
Newsletter - Dr. Martha Tonsern - Büro des Botschafters - Vertretung des Staates Palästina in Österreich, Slowenien und Kroatien und ständige Beobachtermission des Staates Palästina bei der UN und den internationalen Organisationen in Wien
21. 1. 2025
„Es waren Momente, in denen sich Freude und Trauer mischten. Freude darüber, dass das endlose Blutvergießen aufhören wird; dass die Massaker aufhören werden; dass der Satz 'diese Familie wurde vollständig ausgelöscht' aufhören wird; dass der Satz 'er/sie ist der einzige Überlebende' aufhören wird; dass die Worte 'die Leichen der Getöteten liegen auf den Straßen und niemand ist in der Lage, sie wegzubringen' aufhören werden; dass all dieses Leid nur noch zu einer Erinnerung wird.“
Hossam Shabat, 23-jähriger Journalist aus Gaza-Stadt
„Mein persönliches Gefühl ist, dass ich Angst habe. Ich habe Angst, weil ich nicht bereit bin, die Tatsache zu akzeptieren, dass es im Norden nichts mehr gibt. Dass es meinen Mann und mein Zuhause nicht mehr gibt.“
Shrouq Aila, 30-jährige Journalistin aus Deir al-Balah
„Wie meine Gefühle waren, als ich die Ankündigung hörte? Ich sah das Glück der Menschen und ihre Freudentränen. Aber was mich selbst betrifft, als Journalist, als Mensch und als Palästinenser, der im Norden des Gazastreifens lebt, so habe ich widersprüchliche Gefühle, die von Freude bis Trauer reichen. Ich habe fast 250 Mitglieder meiner Familie verloren. Verwandte von Verwandten: meine Neffen, Nichten, Tanten, deren Söhne und Töchter, meine Onkel und deren Frauen und Kinder. Ich habe eine sehr große Zahl von Menschen verloren. Wir sind eine jener Familien, die in diesem genozidalen Krieg die meisten Toten zu beklagen haben.“
Bilal Salem, 37-jähriger Journalist aus Gaza City
„Zwei Stunden nachdem der Waffenstillstand Inkrafttreten sollte, tötete Israel 19 Menschen und verletzte 39. Israel beschloss, sich nicht an die Waffenstillstandsvereinbarung zu halten, weil die Hamas den Namen der drei Geiseln vor dem Waffenstillstand nicht bekannt gegeben hatte. Die Hamas nannte logistische Gründe als Begründung dafür. Kurzgesagt: innerhalb von zwei Stunden wurden 19 Menschen getötet und 39 verletzt, weil die Namen der Personen, die ohnehin bald freigelassen werden sollten, mit zweistündiger Verspätung mitgeteilt wurden.“ …
„Die Familie meiner Frau gräbt in den Trümmern, um die Leichen von fünfzehn Verwandten zu bergen, die seit Oktober letzten Jahres unter ihrem zerbombten Haus begraben sind. Unter ihnen sind auch die drei Cousinen meiner Frau, eine dieser Cousinen wurde mit ihren beiden Kindern begraben.“
…
„Ich spreche mit Familie und Freunden in Gaza. Viele sagen mir, dass sie sich wünschten, sie wären nicht nach Hause zurückgekehrt, um ihre Häuser und Wohnungen zu sehen. Jedes Haus ist entweder zerstört oder niedergebrannt.
Ich habe nun von so vielen Freunden und Nachbarn erfahren, die getötet wurden. Viele Familien graben mit bloßen Händen in den Trümmern, um die Leichen ihrer Angehörigen zu bergen.“
Mosab Abu Toha, palästinensischer Schriftsteller (19.01.2025)
„Und dann lese ich diesen Satz: „Darüber hinaus werden gemäß der Vereinbarung etwa tausend Gazaner, die seit dem 7. Oktober 2023 in Gaza inhaftiert waren und nicht an dem Massaker beteiligt waren und in Israel nicht strafrechtlich verfolgt wurden, freigelassen.“
Und mir wird klar, dass Israel im Grunde genommen tausend Geiseln aus dem Gazastreifen ohne Gerichtsverfahren entführt hat, nur um sie als Verhandlungsmasse zu benutzen. Und das, nachdem wir wissen, welche körperlichen und sexuellen Folterungen in israelischen Gefängnissen stattfinden.“
Tomer Dotan-Dreyfus, israelischer Schriftsteller (19.01.2025)
„Israel hat soeben die Liste der 95 palästinensischen Gefangenen veröffentlicht, die in den kommenden Tagen freigelassen werden könnten:
- sechs von ihnen sind Kinder, keines davon verurteilt; vier werden ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgehalten
- 79 Personen, die nicht wegen eines Verbrechens verurteilt worden sind, darunter 27, die ohne Anklage oder Prozess festgehalten werden.
