Wir
sind eine Gruppe von Leuten aus verschiedenen Teilen der radikalen
Linken. Die meisten ordnen sich dem autonomen Spektrum zu: einige sind
aus dem Umfeld der Roten Flora, dem Anti-AKW-Widerstand, oder arbeiten
bei anderen Projekten der sozialpolitischen Linken mit, andere sind seit
einiger Zeit nicht mehr in festen Gruppen aktiv, sondern beteiligen sich
aus ihrem privaten Umfeld heraus an wechselnden politischen
Mobilisierungen. Einige von uns waren schon während der ersten Intifada
oder auch schon davor an den Auseinandersetzungen zum
Israel/Palästina-Konflikt beteiligt. Einig sind wir uns in der
Unzufriedenheit über die momentane innerlinke Diskussion zum
Nahostkonflikt, die die Auseinandersetzung oft zu Glaubens- und
Bekenntnisstandpunkten hat verkommen lassen und die sich in identitären
Frontlinien von "pro-israelisch" und "pro-palästinensisch" bewegt. Wir
wollen mit diesem Papier eine Diskussion anregen, die diese
Denkstrukturen durchbricht und wollen einen Begriff von Solidarität
entwickeln, der Bestandteil unserer Auseinandersetzung um eine
gesellschaftliche Utopie ist.
»Solidarität mit Israel heißt nicht automatische Affirmation ihrer
Regierungs- bzw. Militärpolitik. Es gibt Zeiten, in denen der radikale
Protest gegen die israelische Politik sich als tiefste
Solidaritätsbekundung mit Israelis und Palästinensern in diesem ihrem
unseligen Konflikt erweisen mag. Eine solche Zeit ist die gegenwärtige«
(Moshe Zuckermann [ 1 ]).
I. Die
israelische Linke unter antideutschem Beschuss.
In der
Forderung nach einer unbedingten Solidarität [ 2 ] mit dem Staat Israel
findet ein solcher Beschuss als paternalistische und bevormundende
Reaktion durch die antideutsche Linke statt. Denn die vermeintlichen
Freunde Israels halten nichts von einer israelischen Friedensbewegung,
die den Zionismus kritisiert, einen Staat Palästina anerkennen möchte
und in Frieden und Ausgleich mit den PalästinenserInnen leben möchte.
In
einem Flugblatt [ 3 ], das im Eingangsbereich der Roten Flora während
einer Podiumsveranstaltung mit drei jüdischen Israelis aus der
Friedensbewegung verbreitet wurde, wurde beklagt, dass die
Veranstaltungsreihe lediglich darstelle, was in den eigenen
antizionistischen Kram passen würde, »natürlich auch den unvermeidlichen
Uri Avnery, der sich nicht zu schade ist, im Zentralorgan des deutschen
Antisemitismus, der "Jungen Welt"« zu schreiben. Mal abgesehen von der
Unverfrorenheit, als Antideutsche Linke die jüdischen VertreterInnen aus
Israel über ihre Kollaboration mit dem Antisemitismus aufklären zu
wollen, ist vor allem das Zitat über Uri Avnery [ 4 ] entlarvend.
Uri
Avnery und andere jüdische KritikerInnen israelischer Machtpolitik
werden in Antideutschen Publikationen als Abweichler an der jüdischen
Sache, die dem Antisemitismus das Wort reden sollen, denunziert. Eigener
Antisemitismus wird bei Antideutschen hierbei nicht mehr wahrgenommen
und wird schon durch die eigene politische Positionsbekundung
ausgeschlossen. Wer gegen Antisemitismus ist, kann vor dieser Logik kein
Antisemit sein. Gegen Antisemitismus zu sein wird so lediglich zur Frage
des Wollens, des Bekenntnisses gemacht und damit aus der historischen,
gesellschaftlichen Dialektik gelöst. Es gibt aber keine einfachen
Antworten, wir selbst sind Teil des Problems. Ein Ausflug in die
kritische Auseinandersetzung mit Sexismus und Rassismus wäre da
angebracht. Wurde dort doch schon lange erkannt - zumindest in autonomen
Zusammenhängen -, dass die Verneinung eigener Eingebundenheit in
Unterdrückungsverhältnisse nur zu deren Fortbestand beiträgt.
Wer den
Nahost-Konflikt für einseitige Parteinahme missbraucht, um sich vom
Nationalsozialismus der Väter und Mütter reinzuwaschen, trägt zum
Fortbestand des Konfliktes bei. Über einen äußeren Feind, von dem sich
abgrenzt wird und den es zu bekämpfen gilt, werden eigene Antisemitismen
nicht hinterfragt, sondern verleugnet. Wer seine Identität über den
Konflikt bestimmt, für den würde die Beendigung des Konfliktes die
eigene Zuordnung zur "guten Seite" infragestellen. In einer solchen
Weltsicht braucht die Antideutsche Linke paradoxerweise den Konflikt,
die SelbstmordattentäterInnen, die toten PalästineserInnen und Israelis
zur Aufrechterhaltung der eigenen politischen Identität.
