Zur
Verantwortung für die Gemeinschaft mit Mitmenschen aufgefordert
Hannah Arendts Freiheitsideal
als Grundlage für die politische Gleichstellung von Ungleichen
Von Mohammed
Khallouk
Unentwegter Einsatz
für zivile Gleichberechtigung von Unterprivilegierten
Die politische Philosophin und
Theoretikerin Hannah Arendt (1906-1975) tritt für einen
Politikbegriff ein, bei dem das gemeinschaftliche Kollektiv im
Mittelpunkt steht, zugleich aber Verantwortung in erster Linie dem
Individuum zuwächst. Indem sie jegliche metaphysische Rechtfertigung
für menschliches, insbesondere als „Politisch“ gewertetes Handeln
zurückweist, wird der Einsatz für die Rechte und Freiheiten der
Mitmenschen aus dem Anspruch des Subjekts auf Selbstbestimmung
heraus motiviert. In fast jeder politischen Gemeinschaft - zumal auf
der universellen Ebene – kommen Ungleiche, sich aufgrund ihrer
Religion, Ethnie, des Geschlechts oder der gesellschaftlichen
Schichtzugehörigkeit Divergierende zusammen. Die Forderung Arendts
richtet sich nach gleichen Rechten und Freiheitsansprüchen folglich
immer auch an Angehörige einer anderen Kategorie als man selbst.
Ideologien, die eine bestimmte Rasse, Religion, Weltanschauung oder
Kultur gegenüber den Anderen für prädestiniert erachten, erfahren
scharfen Widerspruch. Als Repräsentantin der jüdischen Minorität und
auf akademische Ausbildung fixierte Frau benötigte Arendt bereits in
ihrer Jugend für ihre berechtigten Ansprüche in einer von
christlichen Männern dominierten deutschen Gesellschaft ein
kämpferisches Durchsetzungsvermögen. Zwar demonstriert ihre
Biographie einerseits, dass dieser Kampf um gesellschaftliche
Anerkennung und Gleichberechtigung mit Ausdauer und Unterstützung
Dritter zum Erfolg führen kann - immerhin hat sie es bis zur
anerkannten amerikanischen Hochschulprofessorin gebracht -.
Zugleich hat die Erfahrung des zeitweiligen ausgegrenzt und
ausgeschlossen seins bei Arendt eine besondere Sensibilität für
Minoritäten und aufgrund ihrer Andersheit von der Gesellschaft an
den Rand Gedrängte entstehen lassen.
Politisches Selbstbestimmungsrecht
statt Auserwähltheitsanspruch
Arendts frühzeitige Sympathie für den
Zionismus erklärt sich nicht zuletzt aus dem Bewusstsein eines
Judentums, dem über Jahrhunderte hinweg in einer nichtjüdisch
dominierten Welt ein Sonderstatus zugewiesen worden ist. Diesem
stehe nun ein eigenes staatliches Selbstbestimmungsrecht zu. Die
erzwungene Flucht vor einem in diesem Fall gegen die Juden
gerichteten deutschen Vorsehungsglaube hat sie jedoch daran
gehindert, einem politisch instrumentalisierten jüdischen
Auserwähltheitsstatus zuzustimmen. Das Erleben, wie eine totalitäre
Ideologie sich so tief in ein Kollektivbewusstsein hineinpflanzen
kann, dass selbst besonnene, mit Beobachtungs- ebenso wie
Erkenntnisgabe ausgestattete Charaktere wie Martin Heidegger und
Karl Jaspers sich dieser nicht zu entziehen wussten, hat bei Arendt
ein Grundmisstrauen gegenüber jeglichen Ideologien entstehen lassen.
Ihre Skepsis richtete sich besonders gegen Ideologien, die einer
bestimmten, dem Ideal entsprechenden Elite historisch legitimiert
privilegierte Besitzansprüche versprechen. Vor diesem Hintergrund
prangerte sie bereits die menschenverachtenden Methoden wie Landraub
und Vertreibung an, die der israelischen Staatsgründung von 1947
vorausgingen. Vielmehr plädierte Arendt als eine der ersten
Intellektuellen jüdischer Abstammung für das eigenständige
politische Souveränitätsrecht der Palästinenser. Zwar lag ihr die
von der heutigen palästinensischen Führung propagierte
palästinensische Eigenstaatlichkeit seinerzeit noch fern, mit ihrer
Idee einer palästinischen Konföderation bestehend aus einem
israelischen und palästinensischen Teilstaat stellte sie sich dem
historisch religiös gerechtfertigten Alleinanspruch radikaler
Zionisten wie Menachem Begin auf dieses Land eindeutig entgegen.
Hierfür sah sie sich in Israel gelegentlich als „Antizionistin“
stigmatisiert.
