Eine Besatzung die Kinder dazu bringt
sich umzubringen
von Leah Tsemel
(Leah Tsemel ist eine
israelische Anwältin die in Jerusalem arbeitet. Das ist eine Fassung
ihrer Rede über Kinder und Menschenrechte bei der Giorgio Cini
Gesellschaft in Venedig.)
Meine Eltern verließen
Europa knapp vor dem Holocaust und sie verloren durch diesen die meisten
ihrer Familienmitglieder. Um mir ein besseres Leben und die Sicherheit
eines eigenen Staates zu versprechen kamen sie in jenen Teil der Welt
welcher heute Israel genannt wird, und einmal Palästina genannt worden
ist. Nach fast 60 Jahren kann ich nicht behaupten, dass sie dies
erreichten; im Gegenteil. Es scheint, dass meine Eltern und andere
welche den israelischen Staat bauen wollten nicht verstanden haben, dass
es unmöglich ist eine neue Zukunft auf dem Fundament von Unterdrückung
zu bauen.
Ich habe 30 Jahre lang die
PalästinenserInnen in israelischen Gerichtshöfen verteidigt und habe es
trotz meiner Anstrengungen nicht geschafft die Richter, ob nun in
Militärtribunalen oder im Höchstgerichtshof, dazu zu bringen diese
einfache Wahrheit zu verstehen. Sie Situation verschlechtert sich und
letztes Jahr machte ich zwei Schritte rückwärts für jeden vorwärts, wie
in den letzten 25 Jahren.
Der bekannte israelische
Autor David Grossman hat über die Reinwaschung der Sprache durch die
israelische Besatzung geschrieben. „Besatzung“ wurde in Hebräisch zu
„Entlassung“ oder „Rettung“. „Kolonisation wurde zu „friedlicher
Lösung“. „Töten“ wurde zu „anvisieren“. Die PalästinenserInnen
antworteten auf diese Euphemismen durch die Radikalisierung ihrer
Sprache. Früher kamen meine Klienten in mein Büro in Jerusalem und
sprachen über SoldatInnen oder SiedlerInnen. Heute sprechen sie über
al-yahud – die Juden. „Die Juden haben mir meine ID-Karte weggenommen“,
„die Juden haben mich geschlagen“, „die Juden haben dieses oder jenes
zerstört“. Das erschreckt mich. Wenn der israelische Staat mit allen
Juden der Welt identifiziert wird und alle Juden auf der Welt als
SoldatInnen oder SiedlerInnen betrachtet werden, müssen wir sehr
vorsichtig sein.
Ein palästinensisches Kind
welches heute al-yahud sagt, was „die Juden“ bedeutet, und damit die
Leute in Uniform meint, wird fanatisch werden und einen
nationalistischen Fanatismus entwickeln, neben einem jugendlichen
religiösen Fanatismus. Aber ein ähnliches Problem, vielleicht sogar
schlimmer, ist, dass der religiöse Fanatismus auf der jüdischen Seite zu
wachsen beginnt. Die jüngere Generation der israelischen Juden und
Jüdinnen wollen die AraberInnen verbannen. An den Mauern in israelischen
Städten sehen wir hebräische Slogans wie „Araber aus dem Land“ oder „Tod
den Arabern“. Wir erreichen einen Zustand, in welchem die israelische
Regierung offen darüber debattiert, was sie mit Yasser Arafat machen
wird, dem gewählten Präsidenten der PalästinenserInnen: soll man ihn
töten? Ihn abschieben? Die Wahl eines anderen, entgegenkommenderen
Präsidenten für die PalästinenserInnen arrangieren, der schwach genug
ist um uns alles zu geben was wir wollen?
