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Israelische + Jüdische Stimmen
  Texte von Ran Ha Cohen


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60 Jahre Israel

 Ran HaCohen,  14. Mai 2008

 

Die Christen – die selbsternannten Erben der Juden – gedenken des qualvollen Leidens  Christi bis zur Auferstehung .. in den Wochen vor Ostern. Die Zionisten – die modernen selbst ernannten Erben der Juden – haben ihre Fastenzeit nach Pesach. Sie gedenken ihrer via dolorosa, die zum  jüdischen Staat  führte. In den Wochen, die Pesach folgen, gibt sich das Land einer nationalistischen Orgie hin, wie man sie sich kaum in einem anderen modernen Staat vorstellen kann. Es lässt an einen primitiven Volksstamm denken . Wenn man verstehen will, wie eine ganze Nation dahin gebracht wird, seine eigenen Interessen beiseite zu schieben und  einer korrupten, de facto militärischen Führung zu folgen, die das Vermögen der Nation und das Blut (des eigenen Volkes) in unnötigen Kriegen  und  jahrzehnte langer unmoralischer Besatzung verschwendet, dann besuche man  Israel kurz nach Pesach.

 

Vor ein paar Jahrzehnten begann alles mit dem Holocaust-Gedenktag, etwa eine Woche  nach Pesach (alle  öffentlichen israelischen  Feiertage folgen nach dem jüdischen Kalender, der sonst nur für religiöse Angelegenheiten gilt). Das ist nicht mehr der Fall. Diese Wochen davor werden immer häufiger für jüdische Pilgerreisen nach Polen benützt, wo jüdische Teenagers – ein oder zwei Jahre vor ihrem Militärdienst – zu einer Reihe von KZs, zerstörten jüdischen Gemeinden und anderen Stätten des Gedenkens geführt werden. Diese Reisen – wenigstens acht Tage lang  - werden vom Staat abgesegnet und vom Erziehungsministerium  organisiert. Ein offizielles Ziel ist, das „nationale Gefühl zu stärken“: Das Ministerium verlangt auch, dass alle jungen Pilger – auch die säkularen -  nur koscheres Essen zu sich nehmen, das extra aus Israel herangeflogen und aufgeweicht und lauwarm in polnischen Hotels aufgetischt wird. Die Eltern müssen allerdings  die ganzen Kosten selbst übernehmen, etwas 1500 $ pro Kind. Dies macht es zu einer Angelegenheit der Mittel- und der höheren Klassen. Das hat natürlich seinen Grund. Die Mittelklasse muss ideologisch überzeugt werden. Der Gehorsam der Armen kann mit Gewalt gesichert werden.

 

Zufällig war ich  am Flughafen, als im letzten April eine Gruppe von solch einer Reise zurückkehrte. Viele ihrer Klassenkameraden wurden zu ihrem Empfang zum Flughafen gefahren, um sie mit Trommeln, Tanzen und  dem Ruf „Das Volk Israel lebt“ zu begrüßen. Man hatte den Eindruck,  eine Gruppe Holocaustüberlebender wurde da willkommen geheißen.

 

Die  wirklichen Holocaustüberlebenden verdienen übrigens nicht  so viel Beachtung oder öffentliche Unterstützung: Von 80 000 Überlebenden, die heute noch in Israel leben, lebt ein Drittel in Armut. Einige der alten Leute sind sogar wieder zurück nach Deutschland emigriert, wo die finanzielle Hilfe für Überlebende großzügiger ist – ein Marsch der Lebenden.

 

 

Die Pilgerreise

 

Der Höhepunkt ist  „der Marsch der Lebenden“, auch der „Marsch der Erinnerung und Hoffnung“ genannt, wobei die katastrophale Vergangenheit für Erinnerung  und Israel – ironischerweise - für Hoffnung steht. Sie hat zwei Höhepunkte: in Auschwitz am Holocaustgedenktag und  in Israel dann der Unabhängigkeitstag. Die Person, die hinter diesem Konzept steht, ist Abraham Hirschson, ein Politiker, der die Position des Finanzministers erreicht hat, und der jetzt unter Anklage steht wegen einer Reihe von Verbrechen, einschließlich Vertrauensbruch, schwerem Betrug, Diebstahl, Fälschung und  Geldwäsche.  Der Hauptsprecher in diesem Jahr beim „Marsch der Lebenden“ war Israels Generalstabschef, der in Auschwitz noch einmal die Gelegenheit nützte, zu Gewalt gegen den Iran aufzustacheln und die idiotische Analogie mit Nazi-Deutschland brachte. Die dort massakrierten Millionen blieben  trotz dieses demagogischen Missbrauchs ihres Leidens stumm. Es ist schon verwunderlich, wie die israelische Armee es fertig bringt, sich selbst  dominant ins Spiel zu bringen – vielleicht gar der dominanteste Spieler zu werden – nicht nur in Israels Politik, Bildung und Wirtschaft, sondern  auch beim Gedenken an den Holocaust, der gar nichts mit der Militärmacht zu tun hat, die drei Jahre nach seinem Ende auf einem anderen Kontinent geschaffen wurde.

