Aufklärung nach
Osteuropa gekommen,
trotz der rückständigen
Kultur und Ideologie
des Zarenreichs,
und stürzte viele
Juden in Identitätskonflikte.
Dies konnte bewirken,
dass man versuchte,
eine andere Definition
von Judentum zu
finden als über
die Religion, nämlich
über die „jüdische
Nation“.
-
Durch ihre soziale
Diskriminierung.
Diese war im russischen
Zarenreich massiv.
Juden war durchweg
der Zugang zu höherer
Bildung verwehrt.
Jüdische Männer
mussten dreißig
Jahre in der Armee
dienen. Juden waren
periodisch die Opfer
von Pogromen.
Aufgrund all dieser
Besonderheiten musste
im allgemeinen Klima
des nationalen Aufbruchs
in Europa auch bei den
Juden der Wunsch nach
einem eigenen Staat
entstehen. Der bekannteste
Ausdruck dieses Wunsches
der Juden im Zarenreich
ist das Buch des Odessaer
Arztes Leon Pinsker
„Auto-Emanzipation“.
Der Titel drückt die
Idee aus, dass es an
den Juden selbst ist,
ihr Schicksal der Diskriminierung
zu beenden: indem sie
einen eigenen Staat
gründen und indem sie
dort Zugang zu all den
Berufen erhalten, die
ihnen im Zarenreich
verwehrt sind, insbesondere
dem Beruf des Bauern.
Die Frage war selbstverständlich,
wo die Juden diesen
Staat gründen wollten.
Alle anderen kulturell
und sprachlich definierten
Gruppen konnten ihren
Staat dort gründen wo
sie auch wohnten: Die
Bulgaren in Bulgarien,
die Griechen in Griechenland,
die Litauer in Litauen.
Zum Teil „mussten“ dafür
allerdings andere Bevölkerungsgruppen
vertrieben werden oder
wurden eine unterprivilegierte
Minderheit. Die Juden
waren aber überall in
der Minderheit. Sie
konnten nicht die Ukrainer
aus der Ukraine vertreiben
und die Polen aus Polen.
Wenn sie einen eigenen
Staat gründen wollten,
brauchten sie ein eigenes
neues Land.
Eine Alternative zur
kollektiven Staatenbildung
war die individuelle
Suche nach einem neuen
Land. Viele Juden aus
dem Zarenreich suchten
sich ihr neues Land
selbst. Wer konnte oder
im Zarenreich nichts
mehr zu verlieren hatte,
wanderte aus, nach USA
und den Ländern West-
und Mitteleuropas. Die
Familie meines Vaters
wanderte 1905 aus dem
polnischen Teil des
russischen Zarenreichs
nach Deutschland ein,
nach Falkenstein im
Vogtland.
Jedoch überquerten auch
erste Gruppen von Juden
aus dem Zarenreich die
Grenze ins Osmanische
Reich und siedelten
sich im Norden des heutigen
Israel an. Unterstützung
für diese Gemeinschaft
kam von einigen wenigen
Juden aus Mittel- und
Westeuropa. Zum Beispiel
unterstützte der französische
jüdische Baron de Rothschild
die gemeinsame Auswanderung
der Juden aus dem Zarenreich
in ein neues Land, offenbar
beseelt durch den Wunsch,
dass dieses neue Land
nicht Frankreich sein
sollte. Denn in Frankreich
schwelte trotz formal
gleicher Rechte das
Ressentiment gegen Juden
weiter, und man konnte
befürchten, dass durch
die Einwanderung von
Juden aus dem Zarenreich,
die den Franzosen kulturell
fremd sein könnten,
sich dieses Ressentiment
verschärfen würde.
Einschneidend für die
folgende Entwicklung
war bekanntlich die
„Dreyfus-Affäre“. Irgendjemand
hatte dem deutschen
Militärattaché in Paris
geheime Militärdokumente
zugespielt. Der jüdische
Offizier Dreyfus wurde
dafür 1894 des Landesverrats
angeklagt. Belege dafür
gab es nicht, außer
der Tatsache, dass er
jüdisch war. In einem
krassen Unrechts-Urteil
wurde Dreyfus aus der
Armee ausgestoßen und
zu Lagerhaft verurteilt.
Der eigentliche Schuldige,
ein Adliger in Geldnot,
wurde 1896 entdeckt,
aber Anfang 1898 freigesprochen.
Bekanntlich erreichte
daraufhin Emile Zola
eine Revision des Dreyfus-Prozesses.
Wesentlich für den weiteren
Gang der Weltgeschichte
war aber, dass der Wiener
Journalist Theodor Herzl
als Reporter zum Dreyfus-Prozess
geschickt worden war.
Zutiefst aufgewühlt
über dieses Schandverfahren
entschloss sich Herzl,
für einen jüdischen
Staat zu kämpfen, und
verfasste das Manifest
„Der Judenstaat“ (1896).
Herzls Grundannahme
aufgrund der Erlebnisse
beim Dreyfus-Prozess
und aufgrund massiver
Judenfeindlichkeit in
Wien war die Allgegenwart
und Unvermeidlichkeit
von Judenhass. Der wesentliche
Grund dieses Hasses
sei, dass die Juden
wegen des Fehlens eines
eigenen Staates prinzipiell
wie Dreyfus als vaterlandslose
Subjekte erscheinen
müssten. Sobald es eine
jüdische Heimstätte
gäbe, könnten Juden
der Welt zeigen, dass
sie ihr Vaterland so
liebten wie andere auch.
In dieser Hinsicht war
Herzl komplett ein Kind
seiner Zeit, in den
konservativen Kategorien
des Bürgertums denkend.
Tatsächlich war der
französische Judenhass
keineswegs unabänderbar.
In Frankreich entbrannte
ein heftiger Kulturkampf.
Als ein Hauptträger
der judenfeindlichen
Propaganda hatte sich
die katholische Kirche
hervorgetan. 1902 gewann
die Linke die Wahlen
und führte wegen dieser
kirchlichen Einmischung
in politische Angelegenheiten
die bis heute fortbestehende
völlige Trennung von
Kirche und Staat durch.
Es erfolgte also binnen
weniger Jahre eine radikale
Änderung des herrschenden
politischen Klimas,
zugunsten der Gleichheit
aller Bürger vor dem
Staat, als einem Ideal
der französischen Revolution.
Aber der Stein war nun
durch die Dreyfus-Affäre
ins Rollen gebracht.
Herzl nahm zunächst
keinerlei Bezug auf
jüdische Tradition und
Kultur. Diese war ihm
fremd. Ihn interessierte
nur, ein Land zu finden,
in dem genügend Platz
wäre, damit dort eine
größere Menge von Juden
einwandern könnte. Gleichzeitig
- es war das Zeitalter
des Kolonialismus und
europäischen Größenwahns
gegenüber den anderen
Erdteilen - sollte dies
ein unterentwickeltes
Land sein, in das die
Juden als europäisches
Volk das Licht des technischen
Fortschritts und der
Aufklärung bringen könnten.
Konsequenterweise diskutierte
die von Herzl gegründete
Organisation, der „Zionistische
Kongress“, Uganda, Madagaskar
und Zypern als mögliche
Länder für die Gründung
eines jüdischen Staates.
Diese Ideen stießen
jedoch bei der großen
Mehrheit anderer zionistischer
Juden auf entschiedene
Ablehnung. Das Land
der Juden konnte nur
das biblische Versprochene
Land sein, andernfalls
würde man niemanden
von der zionistischen
Idee überzeugen können.
Dazu kam auch noch die
Wiederbelebung des Hebräischen
als eine gesprochene
Sprache für den Alltag
im Neuen Land. So wurde
der Zionismus ein kulturelles
Projekt. Indem dieses
Projekt sich entschieden
auf das Land bezog,
in dem einmal der Tempel
stand, konnte der Zionismus
von sich sagen, er verfolge
nun das Ziel, um das
die Juden seit Jahrtausenden
gebetet hätten.
Das gesamte Projekt
stieß allerdings auf
die Ablehnung der Mehrheit
der traditionell denkenden
Juden.
Der Lubawitscher Rebbe,
Rabbi Schulem Schneerson,
analysierte 1903 [3]:
Die Zionisten hätten
den Nationalismus zu
einem Ersatz für die
Torah und die Gebote
gemacht. So habe der
Zionist Mandelstam in
einem Offenen Brief
klipp und klar erklärt,
ein Jude sei nicht jemand,
der Tefilin [4] lege,
den Schabbat einhalte
und auch sonst alle
Gebote befolge, sondern
ein Jude sei ein Zionist.
