Aus Gaza :
Lama, eine sozial engagierte Palästinenserin erzählt von sich (
2.8.06)
Seit meiner Geburt
bin ich Zeuge solch schrecklicher Dinge, sodass ich glaubte, keine
Tränen mehr zum Weinen zu haben. Ich bin ein palästinensischer
Flüchtling und wurde 1965 in Syrien geboren. So viele schreckliche Dinge
sind seitdem geschehen.
!967 Krieg: obwohl
ich erst zwei Jahre alt war, haben die Reaktionen meiner Eltern etwas in
meiner Person hinterlassen.
Schwarzer September
1970 in Jordanien. Ich war 5 Jahre alt. Aber ich erinnere mich noch
genau an die sorgenvollen Gesichter meiner Eltern.
Oktober 1973: der
Krieg zwischen Syrien, Ägypten und Israel. Ich erinnere mich noch fast
an alle Details des Krieges, die israelischen Luftangriffe; meine
Schule, die wir als Luftschutzraum benützten, trotz der vielen Fenster,
die sie hatte; wie manche Leute glücklich über die Befreiung mancher
Gebiete in Syrien und Ägypten waren und meine Angst vor den anhaltenden
Luftangriffen.
Dann der Bürgerkrieg
im Libanon Mitte der 70er-Jahre und alles, was damit zusammen hängt.
Die Invasion Israels
in den Süden des Libanon 1978.
!980 und 81 lebte
ich in Beirut: der tägliche Stress des Bürgerkriegs und der israelischen
Angriffe und Flüge, die die Schallmauer durchbrachen – und das
wenigstens drei mal am Tag. 1981 der Luftangriff auf Al Fakhani in
Beirut und die vielen Autobomben.
1982 der
schreckliche israelische Krieg gegen den Libanon und die Belagerung
Beiruts. Ich lebte unter der Belagerung als Freiwillige in der zivilen
Verteidigung. Ich erinnere mich an alles, dessen ich Zeuge wurde: die
Luftangriffe, die Geschosse der Artillerie bis zu den Angriffen vom Meer
her und die Angriffe der Apachen-Hubschrauber; auch an die Ambulanzen,
in denen ich mich um die Verwundeten kümmerte.
Ich erinnere mich an
die, die getötet wurden und die Verletzten unter den Trümmern, die nicht
gerettet werden konnten, die Flüchtlinge, den Nahrungsmangel, den Mangel
an Wasser, Strom, Brennmaterial und Medikamenten ...
Während der 1.
Intifada war ich im Ausland. Ich demonstrierte in den Straßen Europas,
und flehte um Schutz für die Palästinenser und die Erfüllung der
UN-Resolutionen und um ein Ende der Besatzung und ein freies Palästina.
Die 2. Intifada
erlebte ich in Palästina. Jede nur erdenkliche Waffe wird von den
Israelis gegen die zivile palästinensische Bevölkerung benützt.
Die Militärinvasion
Israels in die Westbank 2002: Meine Schwester und ihre Familie waren
mit meinem Vater unter Belagerung. Sie war gerade erst ein paar Tage
zuvor nach Ramallah gekommen und mein Vater wollte ein paar Wochen mit
ihr und ihrer Familie zusammen sein.
Die fortwährenden
Kriegsverbrechen, die von Israelis seit 1994 im Gazastreifen und in
der Westbank begangen worden sind, seitdem ich wieder in Palästina bin.
Ich dachte, ich wäre
inzwischen von allem Zeuge geworden und dass mich nichts mehr
erschrecken oder zum Weinen bringen könnte, weil ich schon das
Schlimmste gesehen habe.
D.h. bis zu diesem
Morgen, wo wir ein Sit-in vor dem UNSCO-Gebäude in Gazastadt
vorbereiteten – aus Solidarität mit dem libanesischen Volk: wir sahen
live einen Bericht des Massakers in Qana. Tatsächlich war es das 2.