II.
Antisemitismus in der Linken - zwischen "Anti-Zionismus" und
"Solidarität mit Israel". Im innerlinken Streit um Antisemitismus wird
vielfach mit den Waffen der Zitatensammlung, Dokumenten der radikalen
Linken und Interpretationen der politischen Praxis argumentiert. Das
sieht gut aus, wirkt schlüssig und wissenschaftlich, ist aber oft nur
ein oberflächliches Zitieren, das einer genaueren Analyse aus dem Weg
geht. So bestimmt das gewünschte Ergebnis - die Abgrenzung, die eigene
Identität - die Mittel, die für den Beweis herangezogen werden. Aber im
Feld der politischen Positionierung ist es wichtig, die Subjektivität
der politischen Herleitungsmechanismen - die eigene historische,
gesellschaftliche Prägung - im Bewusstsein zu halten und sicher auch,
dass die Sichtweise der Realität stets durch die eigene
gesellschaftliche Utopie geprägt ist.
Ein von
dem jeweiligen historischen und politischen Kontext losgelöstes Zitieren
macht es z.B. erst möglich, aus einer politisch sicher problematisc hen,
aber unserer Meinung nach nicht per se antisemitischen Boykottforderung
israelischer Waren [ 5 ] ein "Kauft nicht bei Juden" zu basteln, das
direkt am Nationalsozialismus und Holocaust anknüpft. So entstehen
Diskurse, die in ihrer Wirkung dem Holocaust die Unvergleichbarkeit, die
Singularität entreissen, um ihn zur politischen Herleitung für konkrete
politische Ziele einzusetzen. Wir halten es für einen verheerenden
Umgang, wenn der sehr ernste Begriff des Antisemitismus nicht mehr zum
Aufdecken von Gewalt, Herrschaftsstrukturen und
Unterdrückungsverhältnissen verwendet, sondern zur Durchsetzung der
eigenen politischen Position auf anderem Terrain leichtfertig eingesetzt
wird. Wer z.B. eine antisemitische Inter-nationale von der Roten Flora
bis zur extremen Rechten zeichnet, der zerredet politische Begriffe bis
zur Unkenntlichkeit. [ 6 ]
Wir
teilen die Einschätzung, dass es Antisemitismus auch in der Linken gab
und gibt, und dies Genauigkeit bei der politischen Intervention und
Sensibilität gegenüber eigenem Antisemitismus erfordert. Wir kritisieren
aber eine Sichtweise, die aus der Auseinandersetzung um linken
Antisemitismus wahlweise die Notwendigkeit zur uneingeschränkten
Parteilichkeit mit dem Staat Israel oder eine politische
Neutralitätsposition ableitet, die eine Nichtauseinandersetzung mit dem
Konflikt meint.
Antisemitismus äußert sich für uns unter anderem in einer Sichtweise auf
den Nahostkonflikt, die Israel lediglich als Konstrukt imperialistischer
Interessen und als Bollwerk des Kapitalismus im arabischen Raum
wahrnimmt. Denn ein solcher Blick blendet die antisemitische Geschichte
in Europa und den Holocaust aus und reduziert Israel zu einem Handlanger
des Kapitalismus. Ausdruck des Antisemitismus ist für uns auch eine
Schreibweise von manchen antiimperialistischen
Palästinasolidaritätsgruppen, die in den achtziger Jahren Israel in
Anführungsstriche gesetzt hat, um diesen Staat als illegitimes Gebilde
darzustellen, das kein Existenzrecht besitzt. Am schwerwiegendsten sind
für uns jedoch Anschläge, die den israelischen Staat treffen sollten und
jüdische Einrichtungen in Deutschland zum Ziel hatten. Hier wird nicht
mehr zwischen der jüdischen Bevölkerung hier und dem Staat Israel dort
differenziert. Hier wird eine völkische Zuordnung hergestellt, die in
ihrem Antisemitismus an Weltverschwörungstheorien anknüpft.
Ein
völlig anderes Beispiel für einen unzulässigen Umgang mit dem Konflikt
sind Vergleiche vom deutschen Nationalsozialismus mit der israelischen
Besatzung. Solche Vergleiche verbieten sich ohne wenn und aber, denn sie
negieren die Einmaligkeit der industriellen Vernichtung und geplanten
Ermordung aller Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus.