Ebenso habe in der Zeitschrift
haSchiloach [5] gestanden,
Jude sei auch jemand,
der alle Gebote der
Torah überschreite,
der sogar die Existenz
Gottes leugne, wenn
er nur auf Seiten der
jüdischen Nation stehe.
Eine andere Zeitschrift
sage, früher sei die
jüdische Religion notwendig
gewesen, um für den
sozialen Zusammenhalt
des jüdischen Volkes
zu sorgen; in den heutigen
Zeiten gehe die Rolle
der Religion zurück,
daher benötige das jüdische
Volk etwas anderes,
um weiterhin als Volk
zu existieren: die Idee
der Nation. Das Ergebnis
dieser Agitation - so
der Lubawitscher Rebbe
- sei, dass sich die
Juden von Gott und ihrer
Religion abwendeten.
Die ganze Idee eines
jüdischen Nationalismus
sei gegen die jüdische
Tradition: Das jüdische
Volk habe das Joch des
Exils zu tragen, dies
sei wesentlicher Bestandteil
seiner Existenz, und
es sei nur an Gott,
durch den Maschiach
diese Situation zu ändern.
Ebenso argumentierten
die meisten traditionellen
religiösen Führer, zum
Beispiel der Gerer Rebbe
(1901)[6], oder auch
der große Rabbiner von
Lübeck, Dr. Salomon
Carlebach, und diese
traditionellen Führer
schlossen sich in der
„Aguda“ („Union“) zusammen.
Auch mein Onkel Pinchas
Elijahu habe für die
Aguda gegen die Zionisten
gepredigt und wegen
seiner Begabung als
Redner damit viele Menschen
überzeugt, so erzählte
mein Onkel Arje. Pinchas
Elijahu war der Lieblingsbruder
meines Vaters. Daher
gab mein Vater meinem
Bruder diesen Namen,
seinem Erstgeborenen
nach dem großen Morden.
Der Namensgeber selbst,
Pinchas Elijahu Verleger,
war auf offener Straße
von der SS erschossen
worden.
Nun ist zwar die Gegnerschaft
der Aguda gegen den
Zionismus durchaus nachvollziehbar.
Man kann aber nur schwer
den rückwärtsgewandten
Beigeschmack dieser
Argumentation übersehen.
Dass man sich nicht
um aktuelle Probleme
kümmern soll, sondern
lieber auf den Messias
warten möge, klingt
ein wenig so wie die
Aufforderung, das Denken
den Pferden zu überlassen,
da diese die größeren
Köpfe haben.
Um so interessanter
ist die Kritik von Achad
ha’Am („Einer aus dem
Volk“). Unter diesem
Pseudonym verfasste
Ascher Ginsburg (1856-1927)
auf Hebräisch, der Sprache
der Zionisten, Kommentare
zur zionistischen Bewegung.
In „Die Umwertung der
Werte“ (1898)[7] kommentiert
er beispielsweise die
Übernahme der Nietzsche’schen
Ideologie des „Übermenschen“
und des „Kampfs ums
Dasein“ durch russische
Zionisten. Gegen die
Idee des „Kampfs ums
Dasein“ wendet er sich
entschieden. Dagegen
habe die Idee des „Übermenschen“
durchaus ihr Gutes:
Es erscheine abstrakt
und gleichmacherisch,
als moralisches Ziel
zu deklarieren, dass
sich die Menschheit
im allgemeinen verbessern
solle. Wesentlicher
und konkreter könne
es sein, dass einzelne
Menschen besondere Qualität
erstreben sollten. Nietzsche
habe dies aber aufgrund
seines germanisierend-volkstümelnden
Geschmackes in Richtung
der „blonden Bestie“
ausgeformt, als den
wiedererstandenen Recken
des alten Germaniens.
Als Jude müsse man jedoch
die Integration mit
den jüdischen Werten
anstreben, und das bedeute,
dass das Streben jeder
Generation dahingehen
müsse, dass jeder Einzelne
besondere moralische
Qualitäten anstreben
müsste. Ein solches
Ziel besonderer moralischer
Qualität sei eben nicht
ein alter Zopf, den
der moderne jüdische
Nationalismus nun als
erstes abschneiden müsse.
Vielmehr sei eine jüdische
nationale Wiedergeburt
ohne Rückgriff auf die
jüdische moralische
Tradition nicht vorstellbar.
Herzl selbst - und dies
prägte die Hauptlinie
der zionistischen Ideologie
bis 1944 (leider nicht
ihrer Praxis) - war
kein Anhänger von Ideen
des „Kampfs ums Dasein“.
Er propagierte nicht
die Verdrängung der
arabischen Bewohner
von Palästina, sondern
forderte vielmehr ihre
Gleichberechtigung in
einem multikulturellen
Staat. In seinen Tagebüchern
(zitiert im folgenden
aus Kohn, 1958)[8] notierte
er: „Mein Testament
für das jüdische Volk:
Euren Staat so zu erbauen,
dass ein Fremder zufrieden
bei Euch lebt.“ Und
in seinem visionären
Buch „Altneuland“ wandte
er sich ausdrücklich
gegen die Idee, dass
Juden in dem zu schaffenden
Staat aufgrund ihrer
Herkunft oder Religion
eine privilegierte Stellung
haben dürften. „Wir
stehen auf den Schultern
anderer zivilisierter
Völker ... Was wir besitzen,
verdanken wir dem vorbereitenden
Werk anderer Völker.
Daher haben wir unsere
Schulden zurückzuzahlen.
Es gibt nur einen Weg
dafür: Die größtmögliche
Toleranz. Unser Motto
muss daher sein, jetzt
und immerdar: Mensch,
Du bist mein Bruder.“
Daher kann auch in „Altneuland“
der Araber Reschid Bey
zu einem europäischen
Besucher sagen: „Würden
Sie jemanden als Eindringling
oder Räuber ansehen,
der ihnen nichts wegnimmt,
sondern Ihnen im Gegenteil
etwas zukommen lässt?
Die Juden haben unser
Leben bereichert, wie
können wir Zorn auf
sie empfinden? Sie leben
mit uns als unsere Brüder,
warum also sollten wir
sie nicht lieben?“
Theodor Herzl starb
1904, im Alter von 44
Jahren. Er erlebte weder
den Erfolg noch die
Perversion seiner Vision.
Bei den Volksbewegungen
für die Entstehung der
europäischen Nationalstaaten
im 19. Jahrhundert aus
den großen Imperien
Osmanisches Reich, Habsburgisches
Reich, Zarenreich handelte
es sich nach allgemeinem
Verständnis um „linke“,
„fortschrittliche“ Bewegungen.
Feudale Strukturen wurden
aufgelöst, die Sprache
des Volkes wurde offizielle
Sprache, Märtyrer aus
dem Kampf für die Volksfreiheit
bekamen den ihnen zustehenden
Platz in der offiziellen
Kultur der neuen Staaten.
Ein ähnlicher Prozess
wiederholte sich im
20. Jahrhundert bei
der Wiedererstehung
der Nationalstaaten
West- und Südeuropas
aus der Besetzung durch
das Hitler-Reich, wurde
pervertiert in Osteuropa
durch die gleichzeitige
Besetzung durch das
Stalin-Reich und konnte
sich dort in unseren
Tagen, 1989, durch die
Wiedererstehung aus
der Umklammerung des
Sowjet-Reichs vollenden.
Nichts unterscheidet
die jüdische nationale
Volksbewegung im Zarenreich
von diesen anderen linken,
bürgerlichen, nationalistischen,
fortschrittlichen Volksbewegungen,
außer der Tatsache,
dass sie keines ihrer
Wohngebiete als ihr
Staatsgebiet beanspruchen
konnte, denn die Juden
waren überall in der
Minderheit.
Auch waren die anderen
Volksbewegungen nicht
im politikfreien Raum
erfolgreich. Vielmehr
wurde die Entstehung
der neuen Nationen im
allgemeinen entscheidend
begünstigt, wenn eines
der anderen Reiche diesen
Prozess förderte. Zum
Beispiel hat dasselbe
Russland, das in Polen,
Litauen, Lettland, Estland
seit Jahrhunderten wegen
seiner übergriffigen
Großmachtpolitik gehasst
wird, in Bulgarien ein
hervorragendes Image.