Masseninhaftierung ist für Israel ein Instrument der Kontrolle.“
Diana Buttu, Schriftstellerin und Juristin (18.01.2025)
„Seit 400 Tagen fließt in Gaza jede Minute nur Blut. Weißt du, der Krieg tötet nicht nur Körper, er zerstört auch die Seele und jegliche Hoffnung. Er hinterlässt eine Art von Stille, die vor Schmerz schreit.
Wir werden um viele Dinge weinen, wenn am Sonntag der Waffenstillstand beginnt. Wir werden um die Menschen weinen, die wir verloren haben, Freunde, Familienmitglieder. Wir werden um all die Waisenkinder weinen. Wir werden um die Witwen in Gaza weinen. Wir werden um die Invaliden weinen, wir werden um die zerstörten Häuser und Wohnungen weinen. Wir werden um so viele Dinge weinen.“
Abu Abed, Medizinischer Koordinator für Ärzte ohne Grenzen in Gaza (19.01.2025)
Weitere Stimmen aus Gaza, gesammelt von +972Mag:
„Wir alle warten sehnsüchtig auf den Moment, in dem wir uns von diesem anhaltenden Alptraum der Bombardierung, des Tötens und des Hungers erholen können. Ich träume vom Moment, in dem ich meine Kinder und meine Enkelkinder wiedersehen werde. “Salem Habib, 45, vertrieben nach Al-Mawasi
„Ich werde am ersten Tag des Waffenstillstands zurück in den Norden gehen. Ich werde in mein Viertel zurückkehren, ein Zelt aufstellen und sofort mit dem Unterrichten beginnen.“
Saeed Al-Akhras, Lehrer, vertrieben nach Al-Mawasi
„Die israelische Armee tötete unsere Liebsten, zerstörte unsere Häuser, unsere Schulen, unsere Straßen, unser Hab und Gut. Sie töteten all unsere schönen Erinnerungen. Mein Zuhause und meine Existenzgrundlage wurden zerstört – wofür?“
Momen Ashraf, 35
„Ich habe zwei Söhne verloren und ich bete Tag und Nacht dafür, dass der Waffenstillstand erfolgreich sein wird, ehe ich noch mehr meiner Liebsten verliere.“
Laila Al-Masri, 55, vertrieben nach Gaza Stadt
Sehr geehrte Damen und Herren,
„auch nach dem nun eingetretenen Waffenstillstand werden Kinder im Gazastreifen weiterhin an Unterernährung sterben“,
berichtet Dr. Louisa Baxter, eine britische Ärztin, die derzeit in Deir al Balah im Zentrum des Gazastreifens stationiert ist, wo sie das medizinische Team von Save the Children leitet.
Sie ist Ärztin für Medizin und öffentliches Gesundheitswesen und verfügt über mehr als siebzehn Jahre Erfahrung in der medizinischen Versorgung von marginalisierten Bevölkerungsgruppen in Großbritannien und weltweit.
In einem Interview mit dem Channel4News-Moderator Matt Frei berichtet sie, wie das Leben der Kinder in Gaza nach dem Waffenstillstand aussieht:
„Es gibt Millionen von Tonnen an Schutt, alles ist zerstört, es gibt keine Bäume mehr.
Man sieht überall Zelte mit Kindern, die jetzt, nach fünfzehn Monaten Blockade, oft sehr abgemagert sind.
Wir gehen davon aus, dass etwa 17 000 Kinder ihre Familien verloren haben und unbegleitet sind.
Wir sprechen von einem völlig zerstörten Gesundheitssystem, soweit mir bekannt ist, sind nun weniger als die Hälfte aller Krankenhäuser funktionsfähig, und das auch nur teilweise.
Es gibt keinen Strom. Keinen Treibstoff. Wir sind nicht in der Lage, Generatoren zu betreiben. Wir sind nicht in der Lage, Intensivstationen für Kinder zu betreiben.
Einige Kinder werden nie wieder zur Schule gehen können. Alle Schulen sind zerstört worden.