Eine
genaue Auseinandersetzung vermissen wir in der Diskussion um Zionismus
und Antisemitismus. Wer die zentralen Schriften der jüdischen
Nationalbewegung studiert [ 7 ], kommt nicht umhin zu bemerken, dass die
Theorie des Zionismus von einem völkischen Nationalismus geprägt ist.
Ein Widerspruch gegen diese politischen Werte ist geradezu zwingend.
Kritik am Zionismus halten wir deshalb nicht per se für antisemitisch.
Wenn sich eine solche Kritik allerdings in Begriffen wie "Antizionismus"
verfestigt und dieser dann als Kampfbegriff im politischen Reisegepäck
mitgeführt wird, dann bietet diese Verkürzung Andockmöglichkeiten für
antisemitische Propaganda. Eine generelle Gleichsetzung von
Antisemitismus und Antizionismus lehnen wir aber ab, da auch dies eine
Verkürzung herstellt, die wir für unzulässig halten. Wer die Kritik am
Zionismus als Antisemitismus übersetzt, der verdrängt nicht zuletzt auch
die antizionistischen europäischen JüdInnen der Jahrhundertwende und die
heutige antizionistische israelische Linke aus dem Bewusstsein.
III.
Die Relativierung des Holocaust als ideologische Munition. Die
Entwicklung der letzten zehn Jahre ist die ungebrochen fortschreitende
Relativierung des Holocaust als Munition für Kriegsbefürworter aller
Seiten. Mal kreuzt Sadam Hussein als Hitler auf, mal ein Bin Laden und
wahlweise Arafat und Sharon. Vor lauter Hitlers und drohendem Holocaust
in der Welt verschwindet die Realität der industriellen Vernichtung von
Menschen im Nationalsozialismus hinter den Interessen derer, die diese
Vergleiche für ihre politischen Interessen funktionalisieren. Nicht nur
amerikanische Präsidenten, deutsche Parteisprecher, orthodoxe JüdInnen
oder fundamentalisitische Muslime bemühen sich um diese Vergleiche,
nein, auch die personifizierte Kritik an der "deutschen Identität" - die
Antideutschen - sind in diesem vielstimmigen Chor dabei, wenn der
"Koran" mit "Mein Kampf" verglichen und ein neues drohendes Auschwitz an
die Wand gemalt wird.
Moshe
Zuckermann [ 8 ] spricht in diesem Zusammenhang von einer
Ideologisierung und Instrumentalisierung des Andenkens. Im Zentrum steht
nicht das Gedenken an die Opfer und die Aufklärung über den Holocaust,
sondern das politische Einsetzen dieses Begriffes in der deutschen und
israelischen Außenpolitik. In Deutschland personifiziert Joschka Fischer
diesen Ansatz, wenn er Auschwitz, deutsche Auslandseinsätze, den "Kampf
gegen den Terror" und "Solidarität mit Israel" verknüpft. Die Abwicklung
deutscher Geschichte, die neue Rolle Deutschlands und militärische
Interventionen in der Welt werden über Relativierung, die Aufhebung der
historischen Unvergleichbarkeit des Holocaust begründet und durch
konstruierte Parallelen zu heutigen Ereignissen legitimiert.
Eine
Relativierung zum politischen Gebrauch findet nach Moshe Zuckermann
jedoch auch in Israel statt, allerdings unter völlig anderen Vorzeichen.
Moshe Zuckermann zitiert hierzu unter anderem den palästinensischen
Knesset Abgeordneten Azmi Bishra [ 9 ], der darauf hinweist, dass der
Holocaust instrumentalisiert werde, um die israelische Besatzung zu
legitimieren, und obgleich sich das verheerende Verbrechen in Europa
zugetragen habe, habe die "Wiedergutmachung" in Palästina stattgefunden.
Eine
zentrale Streitfrage zum Holocaust ist neben der Frage um das "richtige"
Andenken an die Opfer und der Frage nach den TäterInnen, auch immer
wieder die nach den daraus zu ziehenden Lehren. Diese Frage berührt das
linke Wertesystems eines und einer jeden Einzelnen. Im Bewusstsein
unserer Verantwortung zur deutschen Geschichte ziehen wir weder den
Schluß, dass eine kritische Auseinandersetzung mit Israel unmöglich
wäre, noch dass eine unhinterfragte Parteiergreifung für Israel
notwendig oder gerechtfertigt ist.
