TRANSLATE
Israel-Palästina-Konflikt: Eine Kehrtwende im westlichen
Denken?
Prof. Richard Falk
UN-Reden
vermieden, die dramatischste Entwicklung zu erwähnen:
eine neue Phase des Konflikts
Obwohl die UN-Reden selten politische
Realitäten wiedergeben, enthielten die Präsentationen
von Mahmoud Abbas, im Namen der Palästinensischen
Autorität und der PLO (Palästinensische
Befreiungsorganisation), und von Benjamin Netanyahu, dem
Premierminister von Israel, einige beachtenswerte
Elemente.
Diese Reden kamen, als der Konflikt
in eine andere Phase eintrat, die durch den kürzlichen
teuflischen Angriff auf Gaza, der 50 Tage anhielt, aber
auch durch einige grundlegende Entwicklungen, die die
„Operation Protective Edge“ ermöglichten, noch
unterstrichen wurde.
Collage
zum
vergrößern
anklicken
Es ist so etwas wie eine Wetterfahne
der globalen Sichtweise des Konfliktes, dass Abbas, als
er sprach, einen donnernden Applaus erhielt, wohingegen
Netanyahu vor einem, halbleeren UN-Plenarsaal sprach.
Vor allem (ist es) ein wachsendes
Anzeichen dafür, dass die israelische Führung glaubt,
sie könne eine einseitige Lösung erzwingen, indem sie
Israel alles oder das meiste der Westbank eingliedert,
sowie weitere Maßnahmen der ethnischen Säuberung in
Ostjerusalem durchsetzt. Von daher gibt es keine weitere
Veranlassung, sich weiterhin in diplomatischen Scharaden
zu engagieren, die durch den Oslo-Friedensprozess im
Jahre 1993 initiiert wurden. Die Phase scheint vorüber
zu sein, die hilfreich für Israels Expansionspolitik,
aber nachteilig für diejenigen auf der palästinensischen
Seite war, die 1988 bereit waren, einen souveränen Staat
in den Grenzen von 1967 zu errichten, die vermeintliche
internationale einvernehmliche Meinung, wie der Konflikt
beendet werden könnte. Der letzte Versuch, sich in
Oslo-Diplomatie zu engagieren, wurde forciert umgesetzt
durch die strikten Methoden des US Staatssekretärs, John
Kerry.
Netanyahus Befürchtung
Die regionale Situation brachte auch
ein neues politisches Taktieren, was bei dem
israelischen Angriff auf Gaza deutlich wurde und dessen
Bestätigung das einzige innovative Merkmal der Rede
Netanyahus war. Die negative Entwicklung aus Netanyahus
Perspektive war die Befürchtung, dass der Druck auf den
Iran im Rahmen eines Abkommens über das iranische
Atomprogramm nachlassen würde, das eine verstärkte
politische Relevanz erlangt hatte, in Verbindung mit
Washingtons Bemühungen, die stärkste Koalition, die
möglich ist, zusammen zu schustern, um ISIL zu
bekämpfen.
Diese Kehrtwende im westlichen Denken
beunruhigte Netanyahu sichtbar, der darauf bestand, dass
das moderatere Image der iranischen Regierung seit der
Wahl Rouhanis zum Präsidenten im Jahre 2013, eine
Illusion sei, die von den Propagandamaßnahmen Teherans
gefördert würde.
In seiner Rede machte Netanyahu auf
die regionalen Umbrüche in der arabischen Welt im
Hinblick auf die Anerkennung „geteilter Interessen“ mit
Israel bei der Bekämpfung des militanten Islams in all
seinen Erscheinungsformen aufmerksam, die
selbstverständlich Hamas einschließen – die von
Netanyahu als Zweig von demselben „vergifteten Baum wie
ISIL“ bezeichnet wurde.
Was in den letzten Jahren deutlich
wurde, ist, dass Saudi Arabien und einige andere der
Golf-Staaten weit mehr vom politischen Islam, der Macht
mit demokratischen Mitteln und auf der Basis seiner „Graswurzel“-Stärke
erstrebt, bedroht werden als durch Israels
Militärdominanz in der Region oder als durch seine
sektiererische bittere Rivalität in der Region mit dem
schiitischen Iran. Diese Golf-Rangordnung kam deutlich
zum Vorschein, als sie sich auf die Seite des
Militärcoups von 2013 in Ägypten stellten, trotz der
Massaker, die an den sunnitischen Muslimen, den
Nachfolgern der Moslem Bruderschaft,verübt worden sind,
nachdem die von Mursi geführte Regierung gestürzt worden
war. Diese überraschend neue Ausrichtung wurde während
der „Operation Protective Edge“ anschaulich
demonstriert.
UN-Mitgliedschaft für Palästina
Mahmoud Abbas, der im Namen von
Palästina sprach, brachte natürlich eine andere
Sichtweise der Situation zum Ausdruck. Er legte den
Schwerpunkt auf das Ausmaß der Tatsache, dass der
israelische intensive Siedlungsprozess jegliche
Aussicht, den Konflikt mithilfe der Diplomatie zu lösen,
zerstört hat. Abbas schien letztlich anzuerkennen, was
bereits für viele Palästinenser seit langem sichtbar
ist, dass die Beteiligung an Washingtons Friedensprozess
hauptsächlich als Förderer von Israels
Siedlungskonstruktionen gedient hat und von Nachteil für
die Interessen Palästinas war. Er lehnte den Oslo-Ansatz
nicht völlig ab, aber er bestand darauf, dass direkte
Verhandlungen nur wiederaufgenommen werden könnten, wenn
Israel bedingungslos weitere Ausdehnungen von Siedlungen
stoppen würde.
