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Europa ist
verrückt
Uri Avnery, 22.7.17
GEORG SOROS,
der amerikanische Multi-Milliardär, verursacht Benjamin Netanjahu
eine Menge Probleme.
In diesem
besonderen Augenblick braucht Netanjahu keine Probleme. Eine riesige
Korruptions-Affäre, die deutsche Unterseeboote betrifft, kriecht
langsam und unaufhaltsam auf ihn zu.
Soros ist ein
ungarischer Jude, ein Holocaust-Überlebender. Die ungarische,
regierende Partei hat sein Gesicht in ganz Budapest mit einem Text
übermalt, der kaum seine antisemitische Absicht verbirgt. Soros
Sünde ist seine Unterstützung für Menschenrechtsorganisationen in
seiner früheren Heimat. Er macht dasselbe in Israel, wenn auch in
viel kleinerem Maßstab. Netanjahu mag ihn auch deshalb nicht.
Dies hat eine sehr
schwierige Situation geschaffen. Netanjahu war dabei, Budapest zu
besuchen, um seinen ungarischen Kollegen Victor Orban, zu treffen,
der verdächtigt wird, ein sanfter Antisemit zu sein. Netanjahu
betrachtet ihn als Seelenverwandten vom Rechten-Flügel.
Die ungarische
jüdische Gemeinde regte sich auf.. Sie verlangte, dass Netanjahu
seinen Besuch absagt, bis die Soros-Plakate entfernt worden sind.
Schließlich waren die meisten – aber nicht alle – Plakate
tatsächlich abgenommen worden, und Netanjahu traf sich mit Orban.
Aber die ganze Episode zeigte, dass die Interessen des Staates
Israels und die Interessen der jüdischen Gemeinden in aller Welt
nicht automatisch identisch sind, wie Zionisten uns gerne glauben
machen würden.
ES GAB
vor dem ungarischen Treffen noch einen anderen Vorfall. Ein paar
Tage vorher hatte Orban bei einer öffentlichen Veranstaltung Admiral
Miklos Horthy, den Führer des ungarischen Staates während des 2.
Weltkrieges gelobt, als Ungarn mit Nazi- Deutschland
zusammenarbeitete wie ganz Ost-Europa (abgesehen von Polen, das
besetzt war).
Wie konnte Orban
Horthy am Vorabend von Netanjahus Besuch loben?
Tatsächlich ist
Horthys Rolle noch heiß umstritten. Ein selbst erklärter Antisemit
und als eine rätselhafte Person gelang es ihm, was keinem anderen
europäischen Führer gelang: er rettete viele hundert Tausende von
Juden, indem er Hitler nicht gehorchte und ihn betrog.
Einer von ihnen war
eine Tante von mir, die einen ungarischen Juden in Berlin heiratete
und von den Nazis nach Ungarn deportiert wurde, wo sie überlebte und
schließlich Palästina erreichte. Ein anderer war „Tommy“ Lapid, der
als Kind im Ghetto von Budapest überlebte, der später eine
berühmte Persönlichkeit in Israel wurde. Sein Sohn Yair ist jetzt
Politiker, der sich darum bemüht, Netanjahu zu verdrängen. Er würde
wahrscheinlich nicht existieren, wenn Horthy nicht so abwegig
gehandelt hätte.
ICH KANN
mich nicht zurückhalten, hier zu unterbrechen und einen historischen
Scherz zu erzählen.
Nach Pearl Harbor
(April 1941) erklärte Hitler und seine ganze Bande von
Kollaborateuren den USA den Krieg. Der ungarische Botschafter in
Washington war auch angewiesen, dem Außenminister Cordell Hull eine
Kriegserklärung einzureichen, der sich entschloss, ihn zum Narren
zu halten.
„Ungarn, Ungarn –
seid ihr eine Republik?“ fragte er.
„Nein, wir sind ein
Königreich.“
„Wirklich? Wer ist
denn euer König?“
„Wir haben keinen
König, nur einen Regenten, Admiral Horthy.“
„Ein Admiral? Also
habt ihr eine große Flotte?“
„Wir haben keine
Flotte, da wir keine Meeresküste haben“. (Horthy wurde während des
1. Weltkrieges Admiral, als Ungarn ein Teil des
österreichisch-ungarischen Reiches war, das tatsächlich eine kleine
Flotte hatte.)