Wenn der Waffenstillstand hält, was wir selbstverständlich fordern, wird es vielleicht keine weiteren Todesfälle durch Bombardierungen geben, aber die Kinder werden weiterhin an Unterernährung, Wassermangel und fehlenden Impfstoffen sterben. Im Moment gibt es nur sehr wenig, zu dem man zurückkehren kann.“
Und wer wird sich um diese Kinder kümmern, 17 000 Waisenkinder, wer wird sich um diese Kinder kümmern? Wo wird man sich um sie kümmern? Werden sie irgendwo eine Unterkunft finden?
Es ist sehr wahrscheinlich, dass 17 000 eine massive Unterschätzung ist. Es gibt Kinder, die von Großfamilien aufgenommen wurden. Wissen Sie, wir haben in unserer Klinik junge Mädchen und Buben, manche im Alter von vierzehn oder fünfzehn Jahren gesehen, die mit ihren zwei- oder dreijährigen Brüdern zu uns kamen und nun die Führung der von Kindern geführten Haushalte übernommen haben. Es gibt Kinder, die von Mitgliedern der Gemeinschaft betreut werden. Aber das gesamte Schutzsystem ist zusammengebrochen. Und hier versuchen Organisationen wie Save the Children einzugreifen, um Stabilität und Sicherheit sowie kindgerechte und kinderfreundliche Räume für Kinder wie diese zu schaffen. Eines der Dinge, die mir als Ärztin in diesem Zusammenhang am meisten aufgefallen sind, ist, dass jedes Kind, das in unsere Klinik kommt, egal ob es unterernährt, dehydriert oder verletzt ist, einen Blick der Verzweiflung hat... eine Stumpfheit, eine Apathie...
…eine Teilnahmslosigkeit?
... ausgelöst von den letzten Monaten. Eine innere Teilnahmslosigkeit, ausgelöst von den letzten fünfzehn Monaten, davon, dass ihnen ihr ganzes Leben genommen wurde. Das psychologische Trauma für diese Kinder und ihre Familien wird also enorm sein.
Und vermutlich gibt es noch viele, viele Kinder, die unter den Trümmern begraben sind?
Die Zahlen, die uns im Moment vorliegen, sind nicht akkurat, aber wir wissen, dass es Kinder gibt, die nie mehr mit ihren Eltern wiedervereint werden.
Und es gibt Kinder, die nie mehr wieder gefunden werden.
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In der heutigen Aussendung finden Sie zwei Übersetzungen von +972Mag. Im ersten Beitrag analysiert Tariq Kenney-Shawa das Waffenstillstandsabkommen und das damit verbundene Kalkül sowohl der israelischen, als auch amerikanischen Regierung. Kenny-Shawa hält fest: „Aber der designierte Präsident [Trump, Anm.] und die Menschen, mit denen er sich umgibt, haben auch deutlich gemacht, dass sie Netanjahus Bereitschaft zur Zusammenarbeit belohnen werden. Wenn der israelische Premierminister den Waffenstillstand auch nur in seiner ersten Phase durchsetzt, wird er eine Rendite für seine Investition erwarten – und der Preis dafür wird eine weitere Massenvertreibung von PalästinenserInnen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland sein.“ Und: „Völkermord wird nicht nur mit Bomben und Kugeln verübt, und er endet auch nicht, wenn die Waffen schweigen. Krankheiten, Unterernährung und Traumata – unbehandelt von einem in Schutt und Asche gelegten Gesundheitssystem – werden noch jahrelang Menschenleben fordern, und es wird Jahrzehnte dauern, das Land nach der Verwüstung und Verpestung wieder bewohnbar zu machen.“
Im zweiten übersetzten Beitrag finden Sie ein Interview mit Albina Abu Safiya, der Ehefrau vom Leiter des Kamal Adwan Krankenhauses, Dr. Abu Safiya. Sie gibt darin nicht nur Einblicke in die Geschehnisse vom 27. Dezember 2024, als das Kamal Adwan Krankenhaus von der israelischen Armee gestürmt und zerstört und Dr. Abu Safiya verschleppt wurde, sondern auch in das Leben der Familie. Frau Abu Safiya stammt aus Kasachstan, wo sie ihren Mann kennen lernte, der dort Medizin studierte. Nachdem die gesamte Familie auch eine kasachische Staatsbürgerschaft besitzt, hätten sie Gaza verlassen können, solange dies noch über den Grenzübergang Rafah möglich war. Dr. Abu Safiya wollte jedoch in Gaza bleiben, um seine PatientInnen und Mitmenschen nicht im Stich zu lassen – und seine Familie blieb mit ihm.
