Machsom Watch
Matria[1]
– September 2007
Machsom Watch – eine Organisation
israelischer Frauen gegen die Besatzung und für Menschenrechte,
die sich mit einem der härtesten Aspekte der Besatzung befasst –
der Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Palästinenser in den
besetzten Gebieten.
Freitag, ein besonders feierlicher Tag. Der
muslimische Fastenmonat Ramadan und das jüdische Sukkot- (Laubhütten-)Fest
fallen zusammen und drücken das gemeinsame Bedürfnis beider
Völker nach Gebet aus: Bitten um Freiheit, ausreichenden
Lebensunterhalt, Ruhe und Gesundheit.
Der Checkpoint von Qalandiya sieht verändert
aus. Stark verstärkte Einheiten von Soldaten, Polizisten, der
Sondereinheit für Demonstrationen und der Grenzpolizei stehen
hinter Absperrungen, die um das ganze Gelände herum aufgestellt
worden sind. Auf der anderen Seite der Absperrung drängt sich
die Masse der Palästinenser, die Männer rechts, die Frauen
links. Die alltäglichen Probleme von Passierscheinen, Zugang zur
Schule und Verdienen des Lebensunterhaltes sind einem einzigen
kollektiven Willen gewichen: in der Al-Aqsa-Moschee zu beten.
Die Aufgabe der Soldaten und Polizisten ist
es, die Menschen, die den Checkpoint überqueren wollen, nach
drei Kriterien einzuteilen: Farbe des Personalausweises (israelisch
oder palästinensisch), Alter und besondere "Gebetserlaubnis".
Manchmal lassen sie einen Palästinenser, der "alt genug"
aussieht, durch, aber eine halbe Stunde später kommt er zurück.
Am Kontrollposten stellte sich heraus, dass ihm noch drei Monate
bis zum Erreichen des Alters fehlen, das man braucht, um
passieren zu dürfen...
Der eingespielte Ritus der "Gebetsverweigerung"
läuft mit in den vergangenen Jahren erworbener Routine ab.
Dieses Jahr fällt das Laubhüttenfest auf den dritten Freitag des
Ramadan, und wenn tausende von Juden zur Klagemauer wallfahrten,
um dort zu beten oder Zettel mit ihren Bitten in die Ritzen
zwischen den Steinen zu stecken, ist eine besonders strenge
Auswahl der Palästinenser und das Fernhalten einer möglichst
großen Zahl von der heiligen Zone nötig. Es ist natürlich klar,
dass, wenn es um Gebet geht, man die Juden, deren Flehen direkt
zum wahren Gott aufsteigt, nicht mit den Muslimen, deren
Religion wir nicht anerkennen, auf eine Stufe stellen kann.
(Qalandiya-Checkpoint
im Norden Jerusalems, 28.9.2007)
Die offiziellen
Anordnungen, die noch vor Beginn des Ramadan veröffentlicht
wurden:
freier Zugang für
Männer über 50
freier Zugang für
Frauen über 45
Zugang mit
besonderer Gebetserlaubnis für Männer zwischen 45 und 50
Zugang mit
besonderer Gebetserlaubnis für Frauen zwischen 35 und 45
Zugangsverbot für
Männer unter 45
und Frauen unter 35
Am ersten Freitag
des Ramadan, der auf den zweiten Tag des jüdischen
Neujahrsfestes fiel, wurden de facto nur Personen über 60
durchgelassen und erst um 11.00 (eine halbe Stunde vor Beginn
des Gebetes) wurden auch die 50-60jährigen durchgelassen.
Am zweiten
Freitag des Ramadan, der auf den Vortag des Versöhnungstages (Jom
Kippur) fiel, wurde ein generelles Zugangsverbot erlassen.
Am dritten und
vierten Freitag des Ramadan ging man nach den zu Beginn des
Monats veröffentlichten Regelungen vor.
Erster Freitag des Ramadan - Neujahr 5768.
Der Checkpoint funktioniert entsprechend der besonderen
Anordnungen der Zivilverwaltung, der Armee und der Polizei. Aber
nicht alles ist abgesprochen. Trotz der Bekanntmachung der
Zivilverwaltung, dass Männer über 50 und Frauen über 45
passieren dürfen, wurden bis 11.00 nur Personen über 60 (sofern
sie nicht auf der Schwarzen Liste des Geheimdienstes stehen)
durchgelassen. Nach 11.00 wurden die Anordnungen geändert, und
Frauen und Männer über 50 wurden ohne besonderen Erlaubnisschein
durchgelassen.
(Betlehem-Checkpoint,
14.9.2007)
Der Checkpoint selbst ist fast leer. Nur
wenige Menschen sind hindurch gegangen, denn nur wenige wurden
in den Checkpoint hineingelassen – nur diejenigen, die blaue (israelische)
Personalausweise haben. Draußen, jenseits der Straße, die um den
Checkpoint führt, standen an zwei Punkten hinter den
Polizeiabsperrungen hunderte (und auf dem Höhepunkt tausend und
mehr) Menschen, Männer, Alte, Frauen und Kinder. Kinder in den
Armen ihrer Eltern, Gebrechliche, die in Gruppen in der Sonne,
im Schatten warteten, flehen, dass man sie durchlassen möge. Sie
sind gekommen, um in der Al-Aqsa-Moschee zu beten und wurden
nicht durchgelassen. Einige wenige, nur Besitzer blauer
Personalausweise, denen es gelang, sich einen Weg durch die
Massen zu bahnen, durften die Polizeiabsperrungen passieren und
in den Checkpoint hineingehen. Trotz des Schmerzes, des Zornes
und der Frustration, die in der Luft lagen, standen die Menschen
in gespannter Ruhe. Auf seiten der Polizisten vielfältige und
bedrohliche Vorsichtsmaßnahmen: Dutzende von Polizisten in
verschiedenen Uniformen; Stöcke, Gesichtsschutz, besondere
Overalls, kugelsichere Westen; Polizisten auf Pferden;
Wasserwerfer; und ein Fahrzeug, das wahrscheinlich zum Schießen
von Gummigeschossen bestimmt ist. Alle paar Minuten rannten
Polizisten oder Soldaten in die eine oder andere Richtung.