Eine
Lehre aus dem Holocaust ist, wie Felicia Langer [ 10 ] schreibt:
»angesichts jeglichen Unrechts und Verbrechens nicht zu schweigen,
sondern alle Formen von Rassismus und Antisemitismus zu bekämpfen und
die Würde und Rechte der Menschen, wer auch immer sie sein mögen, zu
verteidigen.«
Dem
schließen wir uns an und wollen noch hinzufügen:
und uns
mit jeglichen Herrschaftsverhältnissen in den verschiedensten
Ausprägungen und komplexen Vernetzungen wie Nationalismus, Patriachat,
Sexismus, soziale Normierungen und Kategorisierungen (wie z.B. nach
Geschlecht, nach Fähigkeiten und Erscheinungen), wie Kapitalismus und
Imperialismus, Neoliberalismus, kapitalistische Globalisierung und
Weiteren, auseinanderzusetzen und sie zu bekämpfen - und zwar nicht nach
dogmatischen und fundamentalistischen Rezepten, sondern stets in seiner
gesellschaftlichen Widersprüchlichkeit. Es geht uns nicht darum, die
Legitimation und Eroberung von Macht zu unterstützen, sondern um deren
Auflösung. Und Solidarität heißt für uns immer auch das Aufbrechen von
inneren und äußeren Herrschaftsverhältnissen. Dazu ist es notwendig -
stets und immer wieder neu -, eigene Begriffe von Recht und Legitimität,
von Gewalt und Widerstand zu entwickeln.
Hieraus
folgern wir unter anderem auch unser Verständnis für das Bestreben der
jüdischen Bevölkerung nach einem sicheren Staat und der
palästinensischen Bevölkerung nach einem eigenen und sicheren Staat.
Hieraus folgert aber auch unsere Kritik an der israelischen Besetzung
des Westjordanlandes, des Gaza-Streifens und Ostjerusalems und an der
Erichtung von Siedlungen auf palästinensischem Gebiet. Und wir folgern
daraus nicht zuletzt unsere Kritik an den ideologischen Wurzeln dieser
Besetzung und unser Bemühen um eine Zusammenarbeit mit linken,
progressiven Kräften in Israel und Palästina.
IV. Der
Zionismus - ein jüdisches Selbstbestimmungsmodell zwischen Kolonialismus
und Befreiungsnationalismus. In Denkstrukturen, die auf der Suche nach
einer universellen Wahrheit sind, schließt sich Denken in Widersprüchen
und Komplexität aus. Es wurde in der Vergangenheit zwar viel an
Identitätspolitik und Freund/Feind-Denken kritisiert, doch immer noch
scheint es manchen linken Bewegungen nicht möglich zu sein, sich von
vereinnahmender und vereinfachender Parteinahme zu lösen. Und so scheint
diesen heute auch eine Kritik am Zionismus als unmöglich, da sie das
Existenzrecht Israels angreifen würde und aus diesem Kontext heraus
antisemitisch sei.
Historisch betrachtet war die zionistische Siedlungspolitik ein Unrecht. [
11 ] Aus der konkreten Bedrohung durch den europäischen Antisemitismus
erwuchs bei vielen JüdInnen seit Anfang des 19. Jahrhunderts der Wunsch
nach nationaler Selbstbestimmung. Aus dieser Stimmung heraus wurde Ende
des 19. Jahrhunderts Palästina als das "Land ohne Volk, für das Volk
ohne Land" betrachtet. Entsprach der zweite Teil noch der Realität
vieler JüdInnen, so war der erste schlichtweg koloniales Wunschdenken.
Dieses Denken war dabei beileibe keine zionistische Besonderheit. Es
entsprach vielmehr der europäischen Auffassung um die Jahrhundertwende,
dass der Kolonialismus ein notwendiger Schritt sei, um den Völkern
Asiens und Afrikas die "Erungenschaften der Zivilisation" näher zu
bringen und die "brachliegenden" Ländereien und Rohstoffe zu
erschließen. Die positiven (und negativen) Elemente eines
Befreiungsnationalismus wurden im Zionismus mit den destruktiven
Elementen des europäischen Kolonialismus verknüpft.
Eine
der Schlüsselfiguren der zionistischen Bewegung , Theodor Herzel,
formulierte dies ganz im Sinne der europäischen Nationalstaaten: »Für
Europa würden wir dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir
würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen«. [ 12
] Ein westliches Verständnis von Zivilisation, das noch heute aktuell
ist, wie es zum Beispiel im "Kampf der Zivilisation gegen den Terror",
in den Berichten über Afghanistan oder den Irak - wenn auch unter völlig
anderen Vorzeichen - nach wie vor aufscheint.
Jedoch
war der Zionismus kein einheitliches, schon gar nicht gesamtjüdisches
Konzept. Weite Teile der JüdInnen lehnten einen jüdischen Nationalismus
ab. Auch innerhalb der zionistischen Bewegung gab es unterschiedliche
Strömungen. Auf Anregung von Arthur Ruppin [ 13 ] wurde z.B. 1926 der
British Shalom Bund gegründet, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die
jüdisch-arabischen Beziehungen zu erforschen und das Verhältnis beider
Gruppen zu verbessern.