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Ein Waffenstillstand wird Israels genozidale Agenda nicht aufhalten
Das Abkommen mag die Intensität von Israels Massaker verringern, aber es wird wahrscheinlich eine neue Phase der ethnischen Säuberung einläuten – mit Trumps voller Unterstützung.
Tariq Kenney-Shawa - +972Mag in Kooperation mit The Nation - 16. Januar 2025 - Quelle - Übersetzt mit DeepL
Steven Witkoff, der neue Nahost-Beauftragte von Donald Trump, hat sich Berichten zufolge nicht um Höflichkeiten gekümmert, als er die Israelis darüber informierte, dass er am vergangenen Samstag zu einem Treffen mit Premierminister Benjamin Netanjahu eintreffen würde.
Als Witkoff erfuhr, dass sein Besuch mit dem Schabbat zusammenfiel, was bedeutete, dass der Premierminister bis zum Abend nicht erreichbar sein würde, stellte er klar, dass der jüdische Feiertag seinen Zeitplan nicht durchkreuzen würde. Netanjahu, dem klar war, was auf dem Spiel stand, begab sich am Nachmittag in sein Büro, um den Gesandten zu treffen, der anschließend nach Katar flog, um weiter auf eine Waffenstillstandsvereinbarung für den Gazastreifen einzuwirken.
Über die Einzelheiten ihres Gesprächs ist wenig bekannt, aber es steht fest, dass es Witkoff gelang, Netanjahu in einem einzigen Treffen zu mehr zu bewegen als die gesamte Regierung Biden in über fünfzehn Monaten. Am 15. Jänner einigten sich Israel und die Hamas auf ein mehrstufiges Waffenstillstandsabkommen, das den Austausch israelischer Geiseln gegen palästinensische Häftlinge und Gefangene sowie den vollständigen Rückzug der Israelis aus dem Gazastreifen vorsieht.
Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob diese Vereinbarung Bestand haben wird. Die lange Tradition Israels, Waffenstillstände zu brechen, und die Forderungen israelischer Minister, den Völkermord fortzusetzen, lassen uns skeptisch bleiben. Aber die Nachricht von der Waffenruhe hat Millionen von Menschen in Gaza, die seit über einem Jahr einer Vernichtungskampagne ausgesetzt sind, eine unbeschreibliche Erleichterung gebracht.
Wenn der Waffenstillstand im Gazastreifen hält, wird er das wesentliche Resultat der von der neuen Trump-Administration eingeleiteten Dynamik sein – eine Erinnerung daran, wie leicht Washington Israels Handeln beeinflussen kann, wenn es das tatsächlich will. Präsident Joe Biden, geblendet von seinem Bekenntnis zu einem mythischen Zionismus, der nur in seiner Vorstellung existiert, war nicht bereit zu erkennen, dass der Krieg nicht nur moralisch grotesk ist, sondern auch den amerikanischen und israelischen Interessen in der Region schadet. In vielerlei Hinsicht wurden Israels Völkermord im Gazastreifen und seine Kampagne zur Destabilisierung der Region auch zum eigenen Krieg der Regierung Biden.
Trump agiert ohne dieselben ideologischen Zwänge, und er ist viel mehr darauf bedacht, was er aus einer bestimmten Beziehung gewinnen kann. Trump strebte ein Waffenstillstandsabkommen an, nicht nur, weil es als massiver PR-Coup dienen würde – er kann damit prahlen, dass er ein Problem gelöst hat, das Biden nie lösen konnte, und das zu Recht –, sondern vor allem, weil es seiner Regierung erlauben wird, sich anderen Prioritäten zu widmen, wie etwa der Vermittlung eines Normalisierungsabkommens zwischen Israel und Saudi-Arabien.
Mit anderen Worten: Für den designierten Präsidenten ist ein Waffenstillstand keine Frage des Prinzips oder der Moral, sondern eine Frage der Transaktion. Während Biden zuließ, dass Israels Völkermord im Gazastreifen eine Vielzahl von US-amerikanischen und regionalen Interessen behindert, war Trump entschlossen, alle Hindernisse zu beseitigen, die seiner umfassenderen Agenda im Wege standen.
Aber der designierte Präsident und die Menschen, mit denen er sich umgibt, haben auch deutlich gemacht, dass sie Netanjahus Bereitschaft zur Zusammenarbeit belohnen werden. Wenn der israelische Premierminister den Waffenstillstand auch nur in seiner ersten Phase durchsetzt, wird er eine Rendite für seine Investition erwarten – und der Preis dafür wird eine weitere Massenvertreibung von PalästinenserInnen aus dem Gazastreifen und dem Westjordanland sein.
