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Zehn Tage unterwegs nach Gaza
Edith Lutz

 

28. Februar. Ich stehe mit zwei Koffern, vollgepackt mit Geschenken für Gaza vor dem Kairoer Flughafen. Meinen ursprünglichen Plan, hier in Kairo auf den Konvoi Viva Palestina zu stoßen, habe ich schon vor einigen Tagen aufgegeben. Die geplante Ankunft für den 2. März wird sich um einige Tage verschieben. Auch der Gedanke, hier einen Gebrauchtwagen zu kaufen, war frühzeitig wegen bürokratischer Schwierigkeiten aufgegeben worden,  wa l-hamdu li-lla, Gott sei Dank. Er sollte einem Taxifahrer aus dem Norden des Gazastreifens gebracht werden, der durch die israelischen Angriffe die Existenzgrundlage und damit das Auskommen für eine vielköpfige Großfamilie verloren hatte. Das Auto hätte ihn nicht erreicht, wie sich später zeigen wird. Auch die wärmenden Decken nicht und der Petroleumkocher. Nachts ist es um diese Jahreszeit noch kalt im Gazastreifen. Und wie so viele andere, so schläft auch Raed draußen bei den Ruinen seines zerstörten Hauses. Den Verlust geliebter Angehörige durch israelische Angriffe erlebt er zum wiederholten Male, auch darin ist er nicht der einzige.

Ich steige mit meinem Gepäck in den Shuttlebus, in der Annahme, er bringt mich ins Zentrum Kairos, aber er fährt nur Flughafenstationen an. Bei der zweiten Runde um den Flughafen werde ich misstrauisch und verlasse den Bus. Niemand der um Hilfe Angesprochenen spricht Englisch, aber ich erreiche die nahegelegene Busstation und den richtigen Bus, der mich für umgerechnet 10 Cent bis in die Innenstadt rüttelt. Von hier aus lasse ich mich mit einem Taxi zu der in schöner Lage am Nil gelegenen Jugendherberge bringen. Ich zahle auch hier nur den ägyptischen Einheitspreis von 50 Cent. Ich bin nicht als Tourist hier, das lernen die Taxifahrer schnell. Dass ich nach Gaza will, verstehen sie aber überhaupt nicht. Auch andere Menschen nicht, die mich nach dem Zweck meiner Reise fragen. Ich sehe es vielen Gesichtern an, was sie denken, meshuggah oder eher machbula, ‚verrückt’.  Nach Ägypten kommt man, um die Pyramiden zu sehen. Das werden auch die Beamten am Flughafen denken. Anders als die Israelis, fragen sie nicht nach dem Grund der Reise.

            Einen vollen Tag verbringe ich in dieser lärmenden, stinkenden Stadt, die mit ihren ständig hupenden und sich an keine Verkehrsregeln haltenden Autofahrern eher einem Autoscooter gleicht. Nur das autofreie koptische Altstadtviertel stellt eine kleine Oase dar. Hier besuche ich die Ben Ezra Synagoge aus dem 12. Jahrhundert, in der im Jahre 1890 wertvolle alte religiöse Schriften und Dokumente gefunden wurden. Nach jüdischer Tradition darf religiöses Schrifttum nicht vernichtet werden. Es wurde daher in einem eigens dafür vorgesehenen Raum, der Genisah, aufbewahrt.

            Am nächsten Morgen reise ich in einem komfortablen Bus nach Ismailia. Dort ist ein Zimmer für mich in der Jugendherberge reserviert, von der aus ich die Schiffe auf dem Suezkanal sehen kann. Ich habe fast das ganze Haus für mich alleine. Nur in der Nacht muss ich das Zimmer mit vielen Mücken teilen, die etwas größer und unangenehmer sind als die europäischen. Die Leere des Hauses ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich kein Frühstück bekomme. Aber das ägyptische Frühstück, bestehend aus Tee, Fladenbrot, Käse und einem Teller proteinreicher Bohnen entspricht ohnehin nicht meinen Frühstücksgewohnheiten. Ismailia liegt auch auf der Reiseroute des Konvois. Aber ich beschließe, nicht länger zu bleiben und stattdessen direkt nach ElArish zu fahren, der letzten größeren Stadt vor der Grenze in den Gazastreifen. Für die über 100 Kilometer lange Strecke verlangt der Fahrer des Sammeltaxis zwei Euro. In ElArish stoße ich auf Muhamad, einem englischsprachigen Taxifahrer. Er kennt auch Deutschland gut und liebt das Land, obwohl er es nie besucht hat. Er hat Geographie studiert. Muhamad bringt mich  zum Hotel Mekka, einem preiswerten, sauberen und freundlichen Hotel in Strandnähe. Am Strand hoffe ich auch noch um diese späte Vormittagszeit ein Frühstück zu bekommen. Ich stoße auf ein kleines Restaurant mit einladenden Tischen und Stühlen auf der sandigen Terrasse und erhalte ein Frühstück wie aus Tausendundeiner Nacht. Marwan, der Besitzer oder Kellner weiß noch nicht, warum ich hier bin. Als ich es ihm erzähle, macht er mich mit seinem Freund Hassan bekannt. Hassan versteht kein Englisch, er erzählt mir seine Geschichte auf hebräisch. Er kommt aus dem Gazastreifen und hatte mehrere Jahre in Israel gearbeitet. Er vermisst seine Kinder und diee ihn. Sie haben nur das Handy als Kontaktmittel. Hassan fragt mich, ob ich ein paar Sachen für seine Kinder mitnehmen könnte, etwas zum Anziehen für die Mädchen, Kleidung ist fast unerschwinglich. Er soll sie kaufen gehen, ich nehme sie mit. Und ich werde auch ein paar Fotos von seinen Kindern machen, die er schon ein paar Monate nicht mehr gesehen hat.      