Ausdrücklich lehnte Ruppin während des 16. zionistischen Kongresses 1929
in Zürich jedweden heemonialen Herrschaftsanspruch der Juden in
Palästina ab: »Wir sollten uns freihalten von dem Irrtum, der ein
Jahrhundert hindurch Europa beherrschte und zu der Katastrophe des
Weltkrieges führte, dass in einem Staat nur eine Nationalität herrschen
kann [ ... ] Wir wollen den Chauvinismus, den wir bei anderen Völkern
hassen, auch bei uns bekämpfen.« [ 14 ] Zeitweise befürworteten zwar
auch Personen wie David Ben Gurion [ 15 ] oder Chaim Weizmann [ 16 ]
eine binationale Variante (ein Staat, zwei Völker), durchsetzen konnten
sich solche Konzepte jedoch nicht.
Für
große Teile der JüdInnen wurden diese Fragen spätestens mit Beginn des
Nationalsozialismus in Deutschland nebensächlich. Die Pogromstimmung und
anlaufende Massenvernichtung stärkte das Nationalgefühl, und gegen den
Widerstand der britischen Besatzungsmacht wurde die Einwanderung nach
Israel forciert. Um eine sofortige mögliche Zufluchtsstätte vor der
Vernichtung zu schaffen, war Palästina eine der wenigen Möglichkeiten.
Eine
friedliche Koexistenz mit dem arabischen Bevölkerungsteil schien vor
diesem Hintergrund nicht mehr möglich und sämtliche Stimmen, die dies
einforderten, verloren in der zionistischen Bewegung an Einfluss. Die
Konsequenz bedeutete, dass die PalästinenserInnen zu den Leidtragenden
einer Entwicklung wurden, die sie nicht zu verantworten hatten, denn der
europäische Antisemitismus der Neuzeit ist die Ursache der zionistischen
Bestrebungen gewesen. Der deutsche Antisemitismus hat diesen durch die
angestrebte Endlösung zu einer Frage des Überlebens werden lassen.
Als
Fazit bleibt für uns stehen, dass die Vertreibung der PalästinenserInnen
ein Unrecht war, das durch den Holocaust zwar nachvollziehbar, aber als
Ideologie und Praxis dennoch nicht als legitim betrachtet werden kann.
Dies darf dennoch den heutigen Staat Israel nicht in Frage stellen. Denn
es gilt für alle in Israel und Palästina, aus der Logik der Aufrechnung,
des Opferzählens und des Anmeldens von Ansprüchen aus historischen
Ereignissen auszubrechen und Verständigung zu suchen; die wahrscheinlich
einzige Chance für einen gerechten Frieden, der nicht Totenstille meint.
Die
Verbrechen Deutschlands und Europas werden durch dieses Ausbrechen aus
der Logik der Aufrechnung im Nahostkonflikt keineswegs entschuldet. Die
Parole "kein Vergeben, kein Vergessen" behält seine Gültigkeit. Die
Erinnerung an den Holocaust und der Kampf gegen Antisemitismus und
Faschismus behalten ihre Aktualität.
V.
Nationalstaaten als Vorraussetzung zur Überwindung des Nationalismus.
Die Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt ist nach wie vor ein
politisches und persönliches Minenfeld. Die komplexe eigene Verwobenheit
mit diesem Thema durch die deutsche Geschichte und eigenen
Antisemitismus, Antiislamismus oder Rassismus macht eine Positionierung
schwer. Zudem ist es kaum möglich, eine "richtige" Seite einzunehmen.
Wer es versucht, wird meist lediglich zum Protagonisten einer
unbedingten Parteinahme mit den nationalen Strömungen in Israel oder in
Palästina. Diese unbedingten Parteinahmen reproduzieren lediglich die
dogmatisch / fundamentalistischen Strömungen des dortigen Konflikts -
klammern die Widersprüche und kritischen Ansätze aus und tragen so
lediglich zu einer diskursiven Eskalation des Konfliktes bei.
Als
Vorschlag für eine Lösung des Konflikts hat Uri Avnery als Sprecher der
israelischen Friedensorganisation Gush Shalom für diese 80 Thesen [ 17 ]
in der israelischen Tageszeitung Ha`aretz veröffentlicht. Dort heißt es
u.a.:
»Mit
einem neuen Verständnis der Vergangenheit und der Gegenwart muss das
neue Friedenslager einen Friedensplan erarbeiten, der auf folgenden
Grundlagen beruht:
a..