Denn es war Zar Nikolai,
der 1877 das Osmanische
Reich zwang, Bulgarien
die Selbständigkeit
zu geben, nachdem zunächst
ein bulgarischer Aufstand
vom Osmanischen Reich
in einem Blutbad mit
Tausenden Toten niedergemacht
wurde. Bis heute ist
die Hauptstraße in Sofia
nach dem „Zar dem Befreier“
benannt.
Herzl agierte vor dem
Ersten Weltkrieg. Der
jüdische Staat in Uganda,
Madagaskar oder Zypern
hätte keines der europäischen
Großreiche direkt betroffen
und erschien ihm wohl
aus diesem Grund ein
aussichtsreicheres Unternehmen
als ein jüdischer Staat
im alten Judäa, denn
dieses Gebiet musste
dem Osmanischen Reich
weggenommen werden.
Dies konnten nicht die
Juden durch einen Volksaufstand
tun, anders als die
Bulgaren oder die Griechen,
denn sie waren ja noch
gar nicht in diesem
Land wohnhaft. Für ein
solches Projekt mussten
also mächtige Fürsprecher
gefunden werden, sonst
war es aussichtslos.
Herzl setzte auf den
Deutschen Kaiser, Wilhelm
II. Die Idee war, dass
durch eine jüdische
Kolonie das Deutsche
Reich einen Vorposten
in dieser strategisch
wichtigen Region bekommen
könnte, bewohnt von
Menschen, die allein
schon durch ihre Sprache
(das „taitsche“ Jiddisch)
mit der deutschen Kultur
verbunden waren, geführt
von einer in Deutschland
und dem deutschsprachigen
Teil des Habsburgerreichs
aufgewachsenen Elite.
Tatsächlich hatte Herzl
in dieser Sache eine
Audienz bei Wilhelm
II., in Palästina, als
der Deutsche Kaiser
auf Staatsbesuch im
Osmanischen Reich war.
Aber aus dieser Idee
wurde letztlich nichts,
allein schon wegen Herzls
frühem Tod.
Auf dem von Herzl vorgezeichneten
Weg gelang es jedoch
dem nach England berufenen
jüdischen Chemieprofessor
Chaim Weizman, seine
britische Regierung
zu überzeugen, die „Einrichtung
einer jüdischen Heimstätte
in Palästina mit Wohlwollen
zu betrachten“. Dies
erklärte der britische
Außenminister Lord Balfour
1917 in einer offiziellen
Note. Die Motive der
britischen Regierung
für diese Haltung waren
vermutlich komplex.
Man war die führende
Weltmacht und wollte
dies bleiben. Man wünschte
den Zerfall des Osmanischen
Reiches, oder konnte
ihn zumindest nicht
verhindern, und wollte
daher ein neues System
an dessen Stelle setzen.
Wenn es die Briten nicht
täten, würde es vielleicht
eine andere Macht tun,
sei es der Deutsche
Kaiser, mit dem man
noch im Krieg lag, oder
die Schwellenmacht USA,
deren Präsident Wilson
verdächtige Reden von
der Universalität der
Menschenrechte führte.
Nicht zuletzt war Russland
ein Pulverfass: Der
Zar war gestürzt, die
Juden hatten zum ersten
Mal in der russischen
Geschichte gleiche Rechte
wie alle anderen, viele
Unterstützer der jetzt
herrschenden Sozialdemokraten
waren Juden (u.a. der
„Bund“, die große nicht-zionistische
sozialistische Organisation),
der Kriegsgegner Deutschland
führte Geheimverhandlungen
mit dem radikalen Lenin
in dessen Zürcher Exil
- es war sehr unklar,
was in nächster Zeit
auf russischem Boden
politisch geschehen
würde. Möglicherweise
war eine Massenemigration
von Juden zu befürchten,
größer als 1905, und
es wäre sicher günstig,
wenn sich diese Emigration
ins ferne Arabien ergießen
würde anstatt zum Beispiel
nach London, wo sich
sowieso schon allerlei
Volk anderer Hautfarbe
tummelte und die britischen
Sitten durcheinander
brachte. Man wusste
ja auch, dass diese
russisch-jüdischen Emigranten
extrem links eingestellt
waren, kollektive Bewirtschaftung
propagierten und sogar
das Fundament jeden
Staates, die Familie,
abschaffen wollte. Solche
Leute sollten ihre Gesellschaftsexperimente
nicht in einem wichtigen
Staat wie Russland oder
Großbritannien durchführen
- die palästinensische
Wüste und das galiläische
Sumpfland waren kein
schlechter Ort für sie;
da konnten sie sich
die Hörner abstoßen
und würden dann vielleicht
am Ende ganz honorige
Leute, so wie dieser
Weizman.
Großbritannien ließ
sich also nach dem Ende
des 1.Weltkriegs und
der damit einhergehenden
Zerlegung des Osmanischen
Reichs ein ganz offizielles
Mandat vom auf USA-Initiative
entstandenen Völkerbund
für die Verwaltung dieses
Landstrichs geben -
nun hieß er offiziell
„Palästina“ - und so
kam also das jüdische
Volk zu seiner Heimstätte,
als Vorposten des britischen
Reiches im Nahen Osten.
Das Konzept der „Heimstätte“
konnte sich durchaus
auf Vorstellungen Theodor
Herzls berufen. Der
erste britische Hohe
Kommissar für das Mandatsgebiet,
Sir Herbert Samuel (der
mit diesem Posten wegen
seiner Sympathie für
die zionistische Bewegung
betraut worden war),
formulierte es wie folgt
(zitiert aus Kohn, 1958):
„Ich höre es vielerorts,
dass die arabische Bevölkerung
Palästinas niemals zustimmen
wird, dass ihr Land,
ihre heiligen Stätten
und ihr Grund und Boden
ihnen weggenommen und
an Fremde fortgegeben
wird ... Die Leute sagen,
sie könnten nicht verstehen,
wie die britische Regierung,
die in aller Welt für
ihre Gerechtigkeit gerühmt
wird, ihr Einverständnis
zu einer solchen Politik
gegeben hat. Ich antworte
darauf, dass die britische
Regierung niemals dazu
ihr Einverständnis gegeben
hat und dies auch niemals
tun wird. ... [Die Balfour-Deklaration]
besagt, dass die Juden,
als ein Volk, das zerstreut
in alle Welt ist, aber
dessen Herz immer nach
Palästina gerichtet
war, in den Stand gesetzt
werden sollten, ihre
Heimat zu finden, und
dass manche von ihnen,
in dem Rahmen, der durch
die Anzahl und die Interessen
der jetzigen Bevölkerung
gesetzt ist, nach Palästina
kommen sollten, um mit
ihren Möglichkeiten
und Energien das Land
zum Vorteil all seiner
Bewohner zu entwickeln.
Wenn Maßnahmen nötig
sind, um die muslimische
und christliche Bevölkerung
zu überzeugen ... dass
ihre Rechte wirklich
gesichert sind, dann
werden diese Maßnahmen
ergriffen. Denn die
britische Regierung,
als Bevollmächtigte
des Mandats für das
Wohlergehen der Bevölkerung
Palästinas, würde ihnen
niemals eine Politik
aufzwingen, von der
diese Bevölkerung mit
Recht annehmen könnte,
sie sei ihren religiösen,
politischen und wirtschaftlichen
Interessen entgegengesetzt.“
Diese Worte benennen
tatsächlich den zentralen
Grund, aus dem sich
Herzl für einen „Judenstaat“
einsetzte. Ein solcher
Staat wäre das real
existierende Heimatland
für die Juden in aller
Welt, genauso wie Irland,
Italien, China und Deutschland
die real existierenden
Heimatländer für Millionen
in die USA ausgewanderter
Iren, Italiener, Chinesen
und Deutscher waren.
Genauso wenig wie all
die ausgewanderten Iren
wieder nach Irland zurückkehren
müssen, um in den USA
als gleichberechtigt
anerkannt zu sein, müssten
alle Juden nach Palästina
zurückkehren: Die pure
Existenz eines solchen
Heimatlands würde ausreichen.
