AMJAD – DAS NÄCHSTE
OPFER IN GAZA´s
GRENZGEBIET (BUFFER-ZONE)
Vera Macht
Acht Tage hat es gedauert. Acht Tage
seitdem der letzte Unschuldige hier gestorben ist. Man sieht
die Menschen hier sterben, einen nach dem anderen, wie sie
getötet werden, einer nach dem anderen, ohne Folgen, ohne
Gerechtigkeit, ohne einen Aufschrei in den Medien.
Unschuldige Menschen, die nie etwas anderes verbrochen
haben, als zu versuchen sich ihren Lebensunterhalt zu
verdienen. Zivilisten. Palästinensische Zivilisten, deren
Leben nicht mehr wert zu sein scheint als einen Eintrag in
die Statistik. Und man fühlt sich als wären seine Hände
gebunden.
“Das ist es also was ich tun kann: Ich registriere sie in
meinem Notebook. Es ist registriert, und dort ist eine leere
Stelle nach Shaban’s Name. Für diejenigen, die sie morgen
töten werden.“, so schrieb der amerikanische Journalist Max
Ajl nachdem er 65-jährige Schäfer Shaban Karmout ermordet
wurde. Acht Tage hat es gedauert, und die Stelle wurde
gefüllt.
Amjad ElZaaneen, 18 Jahre alt, starb heute. Zu jung, zu
früh, zu sinnlos, zu viele Namen auf unseren Laptops.
Amjad sammelte am 18.1.11, wie an jedem Morgen,
Steine mit seinen drei Cousins und seinem Bruder.
Der Jüngste von ihnen war elf. Fünf
Jungs, Kinder, mit einem Pferd und einem Anhänger voller
Steine, ungefähr 300 m von der Grenze zu Israel entfernt,
und in der Nähe des Dorfes Bait Hanoun. Sie hatten ihren
Karren gerade vollgeladen, als sie sahen, wie israelische
Panzer und Bulldozer in das Land einbrachen, warum, wer weiß
das schon. Sie rannten um
ihr Leben, erfolgreich, sie kamen wohlbehalten zu Hause an.
Doch das
Pferd war schließlich noch da. Und die
ganzen Steine, die sie mühsam gesammelt hatten, für die sie
ihr Leben riskiert hatten, um für diesen Tag etwas Einkommen
zu haben, und für den nächsten vielleicht auch. Wer weiß
schon, ob die Situation dann nicht noch gefährlicher sein
würde. Also gingen sie zurück, als sie dachten, dass sich
die Lage beruhigt und sich die Panzer und Bulldozer von
Gazas Land zurückgezogen hätten, nachdem sie es zum
Hundertsten Mal plattgewalzt hatten, warum, wer weiß das
schon.
Doch als sie bei ihrem Pferd ankamen und
es gerade wieder mit nach Hause mitnehmen wollten, feuerten
israelische Soldaten eine Granate auf sie, und
Sharaf Raafat Shada ,19 wurde in der Brust getroffen.
Amjad, der nun älteste, versuchte ihn
wegzuziehen, ihn auf den Karren zu legen, um ihn irgendwie
ins Krankenhaus zu bringen,
doch Sharaf war zu schwer für ihn. Also fasste Amjad den
Entschluss, zu versuchen nach Bait Hanoun zu kommen, um
irgendwie Hilfe zu holen. Er war nicht weit gekommen, als
ihn eine Granate direkt in den Bauch traf und eine so große
Wunde hinterließ, dass er innerhalb von
Minuten verblutete.
Die Jugendlichen brachen in Panik aus und
rannten los, um sich in Sicherheit zu bringen. Krankenwagen
erreichten den Ort, und Anwohner, die versuchten sich, weiße
Tücher schwingend, den Verletzten zu nähern. Ohne Erfolg.
Viel zu lange dauerte es, bis die Verwundeten geborgen
werden konnten.
Ismael Abd Elqader ElZaaneen, 16 Jahre alt, liegt im
Krankenhaus, mit Verbänden an fast jeder Stelle seines
Körpers. „Wir rannten in alle
Richtungen, und sie feuerten ungefähr zehn
Artilleriegranaten auf uns. Ich bekam einen Splitter tief in
meinen Rücken, und kleinere überall in meinen Körper. Aber
ich bin trotzdem weitergerannt, bis ich die Hauptsraße von
Bait Hanoun erreicht hatte.“ Selbst der verletze Sharaf
schaffte es irgendwie, nach Bait Hanoun
zu gelangen, ohne noch einmal getroffen zu werden, und der
elfjährige Oday Abdel Qader Elzaaneeen wurde durch einen
Granatensplitter in seiner Wange nur leicht verletzt. Er
steht im Krankenhaus und weint, sichtlich unter Schock, sein
Cousin ist tot, und seine Brüder schwer verletzt. „Ich habe
keine Ahnung, warum die Israelis dies getan haben“, sagt er
leise. Er ist zu jung um hier zu stehen
und zu weinen, er ist zu jung um zwischen Granaten um sein
Leben zu rennen, er ist zu jung um heute seinen Cousin
verloren zu haben. Und Amjad war zu jung, um heute zu
sterben, durch eine Granate
die seinen Bauch zerfetzt hat. Seine Mutter bricht im
Krankenhaus zusammen. Selbst als sie wieder zu sich kommt
bleibt sie liegen, die Augen geschlossen. Es kann keine Welt
geben, in der ihr Sohn nicht mehr ist.
Der Onkel von Sharaf, der neben seinem
Bett steht sagt: „Die Israelis begehen hier jeden Tag
Verbrechen.
Keiner von uns Zivilisten kann mehr sein Land betreten. In
der letzten Zeit ist die Brutalität eskaliert, Bauern,
Schäfer, Steinesammler, wir werden alle ermordet. Sie haben
für niemanden Erbarmen, weder für alte Menschen noch für
Kinder. Die Menschen da draußen müssen anfangen uns zu
helfen, jeden Tag, jede Woche und jeden Monat haben wir neue
Verletzte und Tote zu beklagen. Seit 1948 leiden wir, und es
wird immer schlimmer. Wir bekommen von niemandem
Unterstützung. Aber wir brauchen Hilfe. Alle Palästineser
sind mögliche Angriffsziele. Alle von uns. Niemand ist davon
ausgenommen, niemand ist sicher.”
Vera Macht
lebt und arbeitet seit April 2010 in Gaza.
Sie ist Friedensaktivistin und berichtet über den täglichen
Überlebenskampf der Menschen im Gazastreifen (Vera.Macht@uni-jena.de)