Neben Israel wird ein unabhängiger und freier Palästinastaat gegründet.
b.. Die
"Grüne Linie" [ 18 ] wird die Grenze zwischen den beiden Staaten. Mit
Zustimmung beider Seiten ist ein begrenzter Gebietsaustausch möglich.
c.. Die
israelischen Siedlungen auf dem Territorium des Palästinastaates werden
geräumt.
d.. Die
Grenze zwischen den beiden Staaten wird nach einer zwischen beiden
Seiten vereinbarten Regelung für die Bewegung von Personen und Gütern
offen sein.
e..
Jerusalem wird die Hauptstadt beider Staaten - West-Jerusalem die
Hauptstadt Israels und Ost-Jerusalem die Hauptstadt Palästinas. [...]
f..
Israel wird prinzipiell das Recht der Palästinenser auf Rückkehr als ein
unveräußerliches Menschenrecht anerkennen. Die praktische Lösung des
Problems wird durch ein Abkommen erreicht, das auf gerechten, fairen und
praktischen Erwägungen beruht und die Rückkehr auf das Gebiet des
Staates Palästina, auf das Gebiet des Staates Israel und Entschädigungen
einschließt.[ 19 ]
g.. Die
Wasservorkommen werden gemeinsam kontrolliert und in einem
gleichberechtigten und fairen Abkommen zugeteilt.
h.. Die
Sicherheit beider Staaten wird in einem zweiseitigen Abkommen
garantiert, das die spezifischen Sicherheitsinteressen Israels wie
Palästinas berücksichtigt.
i..
Israel und Palästina werden mit andern Staaten der Region
zusammenarbeiten, um eine Nahost-Gemeinschaft nach dem Modell der
Europäischen Union zu errichten.« Diese Vorschläge bieten für uns einen
Anknüpfungspunkt für die weitere Diskussion innerhalb der BRD-Linken zum
Israel/Palästina Konflikt.
Die
israelische Regierung ist für uns die derzeit entscheidende
Kriegspartei, die einer Friedenslösung im Wege steht. Mit dem nach wie
vor betriebenen Aufbau von neuen Siedlungen [ 20 ] und mit staatlich
legitimierten Militäraktionen, die mittels Todeslisten vermeintliche und
tatsächliche Attentäter und Führungspersonen der verschiedenen
Strömungen des palästinensischen Widerstandes ermorden, durch den
Einmarsch in Flüchtlingslager und durch Massenverhaftungen der
Zivilbevölkerung eskaliert diese Politik den Konflikt und macht den
Konflikt zum Krieg. Auf der anderen Seite dieser Gewaltspirale stehen
menschenverachtende Selbstmordattentate von PalästinenserInnen auf die
jüdische Zivilbevölkerung, die für uns ebenfalls Verbrechen sind und die
eine Friedenslösung immer schwieriger erscheinen lassen.
Der
israelische Friedensblock Gush Shalom erklärte hierzu am 18.06.2002 nach
einem neuen schweren Selbstmordanschlag: »Heute wurden weitere 19
Menschen auf dem sinnlosen Altar der andauernden Okkupation in der West
Bank und dem GazaStreifen geopfert. Das Besatzerregime, welches seit 35
Jahren andauert - fast zwei Drittel der gesamten israelischen Geschichte
-, ist der fruchtbare Boden aus Hass und Verzweiflung, auf welchem die
Selbstmordattentäter gedeihen. Die andauernde Verweigerung von
Grundrechten für die Bevölkerung der besetzten Gebiete, insgesamt
dreieinhalb Millionen Menschen, treibt einige dieser Menschen zu
abscheulichen Taten, dem beliebigen Töten von israelischen Zivilisten.
Diese verurteilenswerten Taten spielen direkt in die Hände Sharons und
der extremen Rechten. Bei aller Abscheulichkeit der Attentate, es ist
sinnlos, diese mit militärischen Einsätzen beenden zu wollen, weder mit
Bomben aus der Luft, noch mit Invasionen. (...) Nur eine Beendung der
Besatzung durch politische Entscheidungen, welche die Wünsche der
Palästinenser berücksichtigen, können das Phänomen der
Selbstmordattentate an der Wurzel bekämpfen und den jungen
Palästinensern, aus deren Reihen die Attentäter angeworben werden, neue
Hoffnung bringen.« [ 21 ]
Die
Bilder des bombardierten dichtbesiedelten Wohngebietes in Gaza-Stadt [
22 ] sind ein Beispiel dafür, dass ein Kampf gegen
SelbstmordattentäterInnen keine militärische Intervention legitimieren
kann. Eine Friedenslösung wird nur über eine Abkehr der israelischen
Politik der Stärke und Vergeltung führen. Die israelische und
palästinensische Linke, gemeinsame Organisationen wie "Gush Shalom", das
"Komitee gegen Häuserzerstörungen" oder das "Alternativ Information
Center" sind für uns ein positiver Bezugspunkt im Nahostkonflikt. Für
die Linke hier gilt es, Kontakte zur undogmatischen palästinensischen
und israelischen Linken und Friedensbewegung aufzubauen und diese zu
unterstützen, deutsche Interessen im Konflikt anzugreifen und eine
Diskussion über Möglichkeiten der Kritik und Solidarität zu entwickeln.