Die hauptsächlichen Opfer
der Besatzung und der Unterdrückung sind Inder. In Israel sind die alten
Gesetze Aus der Zeit des britischen Mandats vor der Unabhängigkeit noch
immer in Kraft, welche es der Besatzungsmacht erlauben kollektive
Strafen durchzuführen. Kürzlich verlor ich einen Fall. Ich hatte
versucht die Zerstörung des Hauses eines jungen Mannes zu verhindern,
eines palästinensischen Selbstmordattentäters der sich selbst und acht
andere in der Nähe eines militärischen Camps außerhalb Tel Avivs
umgebracht hatte. Gemäß dem Gesetz aus der britischen Mandatszeit soll
das Haus von jemandem der einen terroristischen Angriff durchführt
zerstört werden. Als ich die Familie anrief um ihnen zu sagen, dass ich
verloren habe, sagte die Mutter des Selbstmordattentäters „Ich wußte,
daß wir keine Hoffnung haben. Wir haben das Haus bereits evakuiert.“
Nur selten haben wir in
solchen Fällen die Zeit vor Gericht zu gehen. [Haus-]Zerstörungen
bestrafen normalerweise nicht die Verbrecher sondern ihre Familien. Sehr
oft werden sie ohne Vorwarnung durchgeführt. „Sie haben fünf Minuten um
das Haus zu verlassen!“ ist die ganze Zeit die man [ihnen] gibt. Die
Zerstörer zertrümmern alles – die Einrichtung und das Gewand. Ich frage
die Familien oft was sie in diesen fünf Minuten schnell mitnehmen und
sie sagen „die Zeugnisse der Kinder“. Ihr Optimismus ist wunderbar.
Die Kinder von
KämpferInnen, also von „palästinensischen TerroristInnen“, werden für
immer gebrandmarkt sein. Unter der militärischen Besatzung wird ihnen
nicht gestattet das Land zu verlassen, die Stadt zu wechseln oder
woanders zu studieren. Sie können ihre Eltern nicht im Gefängnis
besuchen.
Die letzte Bestrafung für
„terroristische“ Familien ist es sie zu zwingen umzuziehen. Seit dem
Beginn der letzten Intifada gab es in jeder palästinensischen Stadt in
den besetzten Gebieten eine totale Ausgangssperre, während israelische
Panzer hinein und hinausfahren wie es ihnen passt. Es ist ein Hobby
palästinensischer Kinder auf Hügel, Berge und die Zäune und Hindernisse
zu klettern, die Israel aufbaut um die Bewegung zwischen den Dörfern und
Städten zu verhindern.
Jetzt baut Sharon einen
Zaun – oder nein, eine Mauer – zwischen Israel und Palästina. Dieser
Zaun ist keine Grenze; er verläuft nicht entlang der Grenzen von 1967.
Das ist eine Mauer die eine Apartheid zwischen der jüdischen und der
palästinensischen Bevölkerung schaffen soll, und welche die
PalästinenserInnen von den kleinen Stücken bebaubaren Landes in den
besetzten Gebieten trennen soll welche noch nicht von den jüdischen
SiedlerInnen genommen worden sind, und um dieses Land in den
israelischen Staat zu integrieren.
Manchmal sieht man lustige
oder berührende Szenen. Mütter die auf Betonmauern oder Zäune klettern.
Öfter hört man traurige Geschichten, wie jene über die jungen
israelischen Soldaten welche eine palästinensische Frau welche im
Begriff war zu gebären nicht durchließen. Das Kind starb.
Die Unterdrückung und die
Erniedrigung sind schwere Bürden. Um zu einem Doktor in einem
Krankenhaus zu kommen muss ein Kind aus der Nähe von Ramallah
stundenlang mit seinem Vater gehen, nur um auf eine Straßenblockade zu
stoßen. Die Kultur des Vaters hat ihm gelehrt, dass er ein Patriarch
sein sollte, und es kränkt ihn tief vor den Augen seines Sohnes die
SoldatInnen anbetteln und anflehen zu müssen, sie durchzulassen. Was für
ein Bild bekommen diese Kinder von ihren Ältern?
Dann gibt es die
Ermordungen von Kindern. Kürzlich warf ein zehnjähriges Kind einen Stein
auf einen Soldaten in der Nähe einer Straßenblockade außerhalb
Jerusalems und wurde erschossen. Ein Ein-Tonnen Bombe die von einem
israelischen Flugzeug auf Gaza abgeworfen worden ist, die dichtest
besiedelste Stadt in der Welt, tötete 16 Kinder. Mohammed Dura, das Kind
welches zu Beginn der Intifada vor drei Jahren in den Armen seines
Vaters gestorben ist, ist mehr als ein Symbol: er ist eine alltägliche
Realität.