Sie wäre schon genug,
um den Vorwurf an französische
Juden wie Dreyfus oder
Wiener Juden wie Herzl,
sie seien vaterlandslose
Gesellen, automatisch
zum Verschwinden zu
bringen und damit dem
Antisemitismus seine
wesentliche Grundlage
zu entziehen. Die „Heimstätte“
würde genau diese Funktion
erfüllen. Mehr noch:
So wie Herzl es in „Altneuland“
dargestellt hatte, dass
Menschen aller Herkunft
und aller Religionen
in diesem Staat friedlich
zusammenleben würden,
so könnte diese Heimstätte
allen Staaten der Welt
als Vorbild gelten,
wie man adäquat mit
seinen Minderheiten
umgeht, und auch dies
würde helfen, den Antisemitismus
in Mitteleuropa zu bekämpfen.
Was allerdings in den
nächsten Jahren folgte,
war wohl kaum das, was
sich die britische Regierung
bei ihrer wohlwollenden
Betrachtung der jüdischen
Heimstätte vorgestellt
hatte. Anstatt dass
freundliche britische
Kolonialbeamte mit unrasierten
russisch-jüdischen Hippies
kurzweilige Diskussionen
über Kollektivismus
und Familiensinn führen
konnten, gab es Mord
und Totschlag, und die
britische Mandatsverwaltung
saß zwischen allen Stühlen.
Die Juden aus dem Zarenreich
und aus der folgenden
bolschewistischen Diktatur
hatten die Mühen der
Auswanderung nicht deswegen
auf sich genommen, um
nun als edles Vorbild
für alle Welt zu gelten.
Sie wollten ihren Staat
aufbauen. Sie wollten
sich endlich von niemandem
mehr herumkommandieren
lassen müssen. Sie wollten
nicht Rücksicht nehmen.
Sie wollten frei sein.
Sie wollten ihre eigene
Staatsform wählen. Und
wenn die britische Mandatsverwaltung
dies nicht gestattete,
dann musste sie bekämpft
werden.
Die arabische Welt war
entsetzt über die Balfour-Deklaration.
Araber hatten mit britischer
Unterstützung gegen
das osmanische Reich
revoltiert, aber die
Einrichtung des palästinensischen
Mandatsgebiets und die
Abgrenzung einer britischen
und einer französischen
Einflusssphäre (seit
dem Sykes-Picot-Abkommen
von 1916) machten die
arabischen Hoffnungen
auf eine staatliche
Wiederauferstehung zunichte.
Der britische Oppositionsführer
MacDonald, Vorsitzender
der Labour Party, schrieb
1922, nach seinem Besuch
in Palästina (zitiert
nach Kohn, 1958): „Niemand,
der ein Organ für die
Strömungen im Nahen
Osten hat, kann sich
mit dem Glauben trösten,
dass die Araber vergessen
oder vergeben haben
oder dass das moralische
Übel, das wir begangen
haben, in Bälde keine
politischen Nachwirkungen
mehr haben wird. Wie
wir die Moslems behandelt
haben, ist ein Wahnsinn.“
Der Keim zu der kommenden
Fehlentwicklung war
früh gelegt und war
für nüchtern denkende
Menschen klar erkennbar.
Nachdem der oben erwähnte
Achad ha’Am 1891 als
35-Jähriger zum ersten
Mal Palästina besucht
hatte, betonte er in
seinen folgenden Schriften
immer wieder, dass dies
nicht nur ein kleines
Land sei, sondern auch
ein bevölkertes, kein
leeres. Niemals könnte
es der Forderung der
Gebetbücher nachkommen
und den zerstreuten
Juden aus allen vier
Ecken der Welt wieder
eine Heimat geben. Das
Judentum habe dies aus
gutem Grund dem Messias
überlassen, da es mit
menschlichen Mitteln
nicht erfüllbar sei.
Den alteingesessenen
Einwohnern müssten die
jüdischen Ankömmlinge
mit Respekt entgegenkommen,
jedoch (zitiert nach
Kohn, 1958): „Was tun
unsere Brüder in Palästina?
Genau das Gegenteil!
Knechte waren sie in
den Ländern der Diaspora,
plötzlich finden sie
sich in Freiheit wieder,
und dieser Wechsel hat
bei ihnen eine Neigung
zum Despotentum ausgelöst.
Sie behandeln die Araber
mit Feindschaft und
Grausamkeit, berauben
sie ihrer Rechte, beleidigen
sie grundlos und prahlen
obendrein mit ihren
Taten; und niemand unter
unseren Leuten stellt
sich dieser verachtenswerten
und gefährlichen Neigung
entgegen.“ Dies schrieb
er 1891, als die zionistischen
Siedler noch eine verschwindend
kleine Minderheit in
Palästina bildeten.
Achad ha’Am warnte:
„Wir glauben, die Araber
seien eine Art Wilde,
die wie Tiere leben
und ihre Umwelt nicht
verstehen. Dies ist
jedoch ein großer Irrtum.“
Zwanzig Jahre später,
1911, als es zu den
ersten arabischen gewaltsamen
Unruhen gegen die jüdische
Besiedlung kam, schrieb
er in einem Brief: „Ich
beobachte dies von ferne
mit blutendem Herzen,
besonders wegen des
Fehlens jeder Einsicht
und Verständnisses von
unserer Seite. Tatsächlich
war doch bereits vor
zwanzig Jahren klar,
dass der Tag kommen
würde, an dem die Araber
sich gegen uns erheben
würden.“ Zwei Jahre
später, 1913, verhängte
die Organisation jüdischer
Arbeiter in Palästina
einen Boykott gegen
Betriebe, wenn diese
arabische Arbeiter beschäftigten.
Die ideologische Begründung
dafür war, dass Juden
sich nun endlich selbst
als arbeitendes Volk
zeigen müssten und nicht
nur als Kapitalisten,
die von der Arbeit anderer
lebten. Achad ha’Am
sah die massive Diskriminierung,
die durch diese Ideologie
ein linkes Mäntelchen
umgehängt bekam, und
schrieb: „Ganz abgesehen
von den politischen
Risiken: Ich kann es
nicht fassen, dass unsere
Brüder moralisch in
der Lage sind, sich
dermaßen zu Menschen
aus einem anderen Volk
zu verhalten. Und unwillkürlich
überkommt mich der Gedanke:
Wenn das schon jetzt
so ist, wie werden wir
uns gegen die anderen
verhalten, wenn wir
tatsächlich ‚am Ende
der Zeiten’ die Macht
in Erez Jissrael haben
würden? Wenn das denn
der Messias sein soll,
dann wünsche ich nicht,
dass er kommt.“
Im gleichen Sinne schrieb
der Prager Philosoph
Hugo Bergmann 1919,
späterer Mitbegründer
der Hebräischen Universität
Jerusalem, kurz vor
seiner Übersiedlung
nach Palästina (zitiert
nach Kohn, 1958): „Die
Nagelprobe für den wirklich
jüdischen Charakter
unserer Besiedlung von
Palästina wird unser
Verhältnis zu den Arabern
sein. ... Ein Übereinkommen
mit den Einwohnern des
Landes ist für uns viel
wichtiger als alle Deklarationen
der Regierungen dieser
Welt. Dies ist der zionistischen
Öffentlichkeit leider
noch nicht bewusst.
Was in Palästina vor
dem [1. Welt-] Krieg
geschehen ist, war fast
gänzlich dazu angetan,
die Araber zu unseren
Feinden zu machen. Eine
friedliche Begegnung
und Verständigung mit
ihnen ist jedoch für
uns eine Lebensnotwendigkeit.“
Im gleichen Jahr forderte
der deutsche jüdische
Philosoph Martin Buber,
dass die Zionisten sich
darauf konzentrieren
müssten, „eine dauerhafte
und feste Übereinkunft
mit den Arabern auf
allen Gebieten des öffentlichen
Lebens zu schaffen und
aufrechtzuerhalten,
eine umfassende brüderliche
Solidarität.“ (zitiert
nach Kohn, 1958)
Tatsächlich klang die
von Weizman angeführte
Mehrheitslinie der Zionistischen
Bewegung in ihren offiziellen
Verlautbarungen durchaus
verständigungsbereit
und friedlich. 1930,
auf einem Treffen des
zionistischen Generalrats
in Berlin, sagte Weizman,
es sei nicht möglich,
Palästina in einen jüdischen
Staat zu verwandeln,
denn „wir können nicht
und wollen nicht die
Araber vertreiben“.