[ 23 ] Wichtig ist auch, linke israelische und palästinensische
WissenschaftlerInnen, Kulturschaffende aus Theater, Film, Medien,
Literatur und Bildung wahrzunehmen, die auch die Sichtweise der jeweils
"Anderen" einbeziehen und ein kritisches Verhältnis zu Vergangenheit und
Gegenwart entwickeln. Unterstützung und die Verbreitung von deren
Projekten sind ein mögliches Beispiel für praktische Solidarität im
Nahostkonflikt.
Eine
Zusammenarbeit mit antisemitischen oder antiarabischen Gruppen lehnen
wir ab. Das heißt z.B., wir werden nicht mit Organisationen, die Hamas,
Dshihad al-Islami oder den Al Aksa Brigaden nahe stehen, auf die Strasse
gehen, um Israel zu kritisieren. Die durch den Holocaust geprägte
Geschichte Deutschlands macht besondere Verantwortung und Wachsamkeit
gegenüber Rassismus, Antisemitismus und Intoleranz erforderlich. Wir
halten es aber gerade deshalb für notwendig, eigene Aktionsformen zu
entwickeln, um den politischen Druck der undogmatischen linken
Bewegungen in Israel und Palästina gegen die israelische Besatzung zu
unterstützen. Für diesen Prozess ist es notwendig, eigene politische
Standpunkte gegen die israelische Besatzung zu entwickeln und diese
öffentlich zu vertreten. Für die Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und
Menschen sind für uns von zentraler Bedeutung:
a.. die
Anerkennung des israelischen Staates,
b.. die
Schaffung und Anerkennung eines palästinensischen Staates,
c.. die
Anerkennung des Widerstandsrechtes der Palästinenser gegen die
Besatzung,
d.. die
Verurteilung von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in Israel und
Palästina,
e.. die
Verurteilung von Rassismus, Antiislamismus und Antisemitismus. Wir
denken nicht, dass eine gemeinsame Friedenslösung relevanter,
gesellschaftlicher Strömungen in Israel und Palästina der alleinige
Schlüssel zur Beendigung des Konfliktes wäre. Zu viele regionale und
globale Interessen spielen auf diesem Terrain eine Rolle. Die
Entschlüsselung der vielfältigen Interessen bleibt eine Aufgabe für die
weitere Auseinandersetzung. Uns geht es mit diesem Text darum, eine
Perspektive aufzuzeigen, die Ausgangspunkte erklärt und politische Ziele
formuliert, und die eine solche Auseinandersetzung möglich machen soll.
Es ist notwendig, den Konflikt und mögliche Lösungen in ihrem
historischen, gesellschaftlichen Kontext, und sich selbst als Teil des
Problems zu begreifen. Dies bedeutet, Position zu beziehen gegen
fundamentalistische und dogmatische Bevormundung, gegen Besserwisserei
und Überheblichkeit, und gegen intellektuellen Kolonialismus, der
Israelis und PalästinenserInnen sagen will, wo es lang geht. Eine
wichtige Vorraussetzung für die Zusammenarbeit hier in der BRD ist, dass
es um die Menschen in Israel und Palästina geht und nicht um eine
deutsche Geschichtsabwicklung und Vergangenheitsbewältigung á la
Bahamas-Redaktion, Jürgen Möllemann oder Joschka Fischer. Keine Kritik
an Unrecht hat Vergleiche nötig. Sie verwirren in der Regel den Blick
und erleichtern es, von den eigentlichen Interessen abzulenken.
VI.
Israel und Palästina - das Ende differenter Lebensentwürfe? Dürfen
Deutsche Israel kritisieren? Können JüdInnen rassistisch sein? Sind
unterdrückte Palästinenser im Widerstand antisemitisch? Jede
vereinfachende Antwort auf solche Fragen trägt den Geschmack der
Heuchelei und Funktionalisierung für eigene Interessen in sich. Kritik
ist Voraussetzung für Solidarität und gemeinsame Entwicklung. Ohne
solche kritische Auseinandersetzung mit der israelischen Politik wird
die deutsche Linke ihren Antisemitismus nicht überwinden, da sie sich
fortwährend eine jüdische Identität als Projektion der Shoa konstruiert.