Ein Geschenksackerl für den Waffenstillstand
Dennoch sollten wir Trump nicht zu viel Anerkennung geben. Es hat sich grundlegend wenig geändert, wenn es um das Druckmittel geht, das er einzusetzen bereit war, um Israels Verhalten zu beeinflussen. Soweit wir wissen, hat Trump nie damit gedroht, die Militärhilfe für Israel zu unterbinden. Er hat auch nicht angedeutet, dass er die Praxis seines Vorgängers, das Völkerrecht zu ignorieren, um Israel vor der Rechenschaftspflicht auf der Weltbühne zu schützen, überdenken würde.
Einige werden argumentieren, dass Trumps Drohungen und der Zusammenbruch mehrerer Widerstandsfronten in der Region die Hamas zu Zugeständnissen im Verhandlungsprozess gezwungen haben. Aber es war nicht die Hamas, die überzeugt werden musste – sie hatte bereits früheren Waffenstillstandsvorschlägen zugestimmt, die von der jetzigen Vereinbarung kaum zu unterscheiden waren und bis Mai 2024 zurückreichten. Letztendlich war es Israel, das den Druck brauchte, und Witkoff signalisierte Netanjahu wahrscheinlich, dass Trump, obwohl er Bidens blinde Loyalität gegenüber Israel nicht teilt, tatsächlich mehr tun würde, um Kooperation zu belohnen.
Die Tatsache, dass Netanjahu bisher davon abgesehen hat, das Waffenstillstandsabkommen wieder aufzukündigen, zeigt, dass er zuversichtlich ist, im Gegenzug etwas Bedeutendes bekommen zu können. Israelische Medien berichten bereits, dass Trumps „Geschenksackerl“ für Netanjahu eine lange Liste von Leckerbissen enthalten könnte, von der Aufhebung der Sanktionen gegen die israelische Spionagesoftware Pegasus der NSO Group und gegen gewalttätige israelische SiedlerInnen bis hin zur Erteilung von Washingtons Segen für einen größeren Landraub im Westjordanland oder eine direkte Annexion und der Erlaubnis oder sogar Erleichterung eines direkten Angriffs auf den Iran.
Aber es geht nicht nur darum, was Israel im Gegenzug für einen Waffenstillstand erhält. Es geht auch darum, was es bereits erhalten hat.
In den acht Monaten seit der ersten Ablehnung eines fast identischen Abkommens, dem die Hamas im Prinzip zugestimmt hatte, hat Israels Armee Zehntausende von PalästinenserInnen abgeschlachtet und große Teile des Gazastreifens zerstört. Dies war der Preis für die Verwirklichung der wahren Ziele Israels: nicht die Beseitigung der Hamas oder die Freilassung der Geiseln – von denen viele getötet wurden, während Israel einen Waffenstillstand hinauszögerte –, sondern die Zerstörung und „Ausdünnung“ des Gazastreifens und die Neugestaltung des Nahen Ostens.
Inzwischen hat Israel den so genannten Plan der Generäle – die ethnische Säuberung des gesamten nördlichen Gazastreifens oberhalb von Gaza-Stadt – weitgehend abgeschlossen. Beit Hanoun, Beit Lahiya und Jabalia, Städte, in denen einst über 300.000 Menschen lebten, wurden in Schutt und Asche gelegt, um das Gebiet zu entvölkern und die israelische Kontrolle zu festigen, während gleichzeitig die Grundlage für den Bau jüdischer Siedlungen geschaffen wurde.
Die Fakten vor Ort im Gazastreifen zeichnen heute ein Bild, das wir noch nicht ganz begreifen können. Die israelischen Streitkräfte haben ganze Stadtviertel zerstört, um die Pufferzone um den Gazastreifen zu erweitern, den Netzarim-Korridor, der das Gebiet in zwei Hälften teilt, auszubauen und die Enklave schließlich für eine Zukunft unter ständiger Kontrolle zu zerschneiden. Auf diese Weise haben sie mehr als 30 Prozent des Gazastreifens aus der Zeit vor dem Völkermord in Besitz genommen und einen Großteil des restlichen Gebiets unbewohnbar gemacht.
Netanjahu ließ das Waffenstillstandsabkommen zu, wohl wissend, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen sind, dass Israel sich der Annexion des Westjordanlands, der Konfrontation mit dem Iran und der Festigung seiner Zukunft als umkämpfter Festungsstaat zuwenden kann.
