"DIE
LIPPEN LACHEN
UND DAS
HERZ WEINT"
(Palästinensische
Mutter im Gaza-Streifen)
Dr. Gabriele
Weber
1.
Brief - Seit Samstag
befinde
ich mich
im Gaza-Streifen
und habe
entschieden,
dass ich
versuchen
möchte,
anstatt
meiner üblichen
Palästina-Rundmails,
eine Art
Reisebericht
zu verschicken,
um meine
Eindrücke
von hier
an Sie weiter
zu leiten.
Dies werden
vielleicht
nur einzelne
Begebenheiten
sein, oder
Beobachtungen,
die ich
mache. Auf
jeden Fall
ist es eine
persönliche
und damit
subjektive
Einschätzung
der Situation
hier vor
Ort. (...)
Nachdem
schon Herr
Minister
Niebel den
israelisch-palästinensischen
Grenzübergang
in Erez
nicht passieren
durfte,
ging ich
davon aus,
dass die
einzige
Alternative
- nach Kairo
zu fliegen
und von
dort mit
einem Taxi
über den
Sinai zur
ägyptisch-palästinensischen
Grenze in
Rafah zu
fahren -
die Klügere
sein würde.
Am Ende
haben meine
drei Kinder
und ich
es auch
tatsächlich
geschafft,
doch kann
man den
Weg in den
Gaza-Streifen
über Rafah
durchaus
als eine
moderne
Form der
"Via Dolorosa"
betrachten
- Hitzschlag,
Mutlosigkeit
und völliges
Unverständnis
über die
Auswüchse
"menschlichen"
Zusammenlebens
und menschlicher
Unmenschlichkeit
- inbegriffen
(dies wohlgemerkt
nur von
ägyptischer
Seite her).
Die ersten
Eindrücke
bei der
Fahrt vom
palästinensischen
Rafah nach
Gaza sind
sehr bedrückend:
zerstörte
Häuser,
halbfertige
Gebäude,
Einschusslöcher,
Abwasser,
das in manchen
Straßen
fließt,
viel viel
Schmutz.
Vor zehn
Jahren waren
wir zum
letzten
Mal hier
- im Vergleich
zu damals
fehlen heute
die hochbewaffneten
israelischen
Soldaten
und Checkpoints,
die ein
permanentes,
latentes
Angstgefühl
hinterlassen
haben. Außer
einem palästinensischen
Polizeifahrzeug
direkt am
Grenzübergang,
haben wir
bis heute
noch keinerlei
Polizei
oder Militär
gesehen.
Es ist ruhig
und wir
fühlen uns
unter den
Menschen
sicher.
Nach allem,
was in Deutschland
berichtet
wird, erwartet
man Brigaden
von Hamas-Kämpfern
in den Straßen,
die das
Volk in
Angst und
Schrecken
versetzen.
Dem ist
in keinerlei
Weise so.
Ich habe
gestern
begonnen,
mit ganz
unterschiedlichen
Menschen
zu sprechen
und ihre
Einschätzung
der jetzigen
Situation
wieder zu
geben. Wie
überall
auf der
Welt sieht
jeder die
Dinge anders.
Das macht
die Vielfalt
der Menschen
ja aus.
Was mir
bei allen
meinen Gesprächspartnern
bis jetzt
als Gemeinsamkeit
aufgefallen
ist, ist
eine abgrundtiefe
Traurigkeit,
die hinter
allem steckt.
Ja, die
Menschen
in Gaza
können trotzdem
lachen,
doch dieses
Lachen hat
einen sehr
bitteren
Beigeschmack.
Die wirtschaftliche
Lage der
Meisten
ist sehr
schlecht.
Es stimmt,
dass es
im Moment
wieder viele
Waren hier
gibt, die
vor allem
über die
Tunnel hereingebracht
werden.
Doch sind
diese Dinge
für den
Großteil
der Bevölkerung
sehr teuer
(ich persönlich
finde, dass
gerade wir
Deutschen
uns über
auf die
Waren auferlegte
Steuern
nicht aufregen
sollten!
Sie sind
doch ein
bewährtes
Mittel von
Regierungen,
das Geld,
das für
(un)nötige
Investitionen
ausgegeben
wird, beim
Volk einzutreiben).
