Das Judentum wird von
Israel für seine Expansionszwecke missbraucht
Prof. Rolf Verleger nimmt kein Blatt vor den Mund
Am 1. März 2008 hat Prof.
Verleger, Direktoriumsmitglied im Zentralrat der Juden in
Deutschland, in der evangelischen Akademie Hofgeismar einen
Vortrag über das Thema „Zionismus und Judentum“ gehalten. Hakam
Abdel-Hadi führte mit ihm anschließend folgendes Interview:
Frage: Herr Prof.
Verleger, Sie sind ein Deutscher und bekennender Jude. Israel
erhebt den Anspruch, das Zentrum des Judentums zu sein. Sehen
Sie einen Widerspruch zwischen der Politik Israels und der Ethik
des Judentums?
Antwort: Das sind nicht
automatisch dieselben Dinge. Jude-Sein, das ist meine Heimat.
Als Jude bin ich geboren. Im Judentum und in den jüdischen
Traditionen bin ich aufgewachsen. Meine räumliche Heimat ist
Deutschland. Da gibt es halt den Staat Israel; der ist das
wichtige gemeinsame Projekt des Judentums und beansprucht für
das Judentum als Ganzes zu sprechen, sodass wir als Juden in
Deutschland auch in die Verantwortung dafür genommen werden.
Israel ist also nicht meine Heimat und nicht Teil meiner
Identität, sondern unser Projekt und mir passt nicht die
Richtung, in die dieses Projekt läuft. Das Judentum ist eine
Religion, die das tägliche Leben regelt. Darüber haben viele
Weisen des Judentums nachgedacht und als Grundregel heraus
destilliert, dass was man gerne als Grundregel des Christentums
annimmt, nämlich: Liebe deinen nächsten wie dich selbst. Israel
beansprucht ja im jüdischen Namen, für die jüdische Religion zu
sprechen. So wird die jüdische Religion eine Ideologie für
Landnahme, für Blut und Boden. Das spitzt sich auch in
alltäglichen Dingen zu. Ich war beispielsweise in Israel bei
meiner Kusine zum Pessach-Abend, Pessach ist das Fest der
Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten, und an diesem Abend
sollen sich alle Menschen, die den Pessach feiern, frei fühlen,
frei für die Ausübung der jüdischen Religion. Für meine Cousine
und meinen Cousin war aber Pessach nicht mehr das Fest der
Befreiung, sondern das Fest der Volkwerdung. Hier wird die ganze
Religion umgedeutet in eine nationalistische Ideologie, die zu
nichts anderem mehr da war als zur Begründung, dass jetzt diese
Verrückten (Siedler) in Hebron und Herren über die Araber sein
müssen. Das kann es nicht sein, und das ist nicht meine
Ideologie und Heimat, und es macht mich wütend, wenn das das
Judentum sein soll. Dagegen wehre ich mich.
Frage: Kehren wir zu
Deutschland zurück: Zwischen Ihnen und dem Zentralrat der Juden
gibt es einen Disput. Worin liegen die Meinungsunterschiede?
Antwort: Im Juni/Juli
2006 ist der Libanon-Krieg als Folge der ganzen Situation im
Nahen Osten ausgebrochen: der Behandlung des Gazastreifens durch
Israel, der Entführung eines israelischen Soldaten und des
anschließenden Einmarschs der israelischen Armee in den Libanon.
Durch diesen Einmarsch wurden 500 Menschen getötet. Darüber
hinaus wurde die ganze Infrastruktur zerstört. Daraufhin hat
dieser Herr Nassralla, die Hisbollah im Libanon, sich als Retter
der bedrängten Leute in Gaza aufgespielt und diesen bekannten
Zwischenfall inszeniert. Daraufhin hat Israel in
unverhältnismäßiger Weise diesen Krieg begonnen. Das war eine
sinnlose Eskalation, und als ein Mitglied der deutschen
Regierung, Frau Heidemarie Wieczorek-Zeul, gewagt hatte, das zu
kritisieren, sind Vertreter des Zentralrats ihr in der
Öffentlichkeit über den Mund gefahren und haben sich gegen
solche Kritik an Israels Politik verwahrt und das antisemitisch
genannt, oder zumindest unterstellt, dass das antisemitisch sein
könnte. Das war mir zu viel. Das habe ich nicht ausgehalten.
Daraufhin habe ich meine Meinung kundgetan, dass der
Libanon-Krieg falsch ist, dass Kritik an diesem Libanon-Krieg
berechtigt ist, und dass es richtig ist, solche Kritik auch zu
äußern, und dass dies mit Antisemitismus nichts zu tun hat,
sondern dass vielmehr die Werte des Judentums darin bestehen, zu
versuchen, das Zusammenleben unter den Menschen gedeihlich zu
gestalten, anstatt einer Blut- und Bodenideologie zu
konstruieren. Konkret: ich habe diesen Brief an den Zentralrat
der Juden geschrieben, und als daraufhin zwei Wochen lang nicht
passierte und der Krieg weiterhin tobte, habe ich den Brief
veröffentlicht. Für meine Verhältnisse gab es dann ja ein
beachtliches Medienecho.