Und auf dem Zionistischen
Weltkongress 1931 in
Basel ging er, wie so
oft, ausführlich auf
dieses Problem ein.
„Als wir unsere Arbeit
der Errichtung unseres
nationalen Heimes in
Palästina aufnahmen,
haben weder wir noch
die britische Regierung
die Interessen der palästinensischen
Araber aus den Augen
verloren. ... Aber die
Frage erwies sich als
viel komplizierter,
als man angenommen hatte.
... Heute, wo eine so
große Erbitterung herrscht
und die Atmosphäre so
vergiftet ist, ist es
schwer, von den Mitteln
zu sprechen, durch die
das Ziel einer friedlichen
Kooperation mit den
Arabern erreicht werden
könnte; aber eine Sache
scheint mir vollkommen
klar zu sein: Die Araber
müssen fühlen und müssen
überzeugt werden durch
Tat und Wort, dass,
welches immer das künftige
numerische Verhältnis
der beiden Völker in
Palästina sein mag,
wir für unseren Teil
keine politische Beherrschung
planen.“ (zitiert aus
Krojanker, 1937, S.236-237)[9]
Auf dem gleichen Kongress
wandte er sich dagegen,
als Ziel des Zionismus
die Schaffung eine jüdischen
Staates festzuschreiben,
denn: „Die Welt wird
diese Forderung nur
in einem Sinne verstehen,
nämlich dass wir eine
Mehrheit erlangen wollen,
um die Araber zu vertreiben“
... „Wir Zionisten wissen,
dass dies nicht unser
Ziel ist ... Eine numerische
Mehrheit wäre keine
genügende Garantie für
die Sicherheit unserer
Nationalen Heimstätte.
Die Sicherheit muss
geschaffen werden durch
verlässliche politische
Garantien und durch
freundschaftliche Beziehungen
zu der nicht-jüdischen
Welt, die uns in Palästina
umgibt.“ (zitiert aus
Kohn, 1958)
Die Politik der Konfrontation
mit den Arabern - die
offensichtlich der Stimmung
an der jüdischen Basis
in Palästina entsprach
und wahrscheinlich entgegen
Weizmans Worten und
den guten Wünschen vieler
eine unvermeidliche
Folge der jüdischen
Einwanderung und Landaneignung
war - wurde offiziell
nur von einer Minderheitslinie
der zionistischen Bewegung
propagiert. Dies waren
die sogenannten „Revisionisten“,
mit ihrem Sprecher Wladimir
Se’ew Zhabotinskij (in
englischer Umschrift
des Russischen: Jabotinsky;
1880-1940). Sie waren
es, die ganz offiziell
das Ziel eines jüdischen
Staates propagierten,
und dies bedeutete,
wie jedermann wusste,
dass die arabische Bevölkerung
Palästinas in diesem
Staat nichts zu sagen
haben sollte. Im Rahmen
der international organisierten
zionistischen Bewegung,
die Wert auf guten Kontakt
zu internationalen Organisationen
und Regierungen legte,
wäre eine solche gewaltsame
politische Linie unangebracht
gewesen. Vor Ort, in
Palästina bestimmte
aber diese Einstellung
das politische Geschehen,
provoziert durch Gewaltausbrüche
seitens der arabischen
Bevölkerung und diese
weiter anheizend. Die
Geschehnisse von Hebron
aus dem Jahr 1929 kann
man nur als Pogrom bezeichnen.
Mehr als 60 überwiegend
schon lange dort lebende
jüdisch-orthodoxe Menschen
wurden von arabischen
Einwohnern in einer
Gewaltorgie getötet.
Auf diese schon damals
katastrophale Lage kam
nun noch der Ausbruch
ungebremsten, andauernden
und systematischen Judenhasses
in Deutschland. Wer
nicht aus Deutschland
auswanderte, wurde zuerst
entehrt, dann enteignet,
schließlich verschleppt
und getötet, durch Hunger
und Entbehrung, durch
Erschießen, durch Vergasen.
Die Juden Deutschlands
hatten wenigsten noch
sechs Jahre lang eine
gewisse Wahlmöglichkeit
für die Auswanderung
(von 1933 bis ca. Anfang
1939). Die Juden der
von der deutschen Wehrmacht
ab 1939 eroberten und
terrorisierten Länder
Europas hatten diese
Wahl nicht mehr. Ich
liste kurz zur Veranschaulichung
die Daten meiner engsten
Verwandten auf.
Meine Familie mütterlicherseits
wohnte seit Generationen
in Preußen, also ab
der Reichsgründung 1871
im Deutschen Reich.
-
Meine Mutter wurde
1942, 17-jährig,
von Berlin nach
Estland gezwungen,
überlebte Zwangsarbeit,
Lagerhaft, Rücktransport
und Todesmarsch.
-
Die Eltern meiner
Mutter, Hanna und
Bruno (Stiefvater),
wurden mit dem gleichen
Bahntransport nach
Estland gezwungen.
Sie kamen nicht
zurück. Hanna wurde
direkt nach der
Ankunft erschossen,
da sie straffällig
geworden war (nämlich
in Berlin ohne Judenstern
zum Friseur gegangen
war). Bruno überlebte
ungefähr ein Jahr
und ist seit Anfang
1944 in Estland
verschollen.
-
Der leibliche Vater
meiner Mutter, Arnold,
wurde nach Auschwitz
deportiert und kam
nicht zurück.
-
Die Eltern meiner
Großmutter, das
Ehepaar Leopold
und Hedwig Löwenstein,
wurden nach Theresienstadt
deportiert, von
dort vermutlich
nach Auschwitz.
Sie kamen nicht
zurück.
-
Der Vater meines
Großvaters, Adolf
Messer, starb bereits
1918. Seine Frau,
Rosa Messer, wurde
vermutlich nach
Theresienstadt deportiert.
Sie kam nicht zurück.
-
Von den drei Geschwistern
meines Großvaters
überlebten zwei
das Hitlerreich
nicht, Rosa und
Ella. Mein Großonkel
Willy wanderte ca.
1938 weit genug
aus, nach Australien.
-
Beide Geschwister
meiner Großmutter
überlebten das Hitlerreich.
Fritz wanderte klugerweise
schon ca. 1935 nach
USA aus, Norbert
fand noch 1938 einen
Platz im Auswandererschiff
nach Palästina und
wanderte von dort
1946 ebenfalls in
die USA aus.
Meine Familie väterlicherseits
war erst 1905 nach Deutschland
eingewandert. Daher
hatten sie nicht die
deutsche Staatsbürgerschaft
und wurden deswegen
1938 aus Deutschland
nach Polen zwangsausgewiesen,
nach dem Einmarsch der
Wehrmacht nach Polen
1939 ihrer Bewegungsfreiheit
beraubt und in Vernichtungslager
deportiert.
-
Mein Vater überlebte
Auschwitz. Die Häftlingsnummer
war für sein Leben
in seinen Unterarm
eingebrannt. „Das
ist mein Autokennzeichen“,
sagte er, als ich
ihn als kleines
Kind danach fragte.
-
Seine Frau Rosa
und seine drei Söhne
Heinrich, Me’ir,
und der kleine Zwi,
wurden in Auschwitz
ins Gas gezwungen.
-
Sein Vater war 1927
gestorben. Seine
Mutter wurde nach
Theresienstadt deportiert
und kam nicht zurück.
-
Von seinen sieben
Geschwistern überlebte
der jüngste, Adolf.
Sein Bruder Pinchas
wurde, wie oben
erwähnt, von der
SS auf offener Straße
erschossen. Jonas,
Berta, Paula, Laura,
Heinrich kamen aus
den Vernichtungslagern
nicht zurück.
Wie mein Großonkel Norbert
wanderten Zehntausende
deutscher Juden nach
Palästina aus. Sie brachten
neue Ideen und neue
Bedürfnisse in das russisch-polnisch
dominierte jüdische
Milieu. Vor allem aber
brachten sie weitere
Spannungen mit der arabischen
Bevölkerungsmehrheit.
Die deutsche Katastrophe
bestätigte einerseits
die Theorie Herzls.
Tatsächlich konnte nun
Palästina bei Ausbruch
eines antisemitischen
Exzesses als vorübergehende
Heimstätte dienen. Insofern
verhielt sich Großonkel
Norbert völlig theoriekonform,
als er acht Jahre seines
Lebens in dieser Heimstätte
verbrachte und dann
Platz für andere machte.