Wer aber nicht den Menschen sieht, sondern nur die ihm zugeschriebene
Rolle, die er zu erfüllen hat, reproduziert so den Antisemitismus, den
er angeblich zu bekämpfen sucht.
Deutlich drückt sich dieses Verhältnis darin aus, wenn heute
Kapitalismuskritik pauschal mit Antiamerikanismus und daraus folgernd
mit Antisemitismus gleichgesetzt wird. Hier lebt der "ewige Jude" fort,
der angeblich als Vorstandsvorsitzender und Geldverleiher die Wirtschaft
kontrollieren und nach der Weltmacht streben soll. Sicherlich gibt es
auch politische Strömungen, die solche Bilder aufgreifen. [ 24 ] Der
Rückschluss aber, Kritik an internationalen Konzernen, an
Neoliberalismus und kapitalistischer Globalisierung greife diese
Sichtweise per se auf, befreit das Denken nicht von antisemitischen
Konstrukten, sondern lässt gerade diese als Abbildung weiter
durchscheinen.
Seit
Anfang der neunziger Jahre wird verstärkt um Begriffe wie Gender,
Geschlechterkategorisierung, Queer oder überhaupt um die Rolle
gesellschaftlicher Kategorisierung für Herrschaft, diskutiert. Bei
diesen Begriffen geht es in erster Linie darum, aus bipolaren
Denkkonzepten auszubrechen. Es werden Ansätze von Subjektivität gesucht,
ohne in eine Identitätsfalle zu geraten. Es gibt nicht nur zwei Seiten
einer Sache, sondern den Blick hinter diese konstruierten Zuordnungen.
Der Diskurs um die oben genannten Begriffe findet sein Ende und seine
Konterkarierung im Nahost-konflikt, wenn sich in Zuordnungen wie "die
Juden" und "die Palästinenser" als einheitliche Kollektive versucht
wird. Eigene Erfahrungen, Widersprüche und Utopien kommen nicht mehr
vor, stattdessen werden Theorien abstrakt konstruiert und
gegeneinandergestellt.
Wer
schreibt denn noch über die Werte, Ängste und Hoffnungen, von
israelischen und palästinensischen Jugendlichen, Transsexuellen,
Schwulen/Lesben, oder undogmatischen Linken. In der derzeitigen
Diskussion tauchen diese auseinanderstrebenden Lebensentwürfe nicht mehr
auf. Auf die eine Seite wird Auschwitz gestellt - auf die andere Sabra
und Schatila [ 25 ]. Dazwischen Juden und Araber nur noch als Objekte
ihrer ethnischen und religiösen Geschichte. Funktionalisiert als Opfer,
Kriegshelden und Märtyrer. Eingesetzt als Schachfiguren auf dem
Schlachtfeld ideologischer Hegemonialbestrebungen. Eine Wahl scheint es
vor diesem Hintergrund nicht zu geben, nur das Leben, Kämpfen und
Sterben als Angehörige(r) des jüdischen oder palästinensischen
Kollektivs.
Wir
wollen sie aber nicht aufgeben, die Solidarität mit unseren
GefährtInnen, die an den Wahrheiten, den aufgezwängten Rollen und der
Gegebenheit der politischen Verhältnisse zweifeln und sie zu verändern
suchen. Wir wollen festhalten an der Solidarität mit denen, die diese
Verhältnisse stören, die ausbrechen, die sich möglicherweise verirren,
die Spuren in eine bessere Zukunft legen. An ihnen orientiert sich unser
politisches Verhältnis, unser Wunsch nach Kommunikation und unser
hedonistisches Bedürfnis nach Lebensfreude und Befreiung.
Hamburg, August 2002
Postfach: nofw c/o Schwarzmarkt
Kleiner
Schäferkamp 46, 20357 Hamburg
Literaturliste:
"Zweierlei Holocaust - Der Holocaust in den politischen Kulturen Israels
und Deutschlands" Moshe Zuckermann, Wallstein Verlag, Göttingen 1998.
"Trapped. Antideutsche in der völkischen Ideologie-Falle", Arranca, Nr.
15, Herbst 98.
"Gedenken und Kulturindustrie - Ein Essay zur neuen deutschen Normalität",
Moshe Zuckermann, Berlin und Bodenheim 1999.
"Zwischen Ölzweig und Kalashnikow - Geschichte und Politik der
palästinensischen Linken", Gerrit Hoekmann, Unrast Verlag, Münster,
1999.
"Israel
und Palästina: 80 Thesen für ein neues Friedenslager, ein Entwurf der
israelischen Friedensorganisation Gush Shalom",