Am nächsten Morgen, es ist mittlerweile der 5. März, lasse ich mich mit einem Sammeltaxi nach Rafah bringen, dem ägyptischen Rafah. Rafah ist seit 1967 eine geteilte Stadt. Es wird noch zwei Tage dauern, bis der Konvoi hier angekommen ist. Also versuche ich schon einmal, auf eigene Faust die Grenze zu passieren. Auf dem Weg dorthin halten wir an mehreren Straßensperren. An der ersten will man meinen Pass sehen. Die schwarzuniformierten Grenzpolizisten haben wohl einen Fremdkörper im Auto entdeckt. Sie besprechen sich. Ich versuche nicht drauf zu achten und gelassen zu bleiben. Sie rufen noch einen weiteren Beamten hinzu, der ein paar Brocken Englisch spricht. Warum Rafah? Ein Brief des Roten Kreuzes aus meinem Wohnort, der meine eigens für Gaza neu erworbene Mitgliedschaft bestätigt, liegt griffbereit. Der Mitgliedsausweis klebt noch auf dem Brief. Ah, eine Bewegung mit der Hand and off we go. In Rafah nehme ich ein „normales“ Taxi, das mich zur Grenze bringen soll. Der Fahrer möchte gerne einen kleinen Zwischenstopp machen. Ich verstehe seine arabischen Worte nicht, aber seine Gebärden, seine Mimik, seinen Blick, die Berührung seiner Hand verstehe ich. „La“, nein. Ein deutliches Nein. Er gibt auf, er scheint zu  fragen, was ich in Gaza wolle. Ich zücke wieder meinen Rotkreuz-Brief, aber mein Fahrer unternimmt mit großer Theatralik einen weiteren Versuch. Schluss jetzt! Meine Hand bestimmt die Richtung: Rafah border!

            Das Auto hält exakt vor dem Grenzgebäude. Ich sehe mich um, sehe eine schwarzhaarige, in Jeans gekleidete unverschleierte Frau auf mich zukommen. Ob ich hier Bescheid wüsste. Weiß ich nicht, aber gucken wir doch mal zusammen. Sie trägt einen Presseausweis, aus Amerika, Kalifornien, Hannan ist ihr Name. Ein Mann kommt auf uns zu, spricht mich auf arabisch an, die Koffer soll ich abstellen, und wir sollten uns  erst mal hinsetzen. Das haben wir aber nicht vor, Hannan spricht stattdessen die Polizisten hinter der eisernen Gittertüre an. Sie spricht arabisch, die Gittertüre öffnet sich tatsächlich, und wir sprechen mit den Grenzpolizisten im Eingangskorridor zu dem großen Grenzkomplex. Das heißt, Hannan spricht, sie wird nicht locker lassen, ihre Arabischkenntnisse helfen ihr, Beziehungen zu knüpfen. Aber ich möchte auch rein, zeige einem der Uniformierten meinen Pass. Er sieht ihn sich an. Doktora? Ja, Doktora, und zeige zur Unterstützung wieder meinen Rotkreuz-Brief. Aber keine von uns beiden hat Erfolg. Die Polizisten bitten uns zu warten. Hannan und ich setzen uns auf die Terrasse der Cafeteria, gleich nebenan. Vom Nachbartisch spricht uns jemand an. Vier oder fünf Männer sitzen zusammen um einen Tisch, Europäer. Ja, ihr auch..., wollt ihr auch..., kommt doch rüber zu uns an den Tisch. Wir stellen uns vor. Luigi ist aus Italien, ebenso Rudolfo, Mario. Alberto ist aus der Schweiz, und Chris aus Frankreich. Bist du nicht ... ah, wir kennen uns doch. Hannan hat bald keine Lust mehr an unserem Chat und geht wieder zu den Grenzpolizisten. Ich werde zu meiner ersten Patientin gerufen. Zum Glück nur ein geschwollener Insektenstich am Ohr, den mir die verschleierte Patientin verschämt zeigt. „Eis“, ich zeige auf die Seite  im Lexikon, oder Maa, kaltes Wasser.
 