Andererseits zeigte
diese Katastrophe die
Grenzen von Herzls Theorie
auf. Es interessierte
die deutschen Mordpolitiker
und Mordsoldaten und
ihr Hilfspersonal nicht,
ob da ein jüdisches
Staatswesen existierte
oder nicht. Dies war
ein anderer Antisemitismus
als die dumpfen Pöbeleien,
die Herzl wohl in Wien
erlebt hatte. Den Deutschen
ging es darum, die Gefahr
abzuwenden, die das
internationale Judentum
für den deutschen Volkskörper
bedeutete. Dazu musste
mit einem eisernen Besen
durch Europa und die
Welt gefahren werden,
und das jüdische Ungeziefer
musste mit Stumpf und
Stiel vernichtet werden.
Mit einem solchen Wahnsinn
konnte kein Mensch rechnen.
So konnte die Existenz
der jüdischen Heimstätte
das europäische Judentum
in keiner Weise vor
der Vernichtung bewahren.
In diesem Sinne bestärkte
die Katastrophe die
Ansicht der zionistischen
„Revisionisten“. Ihnen
war ja stets die Wirkung
der Heimstätte auf den
möglichen Antisemitismus
in der Diaspora einerlei
gewesen. Worum es ging,
war die Schaffung eines
starken jüdischen Staates,
in den möglichst viele
Juden einwandern sollten.
Schließlich - vielleicht
am wichtigsten - änderte
der Massenmord an den
Juden Europas die Mehrheitsverhältnisse
und Meinungsfronten
pro und kontra Zionismus
innerhalb des Judentums
in Europa. Bis 1940
waren die religiösen
Führer in ihrer großen
Mehrheit gegen den Zionismus
aufgetreten. Nun waren
sie tot oder ausgewandert,
zum Teil - und das wirkte
nicht sehr konsequent
- nach Palästina.
Alle Dämme der britischen
Mandatspolitik brachen
dann durch das Zusammenwirken
der beiden Despoten
Hitler und Stalin. Für
meinen Vater war ja
von Kindheit an Deutschland
seine Heimat gewesen,
also ging er 1945 wieder
in sein Vogtland zurück.
Jedoch für die überlebenden
Juden aus Polen, Tschechoslowakei,
Ungarn, Litauen, Lettland,
Rumänien stellte sich
diese Frage ganz anders.
Nicht nur waren ihre
Familien ermordet und
ihre Heimatstädte durch
den Krieg zerstört,
sonder ihre Heimat war
nicht mehr die gleiche:
Die Rote Armee war einmarschiert,
und Stalins Leute übernahm
überall die Macht. Ob
man als Jude von den
Nazis verfolgt gewesen
war, interessierte diese
Zyniker der Macht überhaupt
nicht. Im Gegenteil,
man galt als verdächtiger
„Kosmopolit“. Junge
jüdische Männer, die
bereits in Hitlers Lagern
nur knapp dem Tod entgangen
waren, wurden ohne Rücksicht
auf ihr Leiden in die
Rote Armee eingezogen
und wer sich dem durch
Auswanderung nach Palästina
entziehen wollte, kam
wegen Desertion nach
Sibirien. In der polnischen
Stadt Kielce kam es
zu Pogromen.
Wer also einigermaßen
bei Verstand war und
nicht noch wesentliche
Bindungen in die alte
Heimat hatte, ging nicht
in Stalins Osteuropa
zurück. Wo aber sonst
sollten diese „Displaced
Persons“ nun hingehen?
Die jüdischen Organisationen
Palästinas setzten alles
daran, diese Menschen
nach Israel zu bekommen.
Die britische Mandatsverwaltung
tat ihr Möglichstes,
um die brechend voll
überlasteten Kähne,
die da über das Mittelmeer
an die palästinensische
Küste schipperten, von
der Landung abzuhalten.
Aber sie hatte schlechte
Karten gegen all die
Tausende und Zehntausende,
die da nach Palästina
wollten, weil ihnen
sonst nichts auf der
Welt mehr geblieben
war. Unter dem Eindruck
der Bilder der ausgemergelten
Überlebenden, die auf
dem Schiff „Exodus“
von der britischen Armee
zurück ins Mörderland
Deutschland eskortiert
wurden, stimmte die
UN-Vollversammlung 1947
für die Teilung des
Mandatsgebiets Palästina
in einen jüdischen Staat
und einen palästinensischen
Teil, der zum Königreich
Jordanien hinzugefügt
wurde. Der erste Staat,
der den neuen Staat
Israel diplomatisch
anerkannte, war die
Sowjetunion.
Der jüdische Staat war
erreicht. Das revisionistisch-zionistische
Programm hatte gesiegt.
Der arabischen Bevölkerung
Palästinas war von der
britischen Mandatsverwaltung
versichert worden, niemals
würden ihnen Land, heilige
Stätten, Grund und Boden
fortgenommen werden,
zugunsten einer Politik,
die ihren religiösen,
politischen und wirtschaftlichen
Interessen entgegengesetzt
war. Der Gang der Geschichte
hatte nun dafür gesorgt,
dass diese Worte zu
Lügen geworden waren.
Dagegen, wahrscheinlich
begünstigt durch Gewaltakte
von jüdischer Seite,
brachen die arabischen
Nachbarstaaten Israels
einen Krieg vom Zaun.
Aber bereits einen Monat
vor Beginn des Krieges
verübten die revisionistisch-zionistischen
bewaffneten Gruppen
EZeL und LeChI in Deir
Yassin, einem Vorstädtchen
von Jerusalem, ein Massaker
an ca. 100 Dorfbewohnern.
Vier Tage später massakrierten
arabische Kämpfer einen
jüdischen Sanitätstransport,
mit über 70 Toten. Die
arabische Bevölkerung
emigrierte oder wurde
vertrieben, vor Kriegsbeginn
zu Zehntausenden, danach
zu Hunderttausenden.[10]
Seitdem existiert das
Problem der palästinensischen
Vertriebenen. Das von
ihnen verlassene Land
wurde 1953 auf Beschluss
des israelischen Parlaments
enteignet. Das ist ein
großes Unrecht.
3. Die Krise der
jüdischen Identität
und der jüdische Staat
Von alters her definieren
sich Juden über ihre
Religion. Die 613 Aufträge
Gottes an sein Volk
sind einzuhalten. So
sah das Hillel, so sahen
das die Weisen des Talmuds,
so sahen das unsere
Weisen im Mittelalter,
so sah das der Lubawitscher
Rebbe, als er sich 1903
über die Zionisten äußerte,
und so sieht das heute
aktuell mein Bruder,
wenn er sagt, die Torah-Rolle,
die mein Vater 1958
der Stuttgarter Gemeinde
zur Verfügung gestellt
hat, solle nur dann
in meine Lübecker Gemeinde
überbracht werden, wenn
in Lübeck regelmäßig
zehn Männer in die Synagoge
kämen, die „Schomrej
Schabbat“ sind, also
die Schabbat-Ruhe einhalten.
Die Torah wird in Stuttgart
bleiben. Es sind in
Lübeck keine zehn Männer
da, die die Schabbat-Ruhe
einhalten, obwohl die
Jüdische Gemeinde Lübeck
über 700 Mitglieder
hat. Die große Mehrheit
der Juden hält sich
nicht mehr an die meisten
Gebote der jüdischen
Religion - in Lübeck
nicht und anderswo auch
nicht. Das heißt, die
meisten Juden definieren
sich heute nicht mehr
darüber, dass sie an
die 613 Aufträge gebunden
sind.
Wie definieren Jüdinnen
und Juden sich heute?
Die traditionelle zionistische
Antwort auf diese Frage
ist die, die der Lubawitscher
Rebbe 1903 als ketzerisch
zitierte: Jude sein
kann bedeuten, sich
dem jüdischen Staat
zugehörig zu fühlen.
Zu diesem zionistischen
Standpunkt stellen sich
aber Fragen.
Erstens: Sich dem jüdischen
Staat „zugehörig fühlen“
auf der Linie von Jabotinsky
oder auf der Linie von
Achad ha’Am? Also: Heißt
„zugehörig fühlen“ jede
Maßnahme der israelischen
Regierung zu unterstützen,
insbesondere was das
Vorgehen gegen die arabischen
Palästinenser betrifft?
