Schaut
genau hin, wer entführt wurde!
Arik Diamant Ynet, 5.7.06
Es ist in den frühen
Morgenstunden, es ist noch dunkel. Eine Guerillagruppe kommt von irgendwo her,
um einen Soldaten zu kidnappen. Nach Stunden sehr vorsichtiger Bewegung erreicht
die Gruppe ihr Ziel. Der Überfall beginnt. Innerhalb von Sekunden sieht der
Soldat nur noch einen Gewehrlauf ( ?)
Ein Schlag ins Gesicht mit
dem Gewehrkolben. Der Soldat fällt blutend auf den Boden. Die Kidnappers packen
ihn, fesseln ihm die Hände und verbinden ihm die Augen - und verschwinden mit
ihm in der Nacht.
Das kann das Ende der
Entführung sein – doch der Alptraum beginnt nun. Die Mutter des Soldaten bricht
zusammen, sein Vater betet. Seine Kommandooffiziere versprechen, alles zu tun,
um ihn zurück zu bekommen. Die Kameraden schwören Rache. Eine ganze Nation ist
in Aufruhr und schreibt voller Schmerz und Sorge.
Keiner weiß, wie es dem
Soldaten geht. Ist er verletzt? Behandeln ihn die Entführer wenigstens mit
einem Minimum von menschlichem Anstand? Oder quälen sie ihn zu Tode und trampeln
auf seiner Ehre herum? Die schlimmste Form des Leidens ist nicht bekannt. Wird
er nach Hause kommen . Und wenn ja, wann? In welchem Zustand? Kann jemand bei
solch einem Drama gleichgültig sein?
Israelischer Terror
Überrascht wird man dies zur Kenntnis nehmen; denn diese Beschreibung hat
nichts mit dem Kidnappen von Gilad Shalit zu tun. Es ist die Geschichte einer
Verhaftung. Und ich führte sie als IDF-Soldat in der Altstadt von Nablus vor 10
Jahren durch . Der „Soldat“ war ein 17-Jähriger. Wir entführten ihn, weil er
„etwas“ über jemanden wusste, der „etwas“ getan hatte.
Wir brachten ihn gefesselt
mit einem Sack über dem Kopf in ein Verhörzentrum des Shin Bet, das als „Schrei
–Hügel“ bekannt war. (Damals dachten, wir das sei Spaß). Dort wurde der
Gefangene geschlagen, schwer geschüttelt, Wochen oder Monate lang am Schlafen
gehindert. Wer weiß?
Keiner schrieb darüber in
der Zeitung. Europäische Diplomaten wurden nicht um Hilfe gebeten. Es war
einfach nichts Ungewöhnliches, das Kidnappen dieses palästinensischen
Jugendlichen. Während der 40 Jahre Besatzung haben wir Tausende Leute – genau
wie Gilad gefangen genommen. Mit einem Gewehr bedroht, gnadenlos geschlagen,
ohne Richter und Gericht, ohne Zeugen und ohne der Familie irgend eine
Information über den Gefangenen zukommen zu lassen.
Wenn die Palästinenser dies
tun, nennen wir es Terror. Wenn wir es tun, machen wir Überstunden, um die
Brutalität zu übertünchen (whitewash).
Verdächtige?
Einige Leute werden sagen:
„Die IDF entführt nicht „nur“. Diese Leute sind „Verdächtige“.
Doch gibt es keine
perversere Lüge als dies. In all den Jahren, in denen ich meinen Militärdienst
machte , kam ich zu einer einfachen Schlussfolgerung. Was macht einen
„Verdächtigen“ aus? Wer genau verdächtigt ihn und wegen was wird er verdächtigt?
Wer hat das Recht, einen
17-Jährigen zu verurteilen, dass er entführt, gefoltert und möglicherweise
getötet wird? ein 26 jähriger Shin Bet-Verhörer? Oder ein 46-jähriger. Haben
diese Leute eine höhere Bildung, abgesehen von der Fähigkeit zu verhören. Nach
welchen Gesichtspunkten urteilt er? Wenn alle diese „Verdächtigen“ so schuldig
sind, warum bringt man sie dann nicht vor Gericht?
Jeder der annimmt, dass
trotz den Fehlens von Transparenz die IDF und der Shin Bet ihr Bestes tun, um
die Verletzungen der Menschenrechte so gering wie möglich zu halten, ist naiv,
wenn nicht gehirngewaschen. Man muss nur die Berichte von Soldaten lesen, die
in Verwaltungshaftzentren gearbeitet haben, um von der Schwere der Unmoral
unserer Aktionen in den besetzten Gebieten überzeugt zu werden.
Bis zum heutigen Tag
verrotten Hunderte von Gefangenen in Shin Bet-Gefängnissen und Kerkern, Leute,
die niemals verurteilt worden sind und nie verurteilt werden. Und Israelis
haben sich schweigend mit diesem Phänomen abgefunden.
Israelische Verantwortung
An dem Tag, an dem Gilad
entführt wurde, fuhr ich in einem Taxi. Der Fahrer sagte zu mir, wir sollten in
den Gazastreifen „reingehen“ und einen nach dem andern abschießen bis jemand
das Schweigen bricht und die Geisel freilässt. Es ist keinesfalls klar, dass
solch eine Operation Gilad lebend zurückbringt.
Anstelle in eine
terroristischen Re-Aktion hineingezogen zu werden, wie es die palästinensische
Gesellschaft getan hat, sollten wir einige der Soldaten und Zivilisten , die wir
entführt haben, frei lassen. Das wäre angemessen, richtig und könnte auch eine
Atmosphäre der Versöhnung in den besetzten Gebieten schaffen.
Wenn es dies ist, was Gilad
sicher und gesund nach Hause bringt, dann haben wir ihm gegenüber die
Verantwortung, dies zu tun.
Arik Diamant ist ein
IDF-Reservist und der Chef der Organisation“Mut zum Verweigern“
(dt. Ellen Rohlfs)
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