„Seltsam. Ein
Königreich ohne König und einen Admiral ohne Flotte. Warum erklärt
ihr uns den Krieg? Hasst ihr uns?“
„Nein, wir hassen
Rumänien.“ „Warum erklärt ihr dann nicht Rumänien den Krieg?“
„Unmöglich! Sie
sind unsere Verbündeten!“
ENTSCHULDIGT BITTE,
dass ich mich unterbrochen habe. Zurück zu Netanjahu.
Gerade jetzt tut
die Netanjahu-Regierung zwei Dinge, die viele Juden in aller Welt
wütend macht – und besonders in den US.
Das eine betrifft
die Westmauer (vorher die Klagemauer genannt) in Jerusalem. Es ist
die heiligste Stätte für das Judentum.
Da ich ein frommer
Atheist bin, gibt es für mich keine heiligen Stätten. Umso mehr, da
die Westmauer kein Teil des jüdischen Tempels war, der von König
Herodes vor 2000 Jahren wieder aufgebaut wurde, sondern nur eine
Stützmauer des großen künstlichen Hügels, auf dem der Tempel stand.
Das letzte Mal war
ich 1946 dort. Die imponierende Mauer war von einer schmalen Gasse
flankiert, die die Mauer noch höher erscheinen ließ. Nach dem
1967er-Krieg wurde das ganze arabische angrenzende Viertel
abgerissen, um einem großen Platz Raum zu schaffen. Die Mauer wurde
den Ultra-Orthodoxen übergeben, damit sie dafür ihre Stimme in der
Knesset geben. An der Mauer wurden Männer und Frauen natürlich
getrennt.
Als der Feminismus
bedeutsamer wurde, wurde dies problematisch. Zuletzt wurde ein
Kompromiss gefunden: ein kleiner Teil der Mauer wurde für
„gemischte“ Gebete bestimmt, für Gebete für Männer und Frauen und
auch für „Reformierte“ und „Konservative“ Juden, die es in Israel
kaum gibt, aber die die Mehrheit unter den amerikanischen Juden
bilden.
Unter orthodoxem
Druck wünscht Netanjahu jetzt, dass dieser Kompromiss aufgehoben
wird, was unter den amerikanischen Juden große Aufregung
verursacht.
Als ob dies nicht
genug wäre, wünscht Netanjahu auch die Anerkennung der Konversion
zu „Reform-“ und „Konservativen“ Judentum abzuschaffen, um so den
Orthodoxen exklusive Rechte bei der Konversion in Israel zu geben.
Da es in Israel
keine Trennung zwischen Staat und Religion gibt, genügt ein
einfaches Gesetz. Tatsächlich werden israelische Institutionen immer
religiöser - so sehr, dass ein neues hebräisches Wort „Hadata“
(grob übersetzt „Religionsierung“) erfunden werden musste.
Die „Reform“--und
„Konservativen“ jüdischen Institutionen in den US kümmern sich
nicht um die Besatzung, und nicht um die brutale Unterdrückung der
Palästinenser und um das tägliche Töten. Sie unterstützen die
israelische Regierung durch dick und dünn. Sie kümmern sich jedoch
sehr um die Westmauer und über Konversionen. Wie Ivanka Trump
konvertieren Nicht-Juden oft, um Juden zu heiraten. Dies ist also
ein wichtiges Geschäft.
DIES ALLES
erscheint wie ein inhärenter Widerspruch und er ist es auch.
Israel wird
offiziell und rechtlich als ein „Jüdischer und demokratischer Staat“
definiert. Ein neues Gesetz wird erlassen, in dem das
„demokratisch“ aus der Formel gestrichen wird und Israel nur als
einen „Jüdischen Staat“ lässt. Er wird von vielen als das
Hauptquartier des jüdischen Volkes angesehen. Netanjahu hat oft
erklärt, dass er sich als der Führer und Verteidiger aller Juden in
der Welt ansieht.
Wenn es so ist, wie
kann es da einen Konflikt zwischen den Interessen der Juden
irgendwo und dem Staat Israel geben?
Dies gibt es und
hat es von Anfang an gegeben. Theodor Herzl, der Gründer des
Zionismus und ein ungarischer Jude, hatte Diskussionen mit den
antisemitischen Führern des zaristischen Russland und woanders,
indem er versprach, ihnen zu helfen, ihre Juden los zu werden und
sie nach Palästina zu lenken. Dieses gemeinsame Interesse schuf in
verschiedenen Zeiten viele eigenartige Verbindungen.