Ein Teil dieser großen
Tragödie stammt von der Ähnlichkeit zwischen den PalästinenserInnen und
den Israelis. Ein europäischer Freund sagte mir vor kurzem: „Ich
verstehe das nicht; alle sind sich so ähnlich. Wie erkennen die
SoldatInnen wer arabisch und wer jüdisch ist?“ und ich sagte ihm was ich
gehört habe: „Die SoldatInnen starren in die Augen einer Person, und
wenn sie jüdische Augen hat, sind sie sicher arabisch.“
An einem anderen Tag sah
ich an der Grenze zwischen Ost- und Westjerusalem 150 ältere
palästinensische Männer in einem Park. Sie waren alle aus dem
Westjordanland und die Polizei ließ sie nicht in die Stadt hinein –
entweder hatten sie keine Passierscheine oder die Polizei weigerte sich
die Scheine anzuerkennen die sie hatten. Ich ging dort mit meinem
üblichen Optimismus hin, und dachte, dass ich eine Frau bin, weiß bin,
jüdisch bin, eine Anwältin bin, ich alle Probleme lösen kann, und ich
versuchte mit den SoldatInnen und mit der Polizei zu reden. Die Männer
standen einfach stumm da. Ihnen war befohlen worden die Akkus aus ihren
Mobiltelephonen zu nehmen und nicht zu sprechen. Ich fühlte mich dumm.
Sie hatten ihre Situation viel besser verstanden als ich. Sie wußten,
dass sie einen hohen Preis zahlen würden, wenn sie mir antworten würden;
sie wußten bereits, dass mein Einschreiten sinnlos war. Die
willkürlichen Befugnisse der SoldatInnen und der Polizei sind viel
größer als jedes legale System das ich repräsentiere. Ich dachte: was
hätte Primo Levi empfunden wenn er diesen Moment gesehen hätte, in dem
andere Menschen von JüdInnen unterdrückt werden?
Die frühere israelische
Premierministern Golda Meir sagte, dass sie Albträume hatte, weil die
PalästinenserInnen sich so schnell vermehren: vor 20 Jahren verursachte
diese Bemerkung einen Skandal. Aber am 29. August 2003 beschloss die
israelische Knesset folgendes Gesetz: „Wenn es zu einer Heirat zwischen
einer israelischen und einer palästinensischen Person aus den besetzten
Gebieten kommt, wird die [palästinensische] Person nicht nach Israel
kommen dürfen, und jedes Kind einer solchen Ehe wird nicht im
israelischen Geburtenregister verzeichnet werden, wenn es nicht
innerhalb eines Jahres nach seiner Geburt registriert wird.“ Wir
versuchen angestrengt diese Politik zu bekämpfen, welche ich nur
rassistisch nennen kann.
Die palästinensischen
Kinder, bilden als Ergebnis dieses Krieges ein Potential an
Selbstmordattentätern. Ich vertrete jene welche nicht sterben konnten
und ich weiß von jenen die starben, also spreche ich aus Erfahrung. Sie
sterben nicht für die 70 Jungfrauen die ihnen versprochen werden wenn
sie Shahids (Märtyrer) werden und sie werden nicht gezwungen oder einer
Gehirnwäsche unterzogen. Diese Jungen Menschen kommen von allen teilen
der Bevölkerung, und sterben aus Verzweiflung freiwillig. Sie fühlen,
dass sie wenig zu verlieren und nur Ruhm zu gewinnen haben. Es ist
furchtbar, wenn eine Gesellschaft Kinder dazu bringt sich umzubringen;
es ist furchtbar, wenn unsere jüdische israelische Gesellschaft Siedler
produziert die ein Auto vollgepackt mit starken Sprengstoffen vor einer
palästinensischen Mädchenschule in Jerusalem stehen lassen, wie jetzt
enthüllt worden ist. Die Polizei fand es nur zufällig. Die Ermordung von
Kindern ist zu einer Besessenheit geworden. Seit der letzten Intifada
bis heute sind 700 palästinensische und 100 jüdische Kinder unter 16
Jahren gestorben. In den letzten drei Jahren sind 382 palästinensische
Kinder von der Armee oder von SiederInnen umgebracht worden, und auch 79
israelische Kinder starben. Es ist ein Albtraum ein israelisches Kind zu
sein – sich davor zu fürchten zum Bus zu gehen, zum Markt, in das
Geschäft. An jedem Tor stehen Wachen die deine Taschen öffnen und dich
durchsuchen.