 Die Terrasse hat sich mit immer mehr Leuten gefüllt, Palästinenser mit viel Gepäck, Internationale mit Taschen und Rucksäcken. Auf dem Boden vor der großen Planierraupe, die wie zur Erinnerung an Rachel Corrie hier zu stehen scheint,  hocken Beduinenfrauen und verkaufen Mandeln und Datteln. Meine neuen Bekannten haben schon gestern versucht, Einlass zu erhalten, ohne Erfolg. Es seien auch noch mehr italienische und amerikanische Ärzte, Journalisten und Aktivisten im Ort, die ebenso wie wir warten würden. Sie hätten gestern ganz lange mit dem Beamten drinnen gesprochen. Eigentlich möchte ich das auch tun, er wird doch wenigstens Englisch verstehen. Ich bitte die Polizisten, mich zu ihm durchzulassen. Aber die wollen nicht verstehen. Ich bastele mit Hilfe des Lexikons mir einen Satz zusammen. „Ich möchte Englisch sprechen. Ich möchte Ihren Chef sprechen“. Aber die jungen Polizisten lachen nur. Sie bieten mir einen Stuhl neben sich an. Aber ich will mich nicht setzen, ich will nach Gaza. Immer wieder zeige ich auf das kleine Gebäude mit dem großen lichtundurchlässigen Fenster, in dem ich den Vorgesetzen vermute. Aber sie lassen mich nicht, „er ist krank“. Und ich bin Doktora. Es nützt nichts, ich gehe. Gehe zu dem großen Fenster, wohinter ich die Person vermute, die ich brauche. Das Fenster ist einen Spalt geöffnet. Ich schiebe es vorsichtig etwas weiter auf und klopfe. Ich entdecke Hannan auf einem Stuhl sitzend. Psst. Sie zeigt auf den Boden vor ihr. Der Chef betet. Bis er zu Ende ist, habe ich das schwere Fenster noch ein bisschen weiter aufgezogen. Sir, darf ich sie etwas fragen? Er macht eine Bewegung mit der Hand, ich soll zu ihm herein kommen. Jetzt wird es sich klären! Ich will ja nur Informationen erhalten, um nicht endlos unwissend hier warten zu müssen. Er lässt mich Platz nehmen, spricht dann mit einer anderen eingetretenen Person. Hannan erklärt mir inzwischen, dass es ihm wirklich nicht gut geht. Aber er ist sehr nett, er bemüht sich. Das merke ich. Er spricht geduldig mit mir, und Hannan übersetzt. Englisch spricht auch er nicht. Und tun kann er nichts für uns, er muss seinen Anweisungen folgen. Woher kommen die Anweisungen? Vom Sicherheitsdienst. Und woher erhält der Sicherheitsdienst sie? Aus Israel. - Das Gespräch zwischen ihm und den Ärzten gestern verlief ähnlich, erzählt Chris. Ein italienisch-palästinensischer Arzt hat sehr lange mit ihm gesprochen.  Er ist sehr bemüht und mitleidend, aber desillusioniert, und traurig.

            Eine kleine Gruppe Menschen mit vielen Koffern steht am Eingangstor. Ein Polizist überprüft die Pässe. Kommen wir doch noch heute rein? Ich zeige meinen Pass vor. Der Polizist macht eine abweisende Bewegung, heute nur Palästinenser. Moment, ich habe doch meinen palästinensischen Pass dabei. Hannan kann’s nicht glauben, der Polizist auch nicht. Eine Palästinenserin, die nicht arabisch spricht? Aber der Pass ist echt. Sorgfältig prüft der Polizist Seite für Seite, geht sie zwei Mal durch, er scheint nach etwas zu suchen. Hannan übersetzt, du brauchst ein Visum. Andere kommen hinzu, machen mir Hoffnung. „In Kairo, Palästinensische Vertretung. Visum in Pass“. Ein Mitarbeiter in Zivilkleidung lädt mich ein, mit ihm zu kommen. Er fährt nach Dienstschluss nach Kairo, um vier. Aber morgen ist Freitag, muslimischer Feiertag, das wird wenig Sinn machen. Ich bitte den Herrn, mir die Adresse der Vertretung in arabischer Schrift aufzuschreiben, vielleicht werde ich sie doch noch gebrauchen können. Gegen fünf fahre ich mit einer kleinen Gruppe nach ElArish zurück. Andere übernachten in Schlafsäcken hier in Rafah an der Grenze.

