Wir sind kein Supervolk
Lana Hourani,
Gaza, 22.6.07
Während ich in die Augen
meines Sohnes Luai schaue, füllen sich die
meinen mit Tränen. Ich kann mich kaum
beherrschen, nicht vor ihm in Tränen
auszubrechen. Seit zwei Tagen versuche ich,
ihn nach draußen zu nehmen. Doch er weigert
sich und sagt: „Ich mag nirgendwo hingehen,
Mama, ich mag lieber zu Hause bleiben. Er
hat anscheinend Angst, nach draußen zu
gehen. Er hörte von seinen Freunden so viel
über das Morden und Schießen in der
vergangenen Woche.
Gestern ging ich zum Al
Deereh Hotel, einem schönen Platz am Strand
von Gaza. Ich wollte dort einen Journalisten
treffen. Ich sah viele Leute am Strand, die
dort ihre Freunde und Spaß am
Schwimmen im ruhigen Meer hatten. Ich atmete
richtig auf, als ich sah, dass die Menschen
in Gaza wieder ein normales Leben zu leben
versuchen.
Viel Leute hatten bei mir
angefragt, warum ich nicht schreibe. Anfang
Dezember hatte ich mit dem Schreiben
aufgehört. Ich hatte meine Mutter in Syrien
besucht. Es war das erste Mal seit 1983,
dass sich meine Mutter, meine beiden
Schwestern, unsere Kinder und ich uns
in Damaskus trafen. Die Freude darüber
wurde durch die Ereignisse im Gazastreifen
unterbrochen: die Ermordung von drei Kindern
als Folge von bewaffneten
Auseinandersetzungen zwischen der Fatah und
der Hamas. Im Januar kehrte ich in den
Gazastreifen zurück, um zu erfahren, dass
ich meine Arbeitsstelle verloren hatte. Und
die Serie vieler Kampfrunden zwischen Fatah
und Hamas dauerte bis jetzt an.
Ich war wie die meisten
Palästinenser voller Verzweiflung, aber
dieses Mal nicht wegen der kollektiven
Bestrafung, die uns die internationale
Gemeinschaft auferlegte, auch nicht wegen
der andauernden israelischen Belagerung des
Gazastreifen, dem großen Gefängnis. Sondern
weil sich die Palästinenser nun unter
einander bekämpften. Ich überlegte, was soll
ich nur denen außerhalb des Gazastreifens
schreiben? Dass wir uns nun gegenseitig
umbringen, dass wir dabei sind, unsern Traum
mit unseren eigenen Händen zu zerstören. Ich
war nicht in der Lage zu schreiben.
Die letzte Kampfrunde war
letzte Woche der Angriff gegen die
Sicherheitskräfte der palästinensischen
Behörde im ganzen Gazastreifen durch die
Hamas und ihre militante
Al-Qassam-Gruppe. Die Folge davon: nun ist
der ganze Gazastreifen unter ihrer
Kontrolle. Dieses Mal mussten wir von Montag
bis Freitagnacht zu Hause bleiben. Ich hatte
solche Angst – das Bombardieren und Schießen
vernahm ich in meiner Wohnung, die zwischen
drei Kampfgebieten lag. Es war
schrecklich. Es war für alle Bewohner von
Gaza ein schockierendes Erlebnis. Zunächst
dachten wir, es sei eine weitere Runde wie
die früheren, aber es stellte sich bald
heraus, das es eine ist, die unser aller
Leben verändert. Die Hamas kontrolliert nun
den Gazastreigen. Politisch wird dies einen
großen Einfluss für die Palästinenser haben.
Aber darüber will ich jetzt nicht schreiben.
Warum ich mich entschied,
zu schreiben, ist die Tatsache, dass ich
mich heute sehr niedergeschlagen fühle, dass
ich den ganzen Tag weinte. Ich fürchte nicht
um mein Leben oder das meines Mannes oder
meines Sohnes. Ich fühle mich schlecht, weil
ich entdeckte, dass wir nicht das
„Supervolk“ sind, wie ich dachte. Ich
entdeckte, dass wir ganz normale Menschen
sind. Mir war bekannt, dass viele Menschen
auf der Welt, besonders die Freiheitskämpfer
uns wie Idole an sahen, als ein Volk, das
nicht besiegt werden kann, als
Freiheitskämpfer, die versuchen, ihre
Freiheit zu erlangen und mit Würde zu leben.
Nun habe ich entdeckt,
dass wir genau wie andere Völker sind, wild,
brutal und Plünderer.
Die Plünderungsszenen
innerhalb der Regierungsgebäude, in den
Privathäusern und Wohnungen, erinnern mich
an Bagdad nach der amerikanischen Besetzung
und dem Zusammenbruch von Saddams Regime .
Wir dachten damals, so etwas kann hier nie
geschehen. Ich weiß, es geschah bei uns,
nachdem die Siedler aus ihren kolonialen
Siedlungen im Gazastreifen abgezogen
waren - aber diese Leute waren unsere
Feinde, die unser Land gestohlen hatten – es
waren keine Palästinenser.
Die Nachrichten über
verschiedene Akte von
Menschenrechtsverletzungen gegeneinander
sind nur noch schockierend. Es erinnert mich
an die Praktiken der israelischen
Besatzungsmächte im Gazastreifen und der
Westbank.
Was tun wir uns selbst
an? Warum versuchen wir unsern Traum eines
demokratischen, unabhängigen Staates für
alle Palästinenser zu zerstören?
Ich denke darüber nach
und frage mich: „Sind wir wirklich so?
Sind wir wirklich wie Wilde? Sollten wir
unsere Differenzen nicht mit friedlichen
Mitteln überwinden?. Wer ist schuld, dass
dies bei uns geschieht? Ist es nicht die
Internationale Gemeinschaft, die uns unsere
legitimen Rechte, einen eigenen Staat zu
haben, verweigert? Ist es nicht die
Internationale Gemeinschaft, die uns bei
einer demokratisch durchgeführten Wahl
das legitime Ergebnis abstreitet
und sich entschieden hat, uns zu strafen.
Wofür denn? Ist es nicht die internationale
Gemeinschaft, die uns aushungern will und
uns nach 59 Jahren von humanitärer
Hilfe wieder abhängig machen will?
Nun weiß ich, dass wir
keine Supermenschen oder Superhelden sind.
Wir sind ganz normale Menschen, die zu
Wilden werden, wenn man sie in einen Käfig
mit einem Minimum zum Überleben einsperrt.
Ich weiß, dass viele
darauf warten, dass ich persönliche
Geschichten über die Ereignisse hier
schreibe. Aber es tut mit leid – ich kann es
nicht. Es ist zu schwierig, darüber zu
schreiben, was wir uns gegenseitig angetan
haben. Ich bitte die Leute nur, objektiv zu
sein, wenn sie die Nachrichten hören und
sehen und sich fragen, warum ist dies den
Palästinensern passiert?
Was mich betrifft, plane
ich jetzt mit meinem Sohn zum Al Deeresch
Hotel am Strand zu gehen, dass er die Welt
wieder sehen kann – ob er es mag oder nicht.
Ich hoffe, dass ich
morgen, in besserer Stimmung bin. Vielleicht
kann ich dann mehr über Einzelheiten
schreiben.
Lama Hourani
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