Die Erinnerung an den
Holocaust – „die Welt haßt die Juden; wir sind immer Opfer gewesen“ –
hat sich in den neuen israelischen Opferkult gewandelt – „wir sind die
Opfer, weil die PalästinenserInnen uns töten“. Dieser Vergleich ist
inakzeptabel. Es ist nicht wahr. Wir waren Opfer, aber heute sind andere
unsere Opfer. Nach 35 Jahren der Besatzung gibt es eine zweite
Generation von Siedlern welche sich auf die Bibel berufen wenn sie sagen
„wie kannst du uns von unserem Heimatland wegreißen?“. Nach 1967
hinterfragte eine junge Generation von israelischen SoldatInnen was sie
taten und fragten ob sie das Recht haben das Land eines anderen Volkes
zu erobern? Jetzt gibt es kaum irgendwelche Fragen.Die 18-jährigen
SoldatInnen sind alle von der Armee gekennzeichnet: Sie sind alle bei
Checkpoints gestanden, haben alle mitten in der Nacht am Tor irgendeines
Hauses gepocht und die Familie aufgeweckt um jemanden zu verhaften. Es
gibt eine kleine, langsam wachsende, Minderheit die sich weigert in den
besetzten Gebieten ihren dienst abzuleisten. Eine kleine aber wachsende
Zahl von Israelis sagen, dass sie da nicht mitmachen wollen.
Die Hoffnung kommt von
heldenhaften palästinensischen Eltern welche noch immer, trotz der
Besatzung, ihren Kindern nicht beibringen zu hassen, und ihren Kindern
nicht erlauben alle Israelis als Dämonen zu betrachten, welche über die
Meinungsunterschiede zwischen Israelis sprechen; diejenigen welche ihren
Kindern lernen Menschen anhand dessen zu bewerten was sie tun und nicht
anhand dessen, was sie sind oder woher sie kommen.
Ich würde solchen
palästinensischen Eltern gerne sagen, dass sie optimistisch sein sollen.
Gegenseitige Anerkennung ist möglich – schließlich haben wir auch die
PLO anerkannt. Und heute, anders als 35 Jahre zuvor, gibt es auf der
ganzen Welt einen Konsens, dass es einen palästinensischen Staat geben
wird. Bereite die nächste Generation darauf vor, denn in der Zukunft
liegt Hoffnung.
Ich würde die israelischen
Eltern die für Frieden kämpfen gerne daran erinnern, dass sie bereits
einen Krieg gewonnen haben. Israelische Mütter kämpfen in einer
Organisation welche Die Vier Mütter genannt wird, nach den biblischen
Figuren, und halfen mit die israelische Armee dazu zu bringen sich vom
Libanon zurückzuziehen. Eine andere Organisation, Frauen in Schwarz hat
seit 20 Jahren jede Woche gegen die Besatzung demonstriert. Ich sage
ihnen: sie werden gewinnen. Eine andere Gruppe von Frauen kontrollierten
Checkpoints bei denen Gräueltaten verübt worden sind. Sie sagen zu den
SoldatInnen und den PalästinenserInnen: „Wir haben mit diesem Rassismus
nichts zu tun; wir sind dagegen“.
Nourit Peled, deren Vater
ein General in der israelischen Armee war ist eine Friedensaktivistin.
Ihre Tochter starb im Teenageralter als ein palästinensischer
Jugendlicher sich in Jerusalem in die Luft sprengte. Peled zog den
Frieden dem Haß vor und gründete mit anderen Eltern gemeinsam eine
Organisation um israelische und palästinensische Opfer von Terror zur
Unterstützung von jedem der für Frieden kämpft zusammenzubringen. Als
sie 2001 im europäischen Parlament den Saharov-Preis erhielt gab sie
eine bewegende Rede über Abraham, den Vater von Isaac und Ismail
(Symbole für die zwei Nationen des Judentums und des Islams). Abraham
wollte Isaac opfern um Gott zu zeigen wie sehr er Gott vertraut, und
Gott verbat es ihm, das zu tun; Anstelle dessen stellte er ein Schaft
zur Opferung zur Verfügung. Sie sagte: „Wir wollen nicht, dass unser
Planet ein Schlachtfeld toter Kinder wird. Wir müssen unsere Stimmen
erheben, die Stimmen von Müttern, und alle anderen Stimmen zum Schweigen
bringen. Wir müssen jeden dazu bringen die Stimme Gottes zu Abraham
sagen zu hören ‚Strecke deine Hand nicht gegen das Kind aus’.“
Quelle: ZNet 03.12.2003
http://www.zmag.de/artikel.php?print=true&id=1009
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