Antisemiten
bevorzugten immer die Zionisten wie z.B. Adolf Eichmann, der in
seinen Erinnerungen im israelischen Gefängnis schrieb, dass er die
Zionisten als das „wertvolle Element“ des jüdischen Volkes ansah
usw.
Abraham Stern, Yair
genannt, ein Untergrundführer im britischen Mandat Palästina, der
sich von der Irgun abspaltete und eine neue Gruppe gründete, (die
von den Briten die „Stern-Bande“ genannt wurde). Ihr Hauptvorschlag
war, mit Nazi-Deutschland gegen die Briten zusammenzuarbeiten, nach
dem Prinzip, dass „der Feind meines Feindes mein Freund ist“. Er
sandte Leute an deutsche Botschaften, wurde aber von Hitler
ignoriert. Schließlich wurde er von den Briten erschossen.
In den ersten
Jahren Israels, als David Ben-Gurion das erste Mal die US als
Ministerpräsident von Israel besuchte, wurde er von seinen Beratern
ermahnt, die Immigration nicht im Gespräch vorzubringen, um die
US-Juden nicht zu irritieren, deren Geld man verzweifelt benötigte.
Ben-Gurion brachte zwar Einwände vor, tat dann aber, was sie sagten.
Zu der Zeit schrieb
ein Freund von mir ein humorvolles Stück über eine Gemeinschaft
enorm reicher Juden in einem entfernten Teil Afrikas, denen alle
Diamant-Minen ihres Landes gehörten. Als Israel Geld benötigte, um
für das Brot des nächsten Monats Mehl zu kaufen, wurde der
begabteste zionistische Propagandist dorthin geschickt. Da er um die
verzweifelte Situation seines Landes wusste, hielt der Mann die
leidenschaftlichste Rede seines Lebens. Am Ende blieb kein Auge in
der Zuhörerschaft trocken.
Am nächsten Tag
erhielt der Redner eine Botschaft: wir waren so bewegt, dass wir uns
entschieden haben, all unsern Besitz den Eingeborenen zu vermachen
und als Pioniere nach Israel zu kommen.
DAS OFFIZIELLE
Ziel des Zionismus ist, alle Juden der Welt nach Israel zu bringen.
Herzl selbst
glaubte, dass dies tatsächlich geschehen würde, und in einem Absatz
schrieb er, wenn einmal die meisten Juden in den jüdischen Staat
gekommen sein werden, würde man nur sie Juden nennen. Alle Juden,
die nicht kommen wollen, würden nicht mehr Juden genannt – sie sind
dann nur Deutsche, Amerikaner und so fort.
Wunderbar, aber
falls dies geschieht, wer wird dann Donald Trump und seine
Nachfolger zwingen, bei der UN- bei Israel-kritischen
Entscheidungen ein Veto einzulegen? Wer wird übrig sein, gegen die
Bewegungen – wie BDS –zu kämpfen, die einen Boykott Israels
predigen?
Nun, das Leben ist
voller Widersprüche. So sind wir eben.
NETANJAHUs
UNGARISCHE
Abenteuer waren mit der Soros und Horthy-Affäre noch nicht vorüber.
Weit davon entfernt.
Während er in
Budapest war, nahm er an einem geschlossenen Treffen mit den Führern
Ungarns, Polens, der Slowakei und der Tschechischen Republik teil.
Irgendein dummer Kerl vergaß den Lautsprecher zur journalistischen
Seite auszustellen. So konnten sie etwa 20 Minuten die geheime Rede
Netanjahus hören.
Seinen
osteuropäischen Seelenverwandten, alle extreme halb-demokratische
vom Rechten Flügel, schütte er sein Herz aus: die liberalen
westeuropäischen Regierungen sind „verrückt“ , wenn sie in Bezug
auf Menschenrechte Bedingungen an ihre Hilfe für Israel knüpfen.
Sie begehen
Selbstmord, wenn sie Massen von Muslimen ins Land lassen. Sie
realisieren nicht, dass Israel ihr letzter Grenzwall gegen diese
muslimische Invasion ist.
In der Bibel der
Zionisten, „Der Judenstaat“ schrieb Theodor Herzl: „Für Europa
würden wir dort (in Palästina) ein Stück des Walles gegen Asien
bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei
besorgen.“
Diese Zeilen wurden
vor 121 Jahren geschrieben, auf der Höhe der Kolonialzeit. Sie heute
zu wiederholen, ist - um Netanjahus eigenes Wort zu benützen
„verrückt“.
Im Kampf Netanjahus
und Orbans gegen Soros um Menschenrechte, wird Soros gewinnen.
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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