Abbas Diplomatie schlug neue
Richtungen ein: Er übergab dem Generalsekretär einen
formellen Antrag zur Weiterleitung an den
Sicherheitsrat, damit dieser auf Palästinas Antrag auf
eine Voll-Mitgliedschaft bei der Organisation und in
Hinblick auf eine Beendigung der israelischen Besetzung
innerhalb von drei Jahren reagiert. Dieser Schritt
irritiert Washington zweifelsohne, da er, falls ihr
diplomatischer Druck keine neun Stimmen zugunsten der
Resolution verhindern kann, die USA zwingen könnte, ihr
Veto(recht) einzusetzen.
Bedeutender als diese Bewerbung um
die Mitgliedschaft bei der UN war Abbas Bereitschaft,
den palästinensischen nationalen Kampf mit einer
verstärkten Anklagerede in Verbindung zu bringen. Zum
ersten Mal brachte er den Geist des Genozids auf: Israel
wurde angeklagt „wegen eines neuen Genozidkriegs, der an
dem palästinensischen Volk begangen wurde.“ Und indem er
das tat, hat er das palästinensische Recht auf
Widerstand gegen die israelische Besatzung bekräftigt.
Was hierbei das Signifikanteste sein
könnte, ist, dass die formelle Autoritätsstruktur, die
das palästinensische Volk global repräsentiert, in
temporärer Übereinstimmung mit pro-palästinensischen
Zivilgesellschaftsaktivisten in der ganzen Welt zu sein
schien. Zum Beispiel hielt das Russell Tribunal (RT) am
24. September eine Außerordentliche Sitzung in Brüssel
ab, die auf einer Genozid-Anklage fokussierte, die
gegen Israel gerichtet ist, im Zusammenhang mit dessen
„Operation Protective Edge“. RT befand Israel des
eindeutigen Verbrechens der „Anstiftung zum Genozid“
schuldig ,gemäß der Genozid-Konvention von 1948, sowie
schwerer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das
Gutachten in Brüssel erstellte detaillierte
Indizienbeweise für eine genozide Absicht von Seiten
Israels. Nichtsdestotrotz reichten diese Indizienbeweise
nicht aus, um die Jury zu überzeugen, dass Israels
Führer die charakteristische Absicht (den Vorsatz), der
für ein Genozid-Verbrechen vorhanden sein muss, besaßen.
Was nun?
Genozid in den Diskurs der
palästinensischen Bewegung zu bringen, ist eine gewagte
Entwicklung, die auf die Verwüstung der
palästinensischen Zivilgesellschaft bei diesem dritten
instrumentierten Massaker durch Israel reagiert, das
gegen das Volk von Gaza in den letzten sechs Jahren
verübt wurde. Ein Grund ist nicht nur, dass über 70
Prozent der palästinensischen Opfer Zivilisten waren.
Man muss verstehen, dass die gesamte Gazabevölkerung in
dem Kampfgebiet während der 50 Tage des Angriffs
eingeschlossen war, was zu einer kollektiven
Traumatisierung führte. Der Zivilbevölkerung wurde die
Möglichkeit, aus dem Kriegsgebiet zu entkommen und
Flüchtlinge zu werden, indem sie die Grenze überquerten,
verwehrt, was die Option einer verzweifelten letzten
Zuflucht bei Konflikten dieser Art ist.
Wie es derzeit in Syrien und Irak
geschieht, suchen Zehntausende Schutz, indem sie das
Land verlassen. Diese kleinste Form des menschlichen
Beistands wurde allen Gazanern verwehrt, seitdem Hamas
in der Mitte des Jahres 2007, verwehrt wurde.
Diese aus mehreren Gründen zu
beachtenden UN-Reden vermieden es, die dramatischste
Entwicklung zu erwähnen: die neue Phase des Konflikts.
Israel bewegt sich jetzt gerade sichtbar in Richtung
einer Ein-Staatenlösung, die die Eingliederung der
Westbank und die verstärkte Kontrolle in Ostjerusalem
beinhaltet. Palästina setzt sein Staatsgründungsprojekt
in der Westbank fort, gekoppelt mit der Realisierung,
dass die politische Energie seiner Nationalbewegung in
eine Kombination des Aktivismus einer Zivilgesellschaft
und der Einigung mit Hamas sowie des Widerstands
umgewandelt wurde. Ob diese neue Phase die beiden Völker
einem haltbaren Frieden mit Gerechtigkeit näher bringen
wird, erscheint mir äußerst unwahrscheinlich.
Richard Falk ist Albert G Milbank
emeritierter Professor des internationalen Rechts an der
Princeton-Universität und Forschungsbeauftragter des
Orfalea Center of Global Studies. Er ist auch ehemaliger
UN-Sondergesandter für palästinensische Menschenrechte.
Übersetzt von Inga Gelsdorf - Al
Jazeera, 5. Oktober 2014
http://www.aljazeera.com/indepth/opinion/2014/10/israel-palestine-conflict-turn-w-20141056428427744.html
|