(Qalandiya-Checkpoint,
21.9.2007)
An den "humanitären"
Notfalldienst der Armee - Zur Kenntisnahme
Um 16.30 war alles ruhig, aber so sehr kann
die Ruhe täuschen: Ein Vater und sein siebenjähriger Sohn aus
Qussin und ein Elfjähriger, der auf dem Weg von Tulkarem nach
Hause ist, werden in die Zelle gesteckt. Der Siebenjährige
bedeckt seine Augen mit den Händen, und der Vater erzählt, dass
sie von einer Augenbehandlung im Krankenhaus zurückkommen. Er
wollte aufgrund der Krankheit des Kindes den Weg an der Seite
für Frauen, Kinder und Kranke nehmen und zeigte auch die
medizinischen Unterlagen vor. Der Kommandant des Checkpoints
beschuldigt ihn, dass er der Kontrolle entgehen wollte und
weigert sich, sich die Umstände anzuhören. Erst um 17.15 wurde
die Personalausweisnummer des Vaters an die Brigade
weitergegeben. Anrufe beim "humanitären" Notfalldienst der Armee
helfen nicht.
18.45 Das letzte Taxi fährt vorbei.
19.10 Vater und Sohn werden immer noch
aufgehalten. Wir riefen zum zweiten Mal den Leiter des DCO
(District Coordinating Office – Regionales
Koordinierungsbüro) an, und der behauptete, man habe ihm
berichtet, die beiden seien längst freigelassen worden. Wir
gaben ihm die Telefonnummer des Vaters, damit er sich aus erster
Hand informieren könne.
19.20 Die beiden sind zu Fuß auf dem Heimweg,
denn es gibt kein Taxi mehr – anderthalb Stunden nach Beginn der
Mahlzeit zum Abschluss des Fasttages.
Parallel dazu bittet um 17.00 der Elfjährige,
dass man ihn nach Nablus nach Hause gehen lasse. Der Kommandant
weist ihn an, seine Eltern anzurufen, damit einer von ihnen zum
Checkpoint komme. Der Junge sagt, dass sie kein Telefon haben.
Der Kommandant sagt: "Dann soll er da hingehen, wo er
hergekommen ist". Der Junge geht zum Fahrzeug-Checkpoint und
bettelt dort, dass man ihn durchlasse, aber der Kommandant
verhindert es. Beim "humanitären" Notfalldienst sagen sie, dass
sie ohne Personalausweisnummer (eines Elfjährigen! –
Personalausweise werden erst mit 16 Jahren ausgegeben) nicht
helfen können. Die Sonne geht unter, und der Junge läuft
zwischen den beiden Kontrollposten herum und sieht elend und
verängstigt aus. Sein Kinnbacken zittert vor lauter Anstrengung,
nicht in Tränen auszubrechen. Wir rufen noch einmal den Leiter
des DCO an.
17.30 – Der letzte Fußgänger beeilt sich, den
Checkpoint zu überqueren und ist bereit, den Jungen mitzunehmen.
Der Kommandant lehnt das ab und wiederholt seinen Vorschlag, der
Junge solle dahin zurückgehen, wo er hergekommen ist. Der
Besitzer des Kiosks versucht zu erklären, dass der Junge
nirgendwo hingehen kann und dass er in Nablus wohnt und dort
seine Eltern sind. Er schlägt vor, dass wir ihn zum Hawara-Checkpoint
bringen, wo der Zugang nach Nablus frei ist. Der Kommandant hört
das und droht, am Hawara-Checkpoint anzurufen, um zu verhindern,
dass der Junge dort durchkommt.
18.10 – Es ist dunkel und der Checkpoint ist
menschenleer. Nur wir sind noch da, der Vater und sein krankes
Kind und der Junge. Aufgrund der Vermittlung des DCO-Leiters
scheint die Anordnung ergangen zu sein, den Jungen gehen zu
lassen. Er hat Angst, alleine durch die Dunkelheit zu gehen und
der Kioskbesitzer bietet an, ihn bis zur Taxihaltestelle auf der
anderen Seite zu begleiten. Der Kommandant richtet sein Gewehr
auf ihn und schreit: "Keiner von euch geht nach Nablus hinein".
Wir standen da und riefen dem Jungen zu, er solle in die
Dunkelheit hineinlaufen, und schließlich verschwand er. Wir
sahen Scheinwerfer eines Fahrzeugs und hofften, dass der Fahrer
den Jungen mitnimmt. Als wir das nächste Mal am Checkpoint waren,
trafen wir einen Studenten, der Zeuge des Geschehens war. Er
berichtete, dass der Junge zu Hause angekommen ist.
(Bet Iba-Checkpoint
südwestlich von Nablus, 16.9.2007)
[1]
"Matria"
ist abgeleitet von dem hebräischen Verb "lehatria", das
"(als Alarmzeichen) in die Posaune/ins Horn blasen" und
"Protestgeschrei erheben" bedeutet.