Die Arbeitslosigkeit
ist hoch,
die Armut
wächst,
so dass
immer mehr
Menschen
betteln
müssen.
Katastrophal
sind Abwasser-,
Wasser -
und Stromversorgung:
Abwasser
steht auf
freien Flächen
und strömt
bei dieser
Hitze einen
bestialischen
Gestank
aus. Wasser
ist knapp
- wenn man
mit warmem
Wasser duschen
möchte,
muss man
sich dieses
auf dem
Herd erst
erhitzen
und dann
in einem
Eimer mit
kaltem Wasser
mischen.
Dann nimmt
man ein
Gefäß und
"duscht",
immer mit
der Vorgabe,
so wenig
Wasser wie
möglich
zu verbrauchen,
um nicht
verschwenderisch
mit diesem
kostbaren
Gut umzugehen.
In Gaza
ist tägliches
Duschen
ein Luxus,
den sich
kaum einer
leisten
kann.
Im Moment
gibt es
Strom, doch
spätestens
heute Nachmittag
wird er
ausgestellt
hier in
unserem
Wohngebiet.
Jede Region
hat zu einer
anderen
Zeit keinen
Strom. Wenn
es keinen
Strom gibt,
gibt es
auch kein
fließendes
Wasser aus
dem Hahn,
da beides
aneinander
gekoppelt
ist. Kein
Wasser,
keine Toilettenspülung
(sofern
solch eine
Toilette
überhaupt
vorhanden
ist), keine
Möglichkeit
mit einem
Ventilator
die Hitze
erträglicher
zu gestalten
- und dies
über Stunden
hinweg.
Meistens
kommt der
Strom kurz
vor Sonnenuntergang
wieder.
Man sitzt
beim Essen
( es ist
Ramadan
) und plötzlich
gehen die
Lichter
wieder aus.
Hier in
Gaza ist
deshalb
jedes Handy
und jedes
Feuerzeug
mit einer
kleinen
Lampe ausgestattet,
mit der
man dann
eine Art
Notbeleuchtung
hat.
Die in diesem
Jahr auch
im Nahen
Osten bestehende
Jahrhundert-Hitze
hat natürlich,
was die
kleinen
"unangenehmen
Haustierchen"
angeht,
zur Hochkonjunktur
geführt:
tausende
winziger
Ameisen
überall,
lästige
Fliegen
und 5cm
große Kakerlaken
begleiten
unseren
Alltag.
All dies
und vieles
andere macht
das Leben
der Menschen
hier wirklich
schwer.
Doch die
eigentliche
Schwierigkeit
auch für
mich persönlich
besteht
in der latenten
externen
Bedrohung,
die man
ständig
spürt. Ich
bin immer
mit einem
kleinen
Kloß im
Magen nach
Gaza gekommen,
aufgrund
dieser Bedrohung
der Menschen
durch das
israelische
Militär.
Nun, nachdem
die jüdischen
Siedler
den Streifen
vor einigen
Jahren verlassen
haben, fühlt
man sich
ausgeliefert,
da man weiß,
dass, ohne
Rücksicht
auf "wertvolles
israelisches"
Leben nehmen
zu müssen,
"unwichtiges
palästinensisches"
Leben einfach
ausgelöscht
werden kann.
Wie die
letzte Militäroffensive
gezeigt
hat, wird
von allen
Richtungen
mit den
entsprechenden
abscheulichen
Waffen gezielt
und getötet.
Eine Fluchtmöglichkeit
gibt es
nicht.
Mein Kloß
im Magen
ist seit
gestern
größer geworden:
vier jüdische
Siedler
wurden in
der Westbank
getötet,
anscheinend
hat sich
Hamas dazu
bekannt.
(Ich möchte
ausdrücklich
erwähnen,
dass ich
jede Form
von Gewalt
ablehne!).
Nun besteht
also durchaus
die Chance,
dass die
nächste
Vergeltungs-Aktion
bevorsteht.
Ein gefangener
israelischer
Soldat rechtfertigte
im vergangenen
Jahr hunderte
von Toten,
welche Dimension
könnte dann
die Racheaktion
für vier
getötete
israelische
Siedler
annehmen?