Freiheit im Sinne des Anderen oder
Abwesenheit von Zwang?
Von Arendts allgemeinem
Politikverständnis her erscheint ihr frühzeitiges Eintreten für eine
politische Gleichberechtigung der Palästinenser gegenüber
israelischen Juden allerdings wenig zu verwundern, da sie jeglicher
historischen und religiösen Legitimation für politisches Handeln,
als „unpolitisch“ charakterisiert, skeptisch gegenüberstand. Ein
„jüdischer Auserwähltheitsglaube“ als politisch-ethisches Fundament
konnte in ihren Augen kaum weniger gemeinschaftszerstörend wirken
als die Vorsehungsideologie des Nationalsozialismus oder der
Geschichtsdeterminismus des Stalinismus. Für politisches Handeln
dürfe nur das Leben in einem aus heterogenen Mitgliedern bestehenden
politischen Gemeinwesen die Maßgabe darstellen. Ihr „jüdischer“
Anspruch auf nationale Selbstbestimmung bedingte somit vielmehr
gleichzeitig das bewusste Engagement für die nationalen Ansprüche
der nichtjüdischen Völker. Als Verehrerin von Rosa Luxemburg war für
Hannah Arendt Freiheit in erster Linie die „Freiheit des Anderen“
und ging mit einer Verpflichtung gegenüber den Mitmenschen einher.
Der rein auf das Subjekt bezogene, als „Abwesenheit von Zwang“
gedeutete Freiheitsbegriff der europäischen Neuzeit erschien ihr als
reduziert und letztlich als Missverständnis des Aufklärungsideals
von Immanuel Kant. Erst indem man sich permanent für die
Freiheitsrechte der ungleichen Mitbürger einsetzt, erfährt der Kampf
für politische Gleichberechtigung seine Legitimität. Dieses
politische Engagement kann erst in einem Kontext gefördert werden,
in dem unpolitische, metaphysische Begründungen für menschliches
Handeln keine Akzeptanz erfahren. Es bleibt unentwegt gefordert, da
man sich permanent mit Mitmenschen konfrontiert sieht, die nicht
oder noch nicht über die gleichen Chancen und Rechte in der
Gemeinschaft verfügen wie das eigene Subjekt. Die Durchsetzung des
nationalen Selbstbestimmungsrechts für die Juden mit der
Staatsgründung Israels lenkte für Arendt daher die Aufmerksamkeit
auf die noch nicht realisierte Volkssouveränität der Palästinenser,
die jenen mit dem Verweis auf einen jüdisch-zionistischen
Auserwähltheitsstatus nicht vorenthalten werden durfte und darf.
Verantwortung als bestimmtes
Kollektiv oder kollektive Verantwortung?
Der Politikbegriff Hannah Arendts kennt
Verantwortung nur als „Verantwortung des Individuums“, das sein
Handeln (oder Nicht-Handeln) nicht hinter einem Kollektiv verbergen
darf. Vor diesem Hintergrund stand sie dem von anderen jüdischen
Opfern der NS-Politik in der Nachkriegszeit vertretenen
Kollektivschuldgedanken ablehnend gegenüber. Aus dem Deutschtum und
der „deutschen“ Geschichte heraus leitet sie keine besondere
Verpflichtung gegenüber Juden oder anderen Leidtragenden des
deutschen Totalitarismus ab. Jeder ist nur für seine individuell
begangene Schuld verantwortlich, zugleich aber zu einem permanenten
Beitrag aufgefordert, damit in der Zukunft keine erneute totale, auf
Exklusivität einer künstlich herangezogenen Elite beruhende
Herrschaft sich entwickelt. Arendts Verantwortungsverständnis ist
gegenwarts- und zukunftsbezogen. Es beinhaltet den unentwegten
Einsatz des Einzelnen für die politische Freiheit des Kollektivs
sowie gleiche politische und zivile Rechte der gesamten
Gemeinschaft. Keiner kann sich mit dem Verweis auf eine von der
Geschichte oder der Religion ihm zugewiesene Rolle dieser
individuellen, an das Kollektiv gerichteten politischen
Verantwortung entziehen. Wenn dieser von Hannah Arendt propagierte
Politik- und Freiheitsbegriff den Maßstab für die künftige Politik
von Bürgern, Staaten und Regierungen darstellt, ist die Grundlage
für ein Miteinander von verschiedenen Religionen und Kulturen in
einem Gemeinwesen und darüber hinaus auf internationaler Ebene
vorgegeben. Religiös gerechtfertigte Verweigerung politischer
Reformen findet weder im jüdisch-christlich geprägten Westen noch in
der islamischen Welt ihre Akzeptanz und religiöse wie säkulare
Exklusivansprüche können auf keinerlei Resonanz mehr treffen.
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