Zementierung einer neuen Realität
Selbst wenn das Waffenstillstandsabkommen nicht über den anfänglichen Zeitraum von 42 Tagen hinaus Bestand haben sollte, wird es zweifellos unzählige Leben retten und den PalästinenserInnen die Möglichkeit geben, zu atmen, zu essen, zu trauern und sich medizinisch behandeln zu lassen. Der stufenweise Ansatz des Abkommens soll es Israel zwar erschweren, das Abkommen zu brechen, doch hängt dies von der Durchsetzung ab. Im Moment steht der Wiederaufnahme der Vernichtung nur eine internationale Gemeinschaft im Wege, die die PalästinenserInnen – sobald der Waffenstillstand greift – schon seit mehr als einem Jahr im Stich gelassen hat.
Wichtige Mitglieder von Netanjahus rechtsextremer Koalition haben bereits gewarnt, dass sie nichts Geringeres als eine Fortsetzung der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen nach Abschluss der ersten Phase des Abkommens akzeptieren werden, selbst auf Kosten der verbleibenden Geiseln. Und nachdem er die Lorbeeren für das Zustandekommen des Waffenstillstands geerntet hat, gibt es keine Anzeichen dafür, dass Trump Israel zur Verantwortung ziehen oder Netanjahu unter Druck setzen wird, die zweite und dritte Phase des Abkommens einzuhalten.
Der Waffenstillstand mag zwar das unmittelbare Blutvergießen stoppen, aber er zementiert auch eine neue Realität: Gaza ist ein zerstückeltes, unbewohnbares Gefängnis. Die große Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens wurde in streng gesicherte und überwachte konzentrierte Lager im Süden und im Zentrum des Streifens gezwungen, wo ihr Überleben von Israels Laune abhängt.
Völkermord wird nicht nur mit Bomben und Kugeln verübt, und er endet auch nicht, wenn die Waffen schweigen. Krankheiten, Unterernährung und Traumata – unbehandelt von einem in Schutt und Asche gelegten Gesundheitssystem – werden noch jahrelang Menschenleben fordern, und es wird Jahrzehnte dauern, das Land nach der Verwüstung und Verpestung wieder bewohnbar zu machen. Und Israel ist noch nicht fertig: Es hat die Voraussetzungen für eine vollständige und dauerhafte ethnische Säuberung des Gazastreifens geschaffen, die von dem jahrhundertealten zionistischen Ethos „maximales Land, ein Minimum an Araber“ geleitet wird.
Dieser Waffenstillstand wird die Intensität des israelischen Mordens verringern, aber er wird wahrscheinlich eine zermürbende neue Phase dieses andauernden Völkermords einläuten, die wir noch nicht ganz begreifen können – eine Phase, die von der neuen Trump-Regierung voll unterstützt wird. Die ethnische Säuberung des Gazastreifens wird möglicherweise nicht in einem Zug erfolgen, sondern eher in einem schrittweisen Prozess, der Gestalt annimmt, wenn wir das Ausmaß von Israels systematischer Zerstörung von allem, was das Leben im Gazastreifen erhält, erfassen.
Unabhängig davon, was die Zukunft bringt, sollten wir uns an die Worte des getöteten Refaat Alareer halten: „Als Palästinenser haben wir nicht versagt, egal, was dabei herauskommt. Wir haben unser Bestes getan. Und wir haben unsere Menschlichkeit nicht verloren ... Wir haben uns ihrer Barbarei nicht unterworfen.“
Tariq Kenney-Shawa ist US Policy Fellow bei Al-Shabaka, einem palästinensischen Think Tank und Politiknetzwerk. Er hat einen Master-Abschluss in internationalen Beziehungen von der Columbia University und einen Bachelor-Abschluss in Politikwissenschaft und Nahoststudien von der Rutgers University. Twitter: @tksshawa.
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Albina Abu Safiya: „Die israelische Armee zielte absichtlich auf meinen Mann“
Nach der Verhaftung von Dr. Hussam Abu Safiya im nördlichen Gazastreifen beschreibt seine Frau ihre Ängste über das Schicksal des Krankenhausdirektors und spricht über die Tragödie der Ermordung ihres Sohnes.
Ruwaida Kamal Amer, 972Mag, 17. Januar 2025 - Quelle - Übersetzt mit DeepL
(Originalbeitrag in englischer Sprache und dazugehