VERLANGT IST EIN
MORALISCHES WERTURTEIL.
ÜBER DAS „EXISTENZRECHT" ISRAELS
Von John V. Whitbeck
Da inzwischen der von
Israel, USA und EU lang ersehnte palästinensische Bürgerkrieg
vor dem Ausbruch zu stehen scheint, empfiehlt sich eine Prüfung
des Arguments Israels, der USA und EU zur Rechtfertigung der
kollektiven Bestrafung der Palästinenser wegen ihrer „falschen"
Entscheidung bei den demokratischen Wahlen im Januar 2006 -
Hamas’ Weigerung, „Israel anzuerkennen" oder „die Existenz
Israels anzuerkennen" oder „das Existenzrecht Israels
anzuerkennen".
Diese drei Formulierungen
werden von Medien, Politikern und selbst Diplomaten so
austauschbar verwendet, als ob sie dasselbe meinen. Dies ist
jedoch nicht der Fall.
Die „Anerkennung Israels"
oder irgend eines anderen Staates ist ein
rechtlich-diplomatischer Akt eines Staates im Bezug auf einen
anderen Staat. Es ist abwegig - eigentlich unsinnig - , davon zu
reden, dass eine politische Partei oder Bewegung, selbst in
einem souveränen Staat, einem Staat die diplomatische
Anerkennung ausspricht. Von der „Anerkennung Israels " durch
Hamas zu reden, ist einfach schludrig, Verwirrung stiftend -
eine betrügerische Kurzformel für die eigentlich beabsichtigte
Forderung.
Die „Anerkennung der
Existenz Israels" ist kein logischer Unsinn und beinhaltet auf
den ersten Blick eine anscheinend relativ unkomplizierte
Anerkennung einer Tatsache des täglichen Lebens wie der Tod und
die Steuern. Doch bei dieser Formulierung ergeben sich ernste
praktische Probleme. Welches Israel, in welchen Grenzen ist
gemeint? Die 55 Prozent des historischen Palästina die für einen
jüdischen Staat 1947 von der UN-Generalversammlung empfohlen
wurden? Die 78 Prozent des historischen Palästina, die 1948 von
Israel besetzt wurden und nun von den meisten als „Israel" oder
„das eigentliche Israel" angesehen werden? Oder die 100 Prozent
des historischen Palästina, die von Israel seit 1967 besetzt
werden und auf Landkarten in israelischen Schulbüchern als
„Israel" erscheinen? Israel hat noch nie seine eigenen Grenzen
definiert, weil es damit notwendigerweise seine
Handlungsfreiheit einschränken würde. Wenn allerdings nur dies
verlangt wäre, könnte Hamas immerhin die Tatsache des
alltäglichen Lebens anerkennen, dass heute ein Staat Israel
innerhalb bestimmter Grenzen existiert.
Doch die "Anerkennung des
Existenzrechts Israels", die eigentlich gemeinte Forderung,
gehört in eine gänzlich andere Kategorie. Diese Formulierung
handelt nicht von diplomatischen Formalitäten oder der
schlichten Akzeptanz einer gegenwärtig gegebenen Wirklichkeit.
Verlangt ist eine moralisches Werturteil.
Zwischen der „Anerkennung
der Existenz Israels" und der „Anerkennung des Existenzrechts
Israels" besteht ein gewaltiger Unterschied. Aus
palästinensischer Sicht ist der Unterschied etwa so, wie wenn
von einem Juden die Anerkennung des Holocaust als historisches
Geschehen verlangt würde oder aber die Anerkennung, dass es
„richtig" war, dass der Holocaust geschehen ist, d.h. dass der
Holocaus (oder im Falle der Palästinenser die
Nakba) moralisch
gerechtfertigt war.
Zu verlangen, dass die
Palästinenser das „Existenzrecht Israels" anerkennen, heißt zu
verlangen, dass ein Volk, das seit fast 60 Jahren und heute
immer noch als Untermenschen behandelt wird, öffentlich sein
Untermensch-Sein verkündet und damit - zumindest indirekt -
einräumt, dass man verdient, was einem angetan wurde und immer
noch angetan wird. Nicht einmal die US-Regierungen des 19.
Jahrhunderts verlangten von den überlebenden Eingeborenen
Amerikas eine öffentliche Erklärung über die „Richtigkeit" ihrer
ethnischen Vertreibung durch die Bleichgesichter als
Vorbedingung für Gespräche, welche Reservate denn für sie
bereitgestellt werden sollten - wie gegenwärtig unter den
Bedingungen einer Wirtschaftsblockade und drohender Hungersnot,
bis die Palästinenser den letzten Rest an Selbstachtung aufgeben
und in diesem Punkt einlenken.
Manche glauben, Yasser
Arafat habe in diesem Punkt nachgegeben als Preis für seine
Fahrkarte zurück aus der Wildnis der Dämonisierung und um in den
Genuss des Rechts zukommen, Vorschriften der Amerikanern von
ihnen selbst in Empfang nehmen zu dürfen. Tatsächlich hat er in
seiner berühmten Stockholmer Erklärung 1988 „Israels Recht in
Frieden und Sicherheit zu existieren" akzeptiert. Diese
Formulierung handelt bezeichnenderweise von den Bedingungen der
Existenz eines Staates, der als eine Realität existiert. Er
handelt nicht von der existenziellen Frage der „Richtigkeit" der
Enteignung und Vertreibung des palästinensischen Volkes aus
seiner Heimat, um für ein anderes aus dem Ausland kommendes Volk
Platz zu machen.
Das ursprüngliche Konzept
der Formulierung „Existenzrecht Israels" und der Nützlichkeit
ihrer Verwendung als Ausflucht, um mit keiner palästinensischen
Führung zu reden, die in irgend einer Weise an den fundamentalen
Recht des palästinensischen Volkes festhält, wird Henry
Kissinger, dem Großmeister des diplomatischen Zynismus,
zugeschrieben. Es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass
jene Staaten, die diese Formulierung immer noch verwenden, dies
in dem vollen Bewusstsein tun, was sie an moralischen und
psychologischen Konsequenzen für das palästinensische Volk nach
sich zieht, und sie tun dies zu demselben zynischen Zweck - um
jeglichem Fortschritt zu Frieden und Gerechtigkeit in
Israel/Palästina Hindernisse in den Weg zu legen und auf diese
Weise, Israel weiterhin Zeit zu verschaffen, noch mehr
„Tatsachen vor Ort" zu schaffen, und gleichzeitig den
Palästinenser die Schuld für ihr eigenes Leiden zu geben.
Doch viele private Bürger
guten Willens mit festen Wertvorstellungen lassen sich
möglicherweise durch die äußerliche Simplizität der Worte
„Existenzrecht Israels" (und mehr noch der beiden anderen
Kurzformeln) täuschen und glauben, dass es sich dabei um eine
selbstverständliche, vernünftige Forderung handelt, und dass die
Zurückweisung einer solchen vernünftigen Forderung eher ein
Zeichen von Perversität (oder „terroristischer Ideologie") sein
muss als Ausdruck der Notwendigkeit des Festhaltens an
Selbstachtung und Würde vollwertiger Menschen, einer Haltung,
die bei einem seit langem misshandelten Volkes, dem sonst fast
alles genommen wurde, was das Leben lebenswert macht, in
Gefühlen und Gedanken tief verankert und völlig verständlich
ist. Dass dem so ist, beweisen Meinungsumfragen, wonach der
Anteil der palästinensischen Bevölkerung, der die
Standfestigkeit von Hamas in der Ablehnung dieser erniedrigenden
Forderung ihrer Feinde befürwortet - trotz Verschärfung der
wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Leiden infolge der
israelischen und westlichen Belagerung - wesentlich größer ist
als der Anteil der Bevölkerung, der im Januar Hamas gewählt hat.
Es sollte nicht zu spät
sein für die Einsicht aufrichtiger Menschen weltweit in die
Unvernunft - ja, die Verwerflichkeit - dieser Forderung wie auch
jener Formulierungen, in denen sie zum Ausdruck kommt, und deren
Gebrauch und Missbrauch schon so viel Elend verursacht hat und
weiter zu verursachen droht.
Übersetzung aus dem
Englischen: Klaus von Raussendorff
John V. Whitbeck ist
Völkerrechtler, langjähriger Berater palästinensischer
Verhandlungsdelegationen und Autor von "The World According to
Whitbeck", einer Sammlung von Artikeln aus den Jahren 1988 bis
2004. Er ist zu erreichen unter: jvwhitbeck@awalnet.net.sa