KULNA GAZA
- WIR ALLE SIND GAZA
Fünfzehn Tote bis jetzt, und kein Ende in Sicht.
VERA MACHT
Morgen sollen die Ausländer evakuiert werden, Israel droht mit
"massivem Militärschlag", auch eine "Bodeninvasion" sei nicht
ausgeschlossen. Fünfzehn Tote, darunter zwei Kinder. Ich kann
ihre Namen nennen, Malek, zwei Jahe alt, und Mahmoud, dreizehn
Jahre. Ich kann erzählen wie Mahmouds Lehrer ihn als
intelligenten, aufgeweckten Schüler beschrieb, oder Fotos von
den beiden zeigen. Als ob das einen Aufschrei erzegen würde, als
ob für die westlichen Medien das Leben dieser palästinensischen
Kinder einen solchen wert wäre.
Nein, Israel wurde angegriffen. Israel muss sich verteidigen.
Weder die Umstände geschweige denn die tatsächlichen Täter des
Attentats auf Israel sind bis jetzt ermittelt worden, jede
palästinensiche Militärgruppe hat eine Verwicklung darin
verneint.
Doch Gaza ist schuld, wie Gaza immer schuld ist, Gaza muss
bestraft werden, gazawisches Blut muss fließen damit der Mord an
Israelis gerächt wird. Wie viel Blut muss den noch fließen, ihr
israelischen Generäle? Wie viele Mahmouds und Maleks müssen noch
sterben, wieviele Frauen und Kinder verletzt und getötet werden?
Die Zeichen sprechen dafür, dass es noch
viele sind. Und die Zeichen sprechen dafür, dass die Welt das
aktzeptieren wird. Dass sie aktzeptiert, dass unschuldige
Menschen getötet werden, die nichts aber auch gar nichts mit dem
Anschlag in Israel zu tun hatten. Dass Palästinenser eben
"bestraft" werden müssen, einfach weil sie Palästinenser sind.
Ich war bei den Protesten vor der israelischen Botschaft in
Kairo. Es wurden auch ägyptische Soldaten ermordet.
"Bedauerlich", nannte Ehud Barak, der israelische
Verteidigungsminister den Vorfall. Seit wann ist es einfach nur
bedauerlich, wenn man Soldaten des Nachbarlandes tötet. Die
Menschen vor der Botschaft waren aufgebracht, sie forderten die
Ausweisung des israelischen Botschafters, entfernten die
israelische Flagge und ersetzten sie durch eine Ägyptische.
Und doch waren die ägyptischen Aktivisten, mit denen ich sprach,
skeptisch. Ägypen ist schwach, sagten sie. Wir haben keinen
Präsidenten, keine richtige politische Führung, wir müssen erst
unser Land wieder aufbauen, unsere Wirtschaft muss in Gang
kommen. Wirtschaft? Fragte ich. Versteht mich nicht falsch.
Natürlich weiß ich, dass Ägypten gerade in einer schwierigen
Position ist. Aber es geht nicht darum, einem gebeutelten Land
wirtschaftlich unter die Arme zu greifen.
Während wir hier sprechen, wird Gaza bombardiert. Während wir
sprechen, sterben unschuldige Menschen. Wenn Israel keinen
Widerstand erfährt, keinen Aufschrei, keinen Appell der
Weltöffentlichkeit, sich zu mäßigen, dann wird ein neues
Massaker geschehen. Ein Cast Lead zwei. In dem 1382 Menschen in
drei Wochen ermordet wurden, darunter 320 Kinder.
Ich sagte, ich appelliere an euch, nicht zuzuschauen, wie eure
Brüder und Schwestern ermordet werden. Ich appelliere an den
muslimischen Gemeinschaftssinn, doch eigentlich will ich an
unser aller Menschlichkeit appellieren!
Meine Freunde in Gaza haben ihr Facebook Profilbild zu dem roten
Schriftzug: "Kulna Gaza" geändert. Wir sind alle Gaza.
In dem verzweifelten Versuch der Welt zu zeigen, dass die
Menschen die dort in diesem Moment bombardiert werden, keine
blutrünstigen Terroristen sind, sondern Menschen wie du und ich.
Die fühlen, denken, lachen und leiden wie wir alle. Die zu Hause
vor ihrem Computer sitzen, eingesperrt in einem winzigen
Küstenstreifen aus dem es kein Entkommen gibt, keinen Ort an dem
man sicher ist. Sie sitzen dort und hoffen und beten, dass die
Bomben die um sie herum fallen nicht ihr Haus treffen, dass sie
am nächsten Tag noch leben. Mit dem Internet als einzige
Möglichkeit auf ihre Existenz, auf ihr Leiden, auf ihre
Menschlichkeit aufmerksam zu machen.
Kulna Gaza.
Ich appelliere in ihrem Namen an euer aller Menschlichkeit. Denn
ein Stück Land, in dem es nichts mehr gibt, weder Industrie noch
Bodenschätze, die ausgebeutet werden können, das bereits jetzt
durch Bomben komplett verwüstet wird, kann kaum auf politische
Hilfe hoffen. Dem kann nur Menschlichkeit helfen.
Ich appelliere an euer aller Menschlichkeit, kein neues Massker
in Gaza zuzulassen. Widerspruch zu erheben. Durch
Demonstrationen, durch Proteste.
In einem Land wie Ägypten, mit nun wirklich genug eigenen
Problemen, waren heute tausende von Menschen auf der Straße, um
Unterstützung für Gaza zu demonstrieren, um den Menschen dort zu
zeigen, dass sie nicht alleine sind. Nehmen wir uns ein Beispiel
daran.
Ich appelliere an euch - an uns - Protest zu üben. So laut und
nachdrücklich wie möglich. Ein neues Massker in Gaza kann und
darf nicht geschehen, und es liegt in unserer Hand das zu
verhindern. Nicht in der Hand von Politikern, die nach
wirtschaftlichen Maßstäben entscheiden, sondern in unserer. Es
liegt an uns, dass ein neuer Krieg in Gaza verhindert wird.
Kulna Gaza - wir sind alle Gaza.
Vera Macht, Kairo, 21.8.11
Vera Macht ist Journalistin und Friedensaktivistin. Sie lebte
bis April 2011 ein Jahr lang in Gaza.