            Am nächsten Morgen bringt mich das Sammeltaxi wieder nach Rafah. Der Grenzbereich ist heute sehr stark bevölkert, die Cafeteria überfüllt. Die Italiener demonstrieren vor dem Grenzgebäude mit Banderolen. Sie singen das bekannte Protestlied der Widerstandsbewegung gegen den Faschismus. Ihr Bella ciao wird in vielen Köpfen hängen bleiben. Mehr Internationals sind angekommen. Wir beschließen ein Meeting und beschlagnahmen die Cafeteria für eine große Stuhlrunde. Wir beginnen mit einer Schweigeminute und gedenken der libyschen Journalistin, die auf dem Weg zu ihrem neuen Arbeitsort, der Karawane Viva Palestina, verunglückt ist. Zwei Freunde von Viva Palestina aus England stellen ihren Blog vor, auf dem sie die Filmaufnahmen der bevorstehenden Tage in Gaza präsentieren wollen: www.theroadtogaza.org. Amal berichtet von Telefongesprächen mit den Organisatoren von Viva Palästina. Man habe aus Sicherheitsgründen vorgeschlagen, den Konvoi so schnell wie möglich hier in Rafah eintreffen zu lassen. Es sei mit Blockierungen zu rechnen. Auch wir sind hier unerwünscht. Dass es gelungen ist, sich nicht, wie üblich, vertreiben zu lassen, sondern ohne Nachtunterbrechung hier zu verweilen, ist schon ein Erfolg, betont eine andere Stimme. Und mehr Unterstützung wird gewünscht. Die Bewegung muss größer und in sich stärker werden. Ron unterstreicht die größere Bedeutung des gemeinsamen Handelns gegenüber dem individuellen Erfolg einer Erlaubnis auf Einlass. Wir sind uns darin weitgehend einig, aber, wie werden wir handeln, wenn einige Einlass erhalten, und andere nicht?

Über diese Frage gibt es noch keine Übereinstimmung, als ich die Gruppe in Richtung Internetcafe verlasse, um unsere Begegnung zu dokumentieren. Über wesentliche Änderungen wird man mich per Handy informieren. Im nahe gelegenen Rafah ist Mittagspause, ich nehme das Sammeltaxi nach ElArish und beschließe, von dort aus erst gegen Morgen zurückzukehren. Neben mir sitzt Sylvie, eine Viva Palestina-Sympathisantin aus London. Sie ist vor mir fertig und will sich mit anderen Aktivisten im Ort treffen, um nach Rafah zurückzukehren. Plötzlich steht Sylvie wieder in der Türe. Komm schnell, sie lassen uns durch! Alle? Ja, alle. Ich habe meine Zweifel, ich sehe den Grenzpolizisten vor mir, der heute Morgen die Empfehlungsschreiben einsammelte. Ich habe kein Empfehlungsschreiben meiner Regierung. Aber ich komme mit, natürlich, vielleicht stimmt es. Ich raffe meine Sachen in meinen Rucksack, bezahle die Übernachtung, vielleicht komme ich heute Abend wieder, vielleicht auch nicht, und zwänge mich in eines der beiden Taxis, die für uns bereitstehen. An den Kontrollposten hält man uns nicht mehr an, man scheint uns zu kennen. Bei ihrer ersten Ankunft wurde die italienische Gruppe noch von der Polizei bis zur Grenze eskortiert.

Ich sehe sie tatsächlich alle die eiserne Türe passieren. Schnell die Koffer holen, aus dem Hinterzimmer der Cafeteria. Halt, halt, ruft der Besitzer. Er will Geld haben, viel Geld. Das habe ich natürlich nicht. Ich habe immer nur Kleingeld im Portemonnaie. Ich weiß, dass er es annehmen wird, für ihn ist das wenige viel. Der Anorak, wo ist mein Anorak? Komm, die Italiener haben ihn schon für dich mitgenommen. Chris umarmt mich zum Abschied. Zum Abschied? Kommt er nicht mit, oder ist er überwältigt vor Freude? Nein, Chris hat keinen Einlass erhalten, Hannan auch nicht, Sylvie auch nicht. Wartet mal mit dem Taxi, ich bin mir nicht so sicher ... Der Kopf des Grenzpolizisten signalisiert nur ein Nein, als er meinen Pass sieht. Nicht diskutieren jetzt, zwecklos. In der Gruppe der Eingelassenen erkenne ich Luigi von der italienischen Gruppe. Ich rufe ihn zurück, berichte von meinem Anorak. Sag ihnen, sie sollen ihn Im Aldeira abgegeben. Aldeira ist das bekannteste und teuerste Hotel in Gaza, und es ist das einzige, das ich kenne. Wir übernachteten hier mit der Freegaza-Gruppe, nach unserem Blockadebruch im vergangenen August. Im Aldeira habe ich Ibrahim kennen gelernt, und dort wartet er jetzt auf mich: Es ist so wichtig, dass du kommst. Es ist so wichtig, dass die Menschen hier freundliche Juden kennen lernen. Viele kennen sie hier nur als unmenschliche Soldaten.