Ich mag
es mir gar
nicht vorstellen
- ganz ehrlich
- ich habe
heute Angst
- obwohl
meine einheimischen
Gesprächspartner
dies im
Moment eher
gelassen
einschätzen.
Sie meinen,
dass das
Augenmerk
zur Zeit
auf die
anderen
"Feinde"
Libanon,
Iran und
Syrien gerichtet
ist. Ich
wünsche
den Menschen
in diesen
Ländern
um Himmels
willen keinen
Krieg, doch
bin ich
im Augenblick
froh um
diese "Ablenkung".
Da sieht
man wieder,
wie sehr
uns das
eigene Wohlbefinden
doch am
Herzen liegt!
Das war´s
für´s Erste!
Drücken
Sie uns
die Daumen,
dass es
zu keiner
Katastrophe
kommt! Wie
immer grüße
ich Sie
alle herzlich
- heute
aus dem
Gazastreifen!
G. Weber
2.
Brief
Dr. Gabriele
Weber aus Gaza -
8.9.2010 - Obwohl ich
vorhatte, regelmäßig einen kleinen Bericht aus
Gaza zu schicken, ist mir dies nicht gelungen,
angesichts der chaotischen Zustände - was Strom
und Internetzugang anbetrifft. Auch jetzt gerade
habe ich keine Internetverbindung (es ist
Mittwoch morgen, 00h15), da der Strom wieder
ausgefallen ist.
Morgen müssen wir die Zelte hier abbrechen, da
die ägyptische Grenze ab Donnerstag für drei
Tage geschlossen wird - Anlass ist das Fest zum
Ende des Fastenmonats Ramadan. Die Trauer ist
auf allen Seiten groß - Abschied nehmen in Gaza
grenzt an ein Drama, da man nie weiß, ob und
wann man sich wieder sehen wird. Es bleibt immer
ein Stück des Herzens bei diesen armen Menschen.
Wie schon in meinem Anfangsbericht geschildert,
empfinden meine Kinder und ich die latente
Bedrohung vor allem aus der Luft, als psychisch
nur sehr schwer erträglich. Wenn man abends im
Dunklen an Gaza´s herrlichem Strand sitzt, den
Sternenhimmel über sich hat und das
Meeresrauschen hört, glaubt man fast daran, dass
dies ein schöner, harmloser Urlaubsstrand ist,
wie man ihn überall auf der Welt finden kann.
Doch dann kommen die israelischen
Überwachungsflugzeuge, erzeugen ein
entsprechendes Motorengeräusch und automatisch
erlebt man ein Gefühl der Bedrohung. Als wir
diese Flugzeuge zum ersten Mal hörten, hatten
wir solche Angst, dass uns die Einheimischen
ausgelacht haben. Sie versuchten natürlich, uns
zu beruhigen, doch gelang dies nur schwer. Sie
erklärten uns, dass nur die Helikopter
gefährlich seien.
Heute nun, ein Tag vor dem Ramadanfest, kamen
dann auch die Helikopter. Sie kreisten
minutenlang unweit von uns. Allen war klar, dass
dies kein gutes Zeichen sei, da sie berüchtigt
für die sogenannten "gezielten Tötungen" mit
entsprechenden "Kollateralschäden" (wie ich
dieses Wort hasse) sind. Bis jetzt wissen wir
nicht, ob sie wirklich "zugeschlagen" haben, da
wir keine Nachrichten hören können. Unsere Angst
hielt sich diesmal in Grenzen, da wir
zwischenzeitlich einen kleinen Fatalismus
entwickelt haben - man sagt sich, dass man, wenn
es soweit kommen sollte, es doch nicht ändern
kann - und hofft darauf, verschont zu bleiben.
Vorgestern habe ich eine Hilfsorganisation für
Frauen und Kinder in Gaza Stadt besucht. Mir
wurde dort bestätigt, was ich selbst bei meinen
vielen Gesprächen empfunden habe - diese
Menschen sind ALLE traumatisiert. Sie befinden
sich in einem Dauertrauma (ongoing trauma), und
keiner kann ihnen heraus helfen. Sie haben im
Laufe der letzten 43 (oder besser gesagt 62)
Jahre ein Trauma nach dem anderen durchleben
müssen, ohne Zeit zu einer Auf- und Verarbeitung
für jedes Einzelne zu haben. Ein schreckliches
Ereignis reiht sich an das Nächste.