Oder heißt „zugehörig
fühlen“ sich dafür einzusetzen,
dass der jüdische Staat
gute Maßnahmen trifft?
Was aber sind „gute“
Maßnahmen?
Gut sind Maßnahmen doch
offenbar dann, wenn
sie 1) zielführend sind
und 2) den Grundregeln
menschlichen Zusammenlebens
entsprechen.
ad 1) Zielführend heißt
in diesem Fall: die
Existenz Israels sichern.
Nach Jabotinsky wird
Israel seine Existenz
dadurch sichern, dass
es stark ist und die
Araber dominiert. Nach
Achad ha’Am, Herzl und
Weizman wird Israel
seine Existenz dann
sichern, wenn es seine
arabischen Mitmenschen
und Nachbarn gut behandelt
und Frieden und Ausgleich
mit ihnen sucht. Das
sind zwei verschiedene
Wege, und wer sich „zugehörig
fühlt“, wird sich zwischen
ihnen entscheiden müssen.
ad 2) Die Grundregel
menschlichen Zusammenlebens
ist der Kant’sche kategorische
Imperativ: „Handle stets
so, dass die Begründung
Deines Handelns zum
Maßstab für das Handeln
anderer genommen werden
kann.“ In Hillels Variante:
„Was Dir verhasst ist,
tu Deinem Nächsten nicht
an.“ Die Behandlung
der Palästinenser widerspricht
auf den ersten Blick
dieser Grundregel. Auf
den zweiten Blick muss
man berücksichtigen,
dass Befürworter eines
„starken“ Israel häufig
mit dem jüdischen Opferstatus
unter Hitler argumentieren.
„Nie wieder!“ Die allgemeine
Regel, Maßstab für das
allgemeine Handeln,
wäre also: „Wer Angehöriger
eines Volkes ist, das
von einem anderen Volk
bestialisch und systematisch
abgeschlachtet wurde,
der darf vorsichtshalber
ein drittes Volk unterdrücken,
damit dieses seinem
Volk nicht nochmals
das antun wird, was
ihm das andere Volk
antat.“ Diese Regel
entspricht offenbar
nicht dem kategorischen
Imperativ, denn sie
führt zu niemals endendem
neuen Leid. Im übrigen
ist diese Regel unkorrekt
formuliert. Den historischen
Tatsachen entsprechend
müsste sie heißen: „Wer
Angehöriger eines Volkes
ist, das von einem anderen
Volk bestialisch und
systematisch abgeschlachtet
wurde, der durfte schon
immer, also bereits
ca. 40 Jahre vor diesen
Verbrechen, ein drittes
Volk unterdrücken.“
Denn die Diskriminierungen
und feindseligen Akte
gegen die arabischen
Palästinenser, die Achad
ha’Am, Martin Buber,
Chaim Weizman und andere
kritisierten, all das
geschah bereits 1890
und 1913 und lange bevor
ein Hitler überhaupt
deutscher Reichskanzler
wurde. Israels heutige
Politik setzt die Linie
von 1890 fort. Das Nazi-Argument
bietet eine willkommene
Ausrede, dies weiter
zu tun.
Zweitens stellt sich
bei dieser Definition
von Jude die Frage:
Wenn man sich als Jude
mit deutscher Staatsbürgerschaft
dem jüdischen Staat
zugehörig fühlt, wie
hält man es dann mit
dem deutschen Staat?
Fühlen sich Juden dem
deutschen Staat nicht
zugehörig?
Hatte also dieser Rostocker
Stadtrat Recht, als
er Ignatz Bubis, der
1992 wegen der Pogrome
gegen die Vietnamesen
nach Rostock gekommen
war, empfahl: „Kümmern
Sie sich um die Probleme
in Ihrer Heimat!“ Und
hatte Bubis nicht Recht,
als er dem Stadtrat
antwortete: „Dies hier
ist meine Heimat!“?
Ich werde Bubis für
diese Antwort auf immer
bewundern. Das ist die
Antwort, die auch mein
Vater gegeben hätte,
trotz seiner Auschwitznummer,
trotz des Verlusts seiner
Frau, seiner Söhne und
seiner Geschwister.
Hier in Deutschland
lebte er, arbeitete
er, zog er Kinder groß,
einmal vor dem Morden
und einmal danach, hier
baute er Häuser, stellte
er Leute ein, unterstützte
er die örtliche Fußballmannschaft.
Und hier liegt er begraben,
auf dem Münchner jüdischen
Friedhof, in seiner
deutschen Heimat, in
die er als 5-Jähriger
kam, als 38-Jähriger
ausgewiesen wurde, als
45-Jähriger wiederkam.
Gleichzeitig fühlte
er sich Israel zugehörig.
Bubis dagegen verzweifelte
an der deutschen Heimat
und ließ sich in Israel
begraben. Damit traf
er sich mit dem tiefen
Skeptizismus gegenüber
Deutschland, den die
jüdische Gemeinschaft
seit dem Hitlerreich
hatte - selbstverständlich
zu recht - und der sich
auch in Buchproduktionen
meiner - der Nachmord-Generation
- ausdrückt („Fremd
im eigenen Land“, herausgegeben
von Broder & Lang, 1979;
„Kein Weg als Deutscher
und Jude“, Brumlik,
2000).
Nun sind aber seit dem
Morden mehr als 60 Jahre
vergangen. Wieso soll
Deutschland für einen
Juden immer noch „nicht
mein Land“ sein? Die
Berufung auf die Nazi-Zeit
erstarrt zur Ausrede.
Sie verdeckt das grundlegende
Identitätsproblem der
nicht-religiösen Juden.
Wenn Judentum aus nichts
anderem mehr besteht
als auf der Zugehörigkeit
zu Israel, dann kann
man sich zu keinem anderen
Land bekennen, dann
ist Kritik an Israels
Politik gleichzusetzen
mit Verrat am Judentum,
denn gemäß dieser Identitätsproblematik
gibt es kein Judentum
außerhalb der Unterstützung
der Politik Israels.
Das ist Nationalismus
als Identitätsersatz.
Das ist nicht gut, denn
übersteigerter Nationalismus
hat schon andere Länder
in den Abgrund geführt,
und so könnte es auch
Israel gehen.
Die Lösung dieser schweren
Identitätskrise des
Judentums kann nicht
im Nationalismus liegen.
Die Lösung sollte daran
liegen, Judentum wieder
hauptsächlich als das
zu definieren, was es
Jahrtausende lang war,
nämlich als eine Religion,
die moralische Werte
hochhält. Dann haben
Juden einen Standpunkt,
von dem aus sie die
Politik ihres jüdischen
Staates bewerten, loben
und kritisieren können.
Die größte Chance und
die größte Verantwortung
zu einer Erneuerung
haben - wie der Name
sagt - die Reform-orientierten
Kreise des Judentums.
Meine Erfahrungen in
Deutschland sind leider
durchwachsen. Von verbandspolitischen
Vertretern des religiös-liberalen
Judentums in Deutschland
habe ich die allerkriegstreiberischsten
Aussagen zum Irakkrieg
gehört. Hier wird eine
große Chance vertan
- vielleicht die letzte
Chance des Judentums
- eine moralisch ernstzunehmende
Instanz zu bleiben anstatt
in Nationalismus zu
ersticken. (s. dazu
pessimistisch Meyer,
2005)[11]
Man muss hier ja noch
hinzufügen, dass die
Mehrheit der religiösen
Amtsträger im Judentum
seit 1967 die jüdische
Religion zur Nationalreligion
umdefiniert hat. Dieser
moralische Niedergang
ist unglaublich. Es
finden sich ja in Israel
Leute mit Rabbinertitel,
die den Mord an Rabin
gutheißen, die den verfluchten
Baruch Goldstein verehren
(der mit seinem Maschinengewehr
1994 in einer Moschee
in Hebron ein Blutbad
anrichtete und dabei
auch sein Leben verlor)
und ähnliches mehr.
Das sind doch Quacksalber.
Nur wenige traditionelle
Juden behielten die
geistige Größe dagegenzuhalten.
In meinen Augen ein
wirklich großer Orthodoxer
und Zionist, der für
die nationalistischen
Verirrungen nur Hohn
und Spott übrighatte,
war Jeschajahu Leibowitz.