Chris und ich fahren alleine mit dem Taxi zurück nach ElArish. Die anderen „Verweigerten“ haben wir aus den Augen verloren. Wir gönnen uns ein fantastisches Abendessen am Strand. Chris ist sehr müde, er hat im Freien übernachtet, die Bomben im Tunnelbereich fallen hören, und nur wenig geschlafen. Wir sind nicht frustriert, noch nicht einmal traurig.

Für Morgen Abend wird der Konvoi erwartet. Hier sind die Chancen nicht gering, hereinzukommen. Yvonne Ridley, eine der Mitorganisatoren und Berichterstatter, hat meine geforderten Papiere erhalten, ich müsste mit auf der Liste der Teilnehmer stehen. Mein Bauch meldet einen leisen Zweifel an. Aber ich habe hier keine Telefonnummer von ihr, um zu checken, ob alles klar gegangen ist. Und sie wird jetzt, so kurz vor dem Ziel, sehr angespannt und voll beschäftigt sein. Vielleicht sollte ich doch nach Kairo fahren, mir das Visum holen, für alle Fälle. Dann weiß ich auch wenigstens für die Zukunft, ob es klappt. Für die Zukunft? Die ändert sich täglich, manchmal stündlich, je nach Laune des Sicherheitsdienstes, bzw. der israelischen Anweisungen.

Die Nacht ist sehr unruhig. Der Muezzin ruft. Es kommt mir so vor, als ob er Überstunden macht und sich  nicht an die üblichen Gebetszeiten hält. Sein Ruf konkurriert mit dem der Hähne aus dem Hühnerstall auf dem Balkon des Hauses gegenüber.

Um halb sechs stehe ich auf, begleiche meine Rechnung mit dem üblichen „bis heute Abend oder auch nicht“, und warte im Dämmerlicht auf der Straße auf ein Taxi. Um diese Uhrzeit werde ich wohl etwas warten müssen. Auf der gegenüberliegenden Seite wartet schon jemand länger als ich. Auf seiner Seite passiert ein Taxi, der Glückliche, aber das Taxi macht kehrt und kommt zu mir. Natürlich, von mir erwartet er mehr Geld. Am Busbahnhof wartet das Sammeltaxi nur noch auf mich, um vollgequetscht – wir sitzen vorne zu dritt – für vier Euro und über 200 Kilometer nach Kairo zu gelangen. Ich habe Glück. Neben wir sitzt Rabie, ‚Frühling’ auf Deutsch, und er spricht Englisch. In einem frühlingshaften Alter, das er längst hinter sich hat, hat er in Deutschland Ingenieurwesen studiert, aber die deutsche Sprache hat er verlernt. Rabie erklärt mir, wie ich am günstigsten zur palästinensischen Vertretung komme. Er wird mit mir ein Stück in der U-Bahn fahren, dann solle ich ein Taxi nehmen.

            Der Vorplatz der U-Bahnstation, an der auch unser Taxi hält, ist mit Teppichen ausgelegt. Mit Teppichen aus Unrat, Steinen und Sand. Auf diesen Müllteppichen bewegen sich Menschen rastlos, rufen zum Kauf ihrer mitgeschleppten Ware, streiten, ziehen eine Kinderschar mit sich, ein Baby im Arm. Ein Kleinkind, schmutzig, zieht barfuß im schäbigen Pullover eines Erwachsenen an mir vorüber. Die Pauschaltouristen fallen mir ein, die für teures Eintrittsgeld die Pyramiden bestaunen und von alledem hier nichts mitbekommen. Ich sehe im Vorbeigehen zum Ticketschalter, wie sich zwei starke Männer prügeln und lautstark beschimpfen. Ich kaufe die Tickets für 20 Cent und kehre zu Rabie zurück. Auf dem Boden liegt einer der Männer, verletzt, bewusstlos. Ein anderer macht die Mund-zu-Mund- Beatmung, obwohl, er atmet doch, es scheint hier öfters knockouts zu geben. Die Menge kümmert es nicht. Mein Gott, wie hässlich ist deine Welt geworden!