Der „Marsch der Lebenden“ geht dann weiter nach Israel, wo er eine Woche später bei den „Siamesischen Zwillingen“ endete: am Gedenktag (für die gefallenen Soldaten) und am Unabhängigkeitstag. Die ideologische Botschaft ist mit eingebaut: Die Alternative von Auschwitz heißt „für Israel leben und sterben (und töten)“:  „Sie wollten uns in Auschwitz töten, so wie sie uns jetzt in Israel töten wollen. „Sie“, die Goyim ( Nichtjuden), hassen uns überall – und wir sind immer die Opfer. Araber und Nazis sind alle gleich“.

 Es ist nicht die Besatzung, nicht Israels Weigerung, Frieden zu machen oder gar eine spezielle politische Einstellung, die rational analysiert werden kann: es ist der ewige, unveränderliche Antisemitismus. Es ist leben oder leben lassen. Israels Rechtschaffenheit anzuzweifeln, ist, wie den  Holocaust  in Frage zu stellen. Kritik an Israel ist Unterstützung der Nazis.

 

Die Straßen von Tel Aviv

 

Am Abend des Holocaustgedenktages und noch einmal am  Gedenktag eine Woche später sehen die Straßen Tel Avivs aus, als wäre Ausgangssperre. Von der Abenddämmerung bis in  die Morgendämmerung ist kein einziger Laden offen. Dieses Gesetz wird im ganzen Lande beachtet. Im selben Tel Aviv, wo am Schabbat  so viele Läden offen sind, wo Supermärkte stolz darauf sind, dass sie ihre Kunden auf einer 24 Stunden -Basis an 7 Tagen der Woche bedienen können, wo nur zwei Wochen vorher, während Pesach, Brot gebacken,  gesetzwidrig ins Schaufenster gelegt, verkauft und überall gegessen wird, da findet man  an diesen Feiertagen keinen einzigen offenen Kiosk. Religion ist ein verknöcherter, rückwärtsgewandter Zeitvertreib für mittelalterliche Jerusalemiten. Wir in Tel Aviv sind modern, westlich und säkular -  bis  es zum Nationalismus kommt,   bei dem kein Ultra-Orthodoxer mit unserer Hingabe wetteifern kann. Darüber hinaus ist es unser Zeitvertreib die Ultra-Orthodoxen zurechtzuweisen, die sich weigern, während der zwei Minuten, während denen im ganzen Lande Sirenen heulen, still zu stehen. Ein Kolumnist mit ultra-orthodoxem Hintergrund, der vorsichtig wagte,  in Haaretz Zweifel über diese Stammessitte zu äußern, bekam fast 500 Antworten, mehr  als  die anderen vier  täglichen Kolumnen zusammen – die meisten waren wütend.  Und diese Kolumne findet man nicht in der Englisch-Ausgabe von Haaretz.

 

Da gibt es auch kaum ein Haus ohne Flagge; die meisten Autos haben eine oder sogar zwei. Hundert Tausend Flaggen sind an den Wochenendausgaben der Zeitungen befestigt – dank einer gewissen Bank, die sie als Werbung benützt. Eine Freundin von mir, die keine Flagge auf ihren Balkon setzt, findet Jahr um Jahr eine, die ihr von ihren patriotischen  Nachbarn  hingesetzt wird. Schließlich wirft ein flaggenloser Balkon einen schlechten Ruf auf das ganze Gebäude. Die Nylonflaggen bleiben noch wochenlang, nachdem die Orgie endete – als schäbige Erinnerung.

 

 

 

Schaustellung einer Hybris

 

Die öffentlichen Zeremonien werden live von allen öffentlichen Fernsehkanälen übertragen; der einzige Unterschied ist der Winkel der Kamera. Länger als zwei Wochen  gibt es in den Medien nichts anderes als pure Indoktrination: Holocaust, Kriegsgeschichten, der Ruhm des Staates, ein Marsch der Politiker über die Bildschirme, leere Slogans über Israels „Einzigartigkeit“.  Haben sie uns nichts Besseres  zu bieten?

 

Während ich diesen Artikel  schreibe, fliegen Militärjets über meinen Kopf für die Flugschau des Unabhängigkeitstags. Es ist wieder die Armee – man kann nicht genug davon bekommen. Der Lärm ist unerträglich , man kann ihm nicht entfliehen. Ich muss dabei unwillkürlich  an die Bevölkerung im Gazastreifen denken, die regelmäßig noch größerem, betäubendem Lärm ausgesetzt ist - genau durch  diese Jets .

 

Die Flugschau ist gerade  zu Ende gegangen; ein Fallschirmspringer sprang versehentlich in die Menge der Zuschauer und verletzte acht. In Tagen, die in künstlich produzierten Symbolismus getaucht werden, fragt man sich, was  dieser Unfall bedeutet. Der Sturz des Ikarus?

 

www.antiwar.com/hacohen/?articleid=12826

 

(dt. Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)

 

 

 

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