Er war ein Leuchtturm
in der geistigen Düsternis.[12]
Wie sollen sich nun
nichtjüdische Deutsche
gegenüber der israelischen
Politik verhalten, angesichts
der jüdischen Identitätskrise
und auf dem Hintergrund
der deutschen Ermordung
der Juden Europas vor
60 Jahren?
Die einfachste Lösung
ist, nicht über diese
Politik zu reden. Beispielsweise
interviewte „Die ZEIT“
in getrennten Gesprächen
sowohl den spanischen
Ministerpräsidenten
Zapatero als auch die
deutsche Bundeskanzlerin
Merkel zum 11. 09. 2006,
also dem fünften Jahrestag
des Flugzeugangriffs
von Mohammed Atta und
Konsorten auf New York
und Washington D.C.
Die erste Frage an beide
Politiker war, wie der
Terrorismus zukünftig
zu bekämpfen sei. Zapatero
erklärte, es habe keinen
Sinn, sich an einzelnen
Regelungen der Gefahrenabwehr
(verschärfte Einreisebestimmungen
etc.) abzuarbeiten,
solange nicht die Quellen
des Terrorismus bekämpft
würden, und die wichtigste
Quelle sei das ungelöste
Palästinaproblem. Die
Bundeskanzlerin antwortete
auf die gleiche Frage,
die Bundesregierung
intensiviere ihre Anstrengungen
zur guten Ausbildung
der Polizei in Afghanistan.
Entschließt sich ein
Nichtjude, zu einem
Juden über israelische
Politik zu sprechen,
dann ist die erste ungeklärte
Frage: Was bedeutet
Israel für diesen Juden?
Zum Beispiel traf mich
kürzlich ein entfernter
Bekannter und sagte,
es habe ihm gut gefallen,
was ich in meinem Brief
geschrieben habe, der
Brief über „Sie wissen
schon, soll ich sagen:
‚Ihren’ Staat“?
Ja, was soll er denn
nun sagen? Ich habe
im vorigen Kapitel darauf
eine Antwort zu geben
versucht. Intern, von
jüdischer Seite aus,
klingt diese Ambivalenz,
diese Zerrissenheit
zwischen deutscher Heimat
und israelischer Ideal-Heimat
nett und sympathisch,
aber wie soll denn ein
deutscher Nichtjude
adäquat damit umgehen,
wenn der angeredete
Jude entschlossen ist,
die eigenen Ambivalenzen
auszublenden und stattdessen
diese Unsicherheiten
seiner Umgebung anzulasten?
Sagt der Nichtjude „Was
Ihr Land da macht, ist
aber gar nicht schön“,
dann kritisiert er in
den Augen des angeredeten
Juden nicht nur Israel,
sondern gibt auch noch
zu verstehen, dass der
angeredete Jude kein
richtiger Deutscher
ist. Sagt er „Was Israel
da macht, können Sie
und ich als Deutsche
nicht schön finden“,
dann verlangt er von
dem Juden in dessen
Augen, dass er Israel
nicht als seine Herzensheimat
sehen darf. Was auch
gesagt wird, stets schwingt
in den Augen von Juden,
wenn die eigene Ambivalenz
nicht gesehen wird,
ein Angriff auf die
jüdische Identität mit,
und dieser Angriff kann
ja nur eine Ursache
haben: den ewigen Hass
auf Juden. Also halten
nichtjüdische Deutsche
sich lieber heraus.
Denn gerade wenn sie
Werte von Anstand und
Moral hochhalten, schämen
sie sich für die deutschen
Untaten unter dem Nazi-Regime
und wollen daher keinesfalls
vor sich selbst und
anderen als Judenhasser
dastehen.
Und so kann Israel die
ärgsten Untaten begehen,
kann in Gasa den Flughafen
zerstören, das Auslaufen
von Schiffen verbieten,
das Elektrizitätswerk
zerbomben, die Wasserversorgung
kleindrehen, Hunderte
von Menschen inclusive
Frauen und Kindern erschießen,
mit Panzern die Straßen
plattwalzen, den Grenzübergang
schließen, wenn Obst
und Gemüse exportiert
werden sollen, die Fabrik
zerbomben, die Tausenden
von Menschen Arbeit
gab, - all dies unter
dem Stichwort der Terrorbekämpfung,
aber das offizielle
Deutschland wird dazu
nichts sagen. Stattdessen
warten wir ab, ob wir
die durch diese Untaten
motivierten arabischen
Desperados mit ihren
Kofferbomben noch rechtzeitig
erwischen, bevor sie
diese Koffer in unsere
Städte exportieren.
So kann es nicht weitergehen.
Daher haben wir, 71
jüdische Erstunterzeichnende,
die
Berliner Erklärung
„schalom 5767“
formuliert. Darin wenden
wir uns ausdrücklich
an die deutsche nicht-jüdische
Bevölkerung: Bitte setzen
Sie sich dafür ein,
dass die deutsche Regierung
und die EU Politik für
einen gerechten Frieden
in Israel und Palästina
macht und nicht weiter
durch einseitige Unterstützung
der israelischen Besetzungs-
und Unterdrückungspolitik
den Konflikt immer weiter
anheizt.
Fußnoten
-
Nachtrag bei Abfassung
dieses Manuskripts
im Mai 2007: Jetzt,
unter anderem nach
dem Bericht der
israelischen Winograd-Kommission
über den Irrsinn
dieses Krieges,
stellt sich das
vielleicht für manchen
damaligen Adressaten
dieses Briefs anders
dar.
-
Siehe www.juedisches-recht.de/rechtsgeschichte-solidaritaet.htm.
Ebenso die ausführliche
Stellungnahme aus
traditioneller Sicht
von Rabbiner B.
S. Jacobson, abgedruckt
auf www.hagalil.com/judentum/torah/bina/naechstenliebe.htm
-
Hier zitiert aus:
Selzer, Michael
(Hrsg.): Zionism
Reconsidered: The
Rejection of Jewish
Normalcy. The Macmillan
Company, New York,
1970, pp.11-18.
Ljubawitsch ist
wohl eine Stadt
in der heutigen
Ukraine.
-
Die Käpselchen,
die man sich beim
alltäglichen Morgengebet
mit Riemchen an
die Stirn und an
den linken Arm bindet,
gemäß dem biblischen
Auftrag: „und bindet
sie [diese Worte,
die ich Euch heute
als Auftrag gebe]
zum Zeichen an Deine
Hand, und sie seien
zum Merkzeichen
zwischen Deinen
Augen“ (5.Buch Mose,
Kap.5)
-
Herausgegeben von
Achad ha’Am (s.
unten)
-
Alter, Jehuda Arje
Leib, „Sfas Emes“
(Gerer Rebbe). Statement
on Zionism. Original
1901. Hier zitiert
aus: Selzer, 1970,
pp.19-22. “Ger”
ist Góra Kalwarija,
ein Städtchen 50
km von Warschau.
-
Nachgedruckt in
Selzer (1970)
-
Kohn, Hans. Zion
and the Jewish National
Idea. Original 1958.
Hier zitiert aus:
Selzer, 1970, pp.175-212.
-
Krojanker, Gustav
(Hrsg.): Chaim Weizmann:
Reden und Aufsätze
1901-1936. Berlin,
Jüdischer Buchverlag
Erwin Löwe, 1937.
-
Ilan Pappe (2006,
2nd Edition): A
History of Modern
Palestine. Cambridge
Univ. Press. Ilan
Pappe (2006): The
Ethnic Cleansing
of Palestine. Oneworld
Publications.
-
Meyer, Hajo G. das
Ende des Judentums:
Der Verfall der
israelischen Gesellschaft.
Melzer-Verlag, Neu
Isenburg, 2005
-
Auf Deutsch ist
erhältlich: Leibowitz,
Y. (1990) Gespräche
über Gott und die
Welt.
* Der Beitrag von
Rolf Verleger basiert
auf einem Vortrag, den
er beim "Friedenspolitischen
Ratschlag" am 3. Dezember
2006 in der Uni Kassel
gehalten hat. Der Text
erschien in dem Band:
Von der Verteidigung
zur Intervention. Beiträge
zur Remilitarisierung
der internationalen
Beziehungen
Kassel: Jenior Verlag
2007, Kasseler Schriften
zur Friedenspolitik
Bd. 14, 240 Seiten,
EUR 15,- (ISBN 978-3-934377-21-9)
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