            Nach 22 U-Bahnstationen verlasse ich die U-Bahn und erreiche mit dem Taxi die Generalvertretung in Dokki. Man will mich nicht hereinlassen. Geschlossen? Ja, Feiertag. Aber die Türe ist nicht verriegelt, ich gehe hinein. Die Sekretärin spricht Englisch, ja, ein Visum könne ich haben, aber es ist heute niemand hier. Dass der Samstag auch ein muslimischer Feiertag ist, wusste ich nicht. Nun denn, den ganzen Weg wieder zurück. Es ist drückend stickig, der bekannte Wüstenwind weht über der dunstigen Stadt. Auch die Menschen in der U-Bahn spüren diesen Druck. Eine Bettlerin zieht hinkend durch die Reihen, Kinder versuchen, Süßigkeiten, Zeitungen oder Socken zu verkaufen. Viele Frauen sind verschleiert, nach verschieden Traditionen. Westlich gekleidet und mit offener Haartracht sind nur wenige. Im Sammeltaxi nach ElArish sitzt eine junge ganz verschleierte Frau neben mir, nur die Brille sieht aus dem Stoff hervor. Sie verbreitet einen angenehmen Parfumduft im Taxi. Das Trinken aus der Wasserflasche ist mit dem Gesichtsschleier nicht so einfach, das Telefonieren mit dem Handy auch nicht. Wir müssen die Fenster schließen, ein Sandsturm kommt auf. Mitunter ist die Straße kaum zu sehen, wie Schneeverwehungen. Der Fahrer stöhnt, aber muss er ausgerechnet jetzt in der stickigen Luft rauchen? Die verschleierte Frau murmelt unablässig etwas in ihren Schleier, das sich vielleicht wie ein „o je o je“ übersetzen lässt. Ich betaste meine sandig verklebten Haare, vielleicht würde ich hier auch lieber einen Schleier tragen. Hundert Kilometer vor ElArish werden wir umgeleitet über kleinere Wüstenstraßen. Die große Straße ist mit Straßensperren und Polizisten blockiert. Der Konvoi! Ich beginne etwas nervös zu werden. Ich muss noch vor dem Konvoi ElArish erreichen, ich will ja mit ihnen nach Gaza.

            Das Sammeltaxi setzt mich direkt am Hotel ab. Ich bin sehr angespannt und unruhig. Ich wünsche mir sehnlichst einen Kaffee und dabei einen Menschen, der mir in Ruhe berichten kann, was in meiner Abwesenheit geschehen ist.  In der Lobby stoße ich auf Sylvie und Chris, die den Tag heute zusammen verbracht haben. Sylvie ist sehr ruhig, aber sie muss sich auf ihre Abreise konzentrieren. Für Chris,  von Natur aus mit einer höheren Voltzahl ausgestattet,  ist meine Unruhe schwer zu ertragen. Erst als wir drei vor dem Restaurant auf den Straßenstühlen sitzen, kehrt etwas Ruhe ein. Die Straße ist geschmückt mit beschrifteten Banderolen und Flaggen als Willkommensgruß für den Konvoi. Der gegenüberliegende Parkplatz füllt sich mit Polizisten, einige haben mit Schutzschild an der Einfahrt Position bezogen. Wir werden hier genau richtig sitzen. Polizeiwagen fahren an uns vorbei, immer mehr Menschen füllen die Straße, hier und da Reporter mit Kamera oder größerem Aufnahmegerät. Ein Kameraduo einer französischen Sendeanstalt gesellt sich zu uns an den Tisch. Sie machen auch Aufnahmen von uns. Mit meinen schlechten Französischkenntnissen kann ich nicht mehr als meinen Namen und meinen Herkunftsort sagen. Es herrscht eine freudige Spannung auf der Straße. Bald hört man den ersten Wagen hupen, ein Lastwagen aus Libyen, beladen mit Hilfsgütern der Ghaddafi-Stiftung, die Aufschrift verrät es. Er wird von den Polizisten mit Verkehrsfahnen in den Parkplatz angewiesen. Mehrere Lastwagen folgen mit unaufhörlichen Hupkonzerten, andere werden aufgefordert weiterzufahren, zu einem anderen Sammelort. Autos, Lastwagen verschiedener Größen und Aufschriften begrüßen die Menschen mit Hupen, Sirenen am Straßenrand. Gegenseitiges Winken, Zurufen, Applaudieren. An jedem Gefährt Aufschriften und die palästinensischen Flagge. Und „Von Kindern aus Manchester für Kinder in Gaza“. „Von Kindern aus ... für Kinder in Gaza“. Erschöpfte und glückliche Gesichter hinter den Windschutzscheiben. Ein Feuerwehrauto, ein Fischerboot, über 200 Kraftfahrzeuge defilieren an uns vorbei. Wir sitzen noch lange auf der Straße. Sylvie fährt gegen Mitternacht mit den französischen Kameraleuten nach Kairo zum Flughafen. Fahrer des Konvois gesellen sich zu uns. Patrick erzählt von den Anstrengungen. Manchmal habe man nur drei Stunden nachts schlafen können. Die Beifahrer mussten immer aufpassen, das der Fahrer nicht einschlief und gelegentlich mitsteuern. Für uns wird es jetzt Zeit zum Schlafen, denn wir wollen morgen früh mit nach Gaza.

            Am Frühstückstisch lernen wir eine Gruppe spanischer Journalisten und Aktivisten kennen. Ich freue mich, Alberto kennen zu lernen. Alberto ist kurz vor Ausbruch der israelischen Bombardierungen im Dezember mit einem Freegaza-Boot nach Gaza gekommen. Seine Filmaufnahmen werden in Kürze auf der Homepage www.freegaza.org zu sehen sein. Und da ist Julio von der Bewegung Paz Ahora mit einigen weiteren Mitgliedern. Cristina und ich wollen in Gaza einmal Debka und Flamenco tanzen. Julio hat in Madrid die Unterkunft für die Viva Palestina-Fahrer organisiert. Hier in ElArish organisiert er für uns die Taxifahrt zur Pressekonferenz. Wir fahren zunächst zum Hotel, in dem George Galloway, der britische Unterhausabgeordnete untergebracht ist. Yvonne sehe ich immer noch nicht, aber da ist Lauren Booth, die englische Journalistin, meine Zimmernachbarin in Zypern und Mitfahrerin nach Gaza auf unserer ersten Freegaza-Reise. Mit ihrem Schwager Tony Blair hat sie wenig Ansichten gemein. Lauren und ich freuen uns riesig, uns wiederzusehen, und dass der Konvoi es bis hierhin geschafft hat. Julio organisiert die Fahrt zum Pressehaus so, dass unser Taxi zwischen zwei Konvoifahrern hohen Ranges fährt. Im hinteren Wagen sitzt Galloway. Wir folgen ihm in das Gebäude, vermutlich ein Verwaltungs- oder Repräsentantenhaus. Von hier aus wird Galloway in das große Festzelt geführt. Wir folgen ihm wie die Paparazzi. Meine kleine Digitalkamera sieht nicht nach Presse aus, ich mache sie mit meiner kleinen Videokamera und den zwei Hüllen etwas bedeutsamer. In dem mit Teppichen, Tüchern, Lampen, Lichter- und Perlenketten geschmückten Zelt – ein Zeichen der Ehre – sitzen bereits rund tausend Menschen. Reden werden gehalten, auf arabisch, wir klatschen brav mit. Galloway spricht auf Englisch Worte des Danks. „In einer Stunde werden wir alle in Gaza sein.“

            Wir fahren in der gleichen Anordnung nach Rafah weiter. An den Kontrollposten geben wir uns alle sehr wichtig. Ich drücke mein Handy ans Ohr. Hinter der Windschutzscheibe die professionelle Kamera von Alberto.

            Angekommen. Ich bitte Cristina, dass sie die Koffer trägt, sie könnten mich verraten. Eine unnötige Vorkehrung, merke ich in der Menge der Umherstehenden. Galloway passiert in einem Wagen das Grenztor, das für ihn geöffnet wurde. Als Erster fährt er? Ist das nicht ein Fehler? Wir stellen uns an, um passieren zu können. Diejenigen, die diese Übung schon von den Vortagen kennen, setzen sich bald schon in die Cafeteria, andere stehen zwei Stunden, drei Stunden, vier Stunden. Da muss etwas schief gelaufen sein. Julio gelingt es nicht, Kontakt zu Galloway oder Viva Palestina-Organisatoren zu bekommen. Ich bedauere sehr, dass ich keine Telefonnummer von Yvonne habe. Da kommt ein Lastwagen, gefolgt von zwei, drei weiteren, waren wir zu ungeduldig? Es sind die libyschen Laster, es folgen noch einige mehr. Alle dürfen nach kurzer Wartezeit unter freudigem Beifall passieren. Dann kommt kein Fahrzeug mehr. Was ist passiert, haben die am Eingangstor Stehenden vielleicht mehr mitbekommen? Galloway ist zurückgekommen, mehr ist nicht bekannt. Nach weiteren Stunden sickert durch, dass der Konvoi getrennt wurde. Nicht allen Fahrzeugen soll Erlaubnis gegeben werden, zu passieren. Chris und ich beschließen, nach ElArish zurückzukehren, um mehr Informationen einzuholen. Mein Gepäck nehme ich diesmal mit. Einen Koffer lasse ich hier. Maha, die freundliche Palästinenserin aus Gaza-Rafah, direkt hinter der Grenze, wird einen Blick drauf werfen. Wenn es ihr gelingt, hineinzukommen, wird sie ihn mitnehmen, ansonsten bleibt er seinem Schicksal überlassen. Den anderen Koffer und zwei Bündel werde ich in AlArish unterbringen. Maha hat vor 16 Monaten den Gazastreifen verlassen und ist seit dieser Zeit nicht wieder reingekommen. Sie hat vorübergehend Aufnahme in Kairo gefunden.