Es gibt hier zwar viele Universitätsabgänger im
Fach Psychologie, sie alle haben aber keinerlei
klinische Erfahrung - auch fehlt ein Studiengang
in klinischer Psychologie. Es kommen viele
verschiedene HelferInnen vom Ausland, doch
bleiben diese meist nur wenige Wochen, können
Impulse geben und auch entsprechende
Informationen mit nach Hause nehmen. Das große
Grundproblem der Palästinenser aber- das
FEHLENDE SICHERHEITSGEFÜHL - hat bis jetzt noch
keiner gelöst. Ob wohl unsere "westliche-Werte-Demokratien",
die sich so gerne mit hehren Ansprüchen und
Eigenschaften schmücken, endlich dafür
eintreten, die völkerrechtswidrige BESATZUNG
ohne Bedingungen zu beenden und einen gerechten
Frieden in Palästina zu schaffen? Es ist schon
lange an der Zeit und die armen Menschen hier,
haben es mehr als verdient, endlich ihren Wunsch
nach einem "normalen" Leben erfüllt zu bekommen.
Viele meiner Gesprächspartner haben kein
Interesse an Politik, sie wünschen sich einfach
nur zu leben, ihren Alltag zu bewältigen und
ihre Kinder zu glücklichen Menschen heranwachsen
zu sehen. Die unglaublich hohe Geburtenrate in
Gaza hat auch damit zu tun - die meisten Eltern
verlieren mehrere Kinder im Laufe der Jahre.
Kinder sind die Altersvorsorge, die Eltern
werden von den Söhnen versorgt , sie bleiben im
Familienverbund bis sie sterben.
Ein weiterer Besuch galt vorgestern der
Samouni-Familie, die bei der israelischen
Militäroffensive "Gegossenes Blei" im
vergangenen Jahr 29 Familienmitglieder verloren
hatte. Ich konnte mit den betreuenden
ErzieherInnen am Nachmittag zwei Stunden ca. 40
Kinder beim Spielen, Singen und Toben zusehen.
Ein ebenso anwesender amerikanischer
NGO-Mitarbeiter kritisierte zu Recht, dass aus
dem Schicksal dieser Kinder ein Medienspektakel
geworden ist. Wöchentlich kommen Fernsehteams
und bringen Unruhe in die Arbeit der
Therapeuten. Manche der Kinder kommen
automatisch vor die Kamera, leiern ihre
traumatische Geschichte herunter und werden so
ständig an diese schrecklichen Ereignisse
erinnert. Auch schilderte mir der Amerikaner,
dass Gaza überschwemmt wird mit unnötigen
"Hilfsgütern", die eigentlich gar nicht
angepasst sind an die Situation hier vor Ort.
Anstatt wirklich auf die Bedürfnisse der
Gesellschaft einzugehen, die unbedingt dazu
gebracht werden muss, aus dem Status des
"Bettelns" in den Status des aktiven Handelns
gebracht zu werden, beruhigt die
Staatengemeinschaft ihr schlechtes Gewissen
durch solche Hifslieferungen. Welche
Verschwendung von Material, Logistik und Geld!
Es gibt noch viel zu berichten, doch möchte ich
mich nun, da es zwischenzeitlich 1h30 geworden
ist, von Ihnen verabschieden.
Die nächste Rundmail wird Sie voraussichtlich
wieder aus Freiburg erreichen, wenn alles so
klappt, wie es sein sollte. Doch man weiß ja nie
- hier in Gaza noch weniger als irgendwo sonst
auf dieser Welt.
Noch einmal sende ich Grüße aus dem schönen,
armen, vor Leben und Schmutz überbordendem,
traurigen und dennoch hoffnungsvollem
Gazastreifen
G. Weber
Der
erste Brief aus Gaza war für einen Prof. Wolfgang Stegemann der
Anlass für schockierende Reaktionen:
Eine entlarvende e-mail von Prof.
Dr. Wolfgang Stegemann an Frau Dr. Gabriele
Weber erregte öffentliches Aufsehen.
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