Frage: Ihre Familie hat
in Deutschland und Europa während der Naziherrschaft Schlimmes
erlebt; ziehen Sie Parallelen zu dem, was die Palästinenser
unter der israelischen Besatzung erleiden müssen?
Antwort: Juden und
Nicht-Juden ziehen automatisch Parallelen, die natürlich
unsinnig sind. In Israel findet ja kein Massenmord an der
palästinensischen Bevölkerung statt, und sämtliche Vergleiche
mit Hitler-Deutschland sind falsch. Man könnte der Sache näher
kommen, in dem man versucht, mit Serbien und Bosnien zu
vergleichen. Da gab es in den 90-er Jahren ethnische
Säuberungen, auch Massaker, wahrscheinlich schlimmer als in
Palästina, aber das ist ein ähnliches Kaliber. Es geht um einen
Streit um ein Stück Land; das wollen die Serben haben. Die einen
wollen die Kroaten nicht drauf haben, und beide wollen die
Bosnier nicht da haben, und so ähnlich in Israel: Israel möchte
expandieren und die Palästinenser los werden, berechtigt oder
unberechtigt. Die Palästinenser wehren sich dagegen, und keiner
will nachgeben. Ich mit meinem deutsch-jüdischen Tunnelblick
denke natürlich: Da werden Leute diskriminiert sowie meine
Eltern diskriminiert wurden. Das darf sich nicht wiederholen.
Das ist unsere Schablone, darüber nachzudenken. Das ist etwas
anderes, aber gegen Unrecht kämpfen, dass wir diese Lehre aus
der Nazizeit ziehen, das ist ja allemal richtig.
Frage: Und wie bewerten
Sie die dramatische Lage im Gaza-Streifen, die Blockade und ihre
schrecklichen Folgen für 1,5 Million Menschen?
Antwort: Man zieht den
Vergleich natürlich mit der deutschen Einkesselung von St.
Petersburg. Das fehlt einem natürlich ein. Ganz so ist es nicht.
Man kriegt ja noch Nahrungsmittel nach Gaza, und irgendwie
können auch mal im Zweifelsfall Leute doch rein und raus.
Vielleicht ist die Lage auch vergleichbar mit der Einkesselung
von Sarajewo durch die serbische Armee. Es ist zwar auch etwas
anderes, aber es sind schon ähnliche Dinge.
Es ist ein Unrecht und
gegen Unrecht muss man etwas sagen.
Frage: Was löst bei
Ihnen die jüngste Erklärung des stellvertretenden israelischen
Verteidigungsministers aus? Er sagte vor wenigen Tagen:
«Wenn die Palästinenser
noch mehr Raketen abschießen und deren Reichweite vergrößern,
bringen sie sich in die Gefahr eines größeren Holocaust, weil
wir alles in unserer Macht Stehende tun, um uns zu
verteidigen.»
Antwort: Er ist
offensichtlich kein sehr reflektierender Mensch. Die jüdische
Standardvorstellung von den Arabern ist: Was wollen Sie von uns,
warum sind sie nur böse? Das ist, weil sie Antisemiten und die
neuen Nazis sind. Dass man die Araber Nazis schimpft, das ist
gang und gäbe. Wolf Biermann hat beispielsweise mit aller
Selbstverständlichkeit Jassir Arafat Hitlers Nachfolger
genannt. Der Fehler dabei ist doch die völlig fehlende
Selbstkritik, dass es keinem einfallen will, warum die Araber so
böse auf uns Juden sind. Dass wir sie aus ihrem Land vertrieben
haben, und dass jawohl das Legitimste ist, was sie machen
könnten, wenigstens sauer auf uns zu sein. Dass sie nur deswegen
sauer auf uns seien, weil sie Hitlers Wiedergänger seien, ist
eine aberwitzige paranoide Vorstellung. Ich glaube, dieser
Mensch (der stellvertretende israelische Verteidigungsminister)
wird ernsthaft daran glauben.
Frage: In den Medien
wurde die Meldung verbreitet, dass mehr als 60 Prozent der
israelischen Bevölkerung sich für Verhandlungen zwischen der
israelischen Regierung und Hamas aussprechen. Sie, Prof.
Verleger, haben es auch längst verlangt. Was sagen Sie zu dieser
neuen Haltung der israelischen Bevölkerung?
Antwort: Das ist schon
toll, dass ich schon als der große Tabubrecher erscheine, wenn
ich so etwas sage und die Mehrheit der israelischen Bevölkerung
sagt das auch. Man wird deswegen als Antisemit beschimpft und
die Mehrheit der israelischen Bevölkerung ist auch der Meinung.
Es ist einfach absurd.
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