Massaker, das bewusst von Israel gegen unschuldige Zivilisten, vor allem
gegen Kinder, Frauen und Alte begangen wurde (April 1996 war das
erste, als Shimon Peres Ministerpräsident war. Damals sind 100
libanesische Flüchtlinge durch einen Luftangriff auf das UNIFIL-Gebäude
getötet worden. )
Ich empfinde
Antipathie und Wut nicht nur gegen Israel, sondern auch gegen die
internationale Gemeinschaft. Wir Palästinenser sind Zeugen von Israels
Verbrechen gegen die Menschheit seit seiner Gründung 1948 geworden . Wir
glauben an internationale Rechtmäßigkeit, an das Völkerrecht, an die
UNO-Resolutionen. Trotz alledem sind wir die Opfer eines terroristischen
Staates, der nichts anderes tut, als ständig unschuldige Zivilisten
anzugreifen – und dies systematisch im Namen der Selbstverteidigung.
Ist es
Selbstverteidigung , wenn Babys, Kinder und alte, behinderte Menschen
täglich getötet werden – im Libanon und in den besetzten
palästinensischen Gebieten?
Warum schweigen die
UN und die EU. Sie sollten die Schützer der Demokratie und der
Menschenrechte sein. Ich weiß, warum die israelische und die
US-Regierungen und die Mehrheit der Israelis schweigen. Sie sind die
Aggressoren. Sie haben uns und unsere Kinder nie als menschliche Wesen
angesehen. Aber wie ist es mit den andern, die behaupten, zivilisiert zu
sein und die uns zeigen wollen, wie man demokratisch und zivilisiert
lebt und wie „man den andern annimmt“.
Wenn das eure
Zivilisation und eure Demokratie ist, dann will ich kein Teil davon
sein – und dann will auch mein Volk nicht „demokratisch und zivilisiert“
sein. Dann will ich lieber eine „Primitive“ sein als ein demokratischer
und zivilisierter Killer von Kindern und Babys.
Ich ,die Primitive,
sorge mich um unschuldige, einfältige Menschen, egal welche Religion
oder Nationalität sie haben.
Ich , die Primitive,
bin demokratischer als andere in der Welt, die zusehen, was in der Welt
passiert und nichts tun. Im Gegenteil: sie entschuldigen Israel und
geben ihm noch mehr Zeit, um noch mehr unschuldige Menschen zu töten und
ein ganzes Land zu zerstören.
Es mag egoistisch
klingen, aber ich glaube, ein Recht zu haben so zu sein, weil ich eine
Primitive bin, die all die Schrecken durchgemacht hat, die ich hier
erwähnte, die deshalb nicht zusammengebrochen ist und ihre
Menschlichkeit nicht verloren hat. Ich weine noch immer, wenn ich ein
Kind, irgend ein (verletztes) Kind schreien sehe, weil die politischen
Führer einen Fehler gemacht haben – egal ob es ein israelisches, ein
palästinensisches oder libanesisches Kind ist.
Aber glaubt mir,
diese Kinder sind wirklich nicht gleich. Ich kann es nicht akzeptieren,
dass das Leiden die Kinder gleich macht . Nicht wir greifen an, wir
bitten auch nicht unsere Kinder darum, dass sie Botschaften als
besondere Geschenke auf Bomben schreiben, die für libanesische Kinder
sind .
Ich bin eine
Primitive, aber ich erziehe meinen vierjährigen Sohn nach dem Prinzip:
Liebe deinen Nächsten und respektiere seine Bedürfnisse – trotz seiner
Angst vor den Raketen, vor den F-16-Bombern und den Bombardements, die
er täglich erleben muss. Obwohl ich nicht sicher weiß, ob er seinen 4.
Geburtstag am 21. August noch leben wird.
Ja, ich bin stolz
eine palästinensische Mutter zu sein, die das Leiden ihres Volkes und
das der anderen empfindet.
Ich glaube noch
immer an die Menschlichkeit und an eine Zukunft meines Kindes, meinen
Mann, mein Volk und mir selbst und die andern um mich herum,
einschließlich unserer „zivilisierten“ Nachbarn, der Israelis.
Ja, ich habe
entdeckt, dass ich noch immer Tränen habe und dass ich weinen und
schreien kann ... Stoppt den Wahnsinn Israels und der USA. Sie werden
die ganze Region in eine Katastrophe stürzen.
Lama
(dt.
Ellen Rohlfs) |