            Und wieder quartieren wir uns ins Hotel ein. Chris will direkt ins Internetcafé gehen, um die Nachrichten auf der Viva Palestina-Homepage zu lesen. Ich will ihm gleich folgen, bringe meine Gepäckstücke ins Zimmer. Mir kommt der Gedanke, vorher kurz zu dem Parkplatz hinüberzulaufen, vielleicht kann ich Mitteilungen erfragen, die wir direkt mailen können. Ich finde etliche Lastwagen auf dem Platz. Ein Fahrer berichtet, dass sie umgekehrt sind, weil man nicht den ganzen Konvoi passieren lassen wollte. Nur einige libysche Fahrzeuge mit medizinischen Hilfsgütern sind durchgekommen. Ich frage nach Yvonne, sie ist wenige Meter weiter auf einem anderen Parkplatz. Dort sehe ich Galloway auf einem Podium stehen, er scheint gerade eine Rede beendet zu haben. In seiner Nähe, unter der Menschenmenge, finde ich Yvonne. Es hat lange Verhandlungen gegeben, sagt sie, wir kommen durch, alle, aber nur mit britischem Pass.

            Im Internetcafé treffe ich einen traurigen Besitzer an. Kein Internet heute. Ich eile zum Hotel. In der Lobby wartet Chris schon auf mich, etwas böse. Du weißt, was ein Internetcafé ist? Ja, ich wollte dir dorthin Nachrichten überbringen. Es gibt heute kein Internet! Ich erkenne, warum. Auch bei unserem Blockadebruch auf See war die Nachrichtenübermittlung gestört.

            Eine italienische Gruppe ist aus Gaza zurückgekommen. Sie holen im Hotel ihre Sachen ab und nehmen uns mit nach Kairo. Alberto und Chris kennen sich noch von 2005. Damals waren sie gemeinsam in einer Karawane nach Palästina unterwegs. Albertos Gruppe hat nach zwei Tagen Wartezeit Einlass nach Gaza erhalten. Da die Rückflüge gebucht waren, konnten sie sich nur einen Tag in Gaza aufhalten. Alberto hätte länger bleiben können. Er musste in Gaza auch wieder zwei Tage auf den Durchlass warten und hat dadurch seinen Flug verpasst.

            Ein paar Stunden verbringe ich in einem Bett der Jugendherberge. Dann lasse ich mich von einem Taxi zum Generalkonsulat bringen. Das will ich doch wenigstens noch erfahren, ob denn die Möglichkeit bestünde ... Das Tor ist verschlossen. Ich spreche Passanten an, bis ich jemanden finde, der Englisch spricht: Der Geburtstag Muhammads. Feiertag!

            Carpe Diem, suche dir ein einigermaßen ruhiges Sonnenfleckchen. Immerhin, der Konvoi hat’s geschafft! Vorher will ich aber noch ins Internetcafé, um Freunden in Gaza mitzuteilen, dass ich nun doch nicht kommen kann. Und einen Brief schreibe ich an Yvonne. Ich bitte sie, in einer öffentlichen Rede, die sie gewiss halten wird,  den Menschen in Gaza mitzuteilen, dass überall auf der Welt auch Juden gegen die israelische Politik protestieren. Sage den Menschen im Namen der „Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost“: Wir fühlen mit den Palästinensern!

Am nächsten Morgen weckt mich der Gesang der Vögel. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich zehn Tage lang keinen einzigen Vogel singen hörte. Der neue Tag  begrüßt mich mit einem arabischen „Guten Morgen“, sabahu l-chayr, ‚Morgen des Wohls’. Und ich antworte nach arabischer Sitte mit sabahu n-nur, ‚Morgen des Lichts’.

Dr. Edith Lutz

www.abrahams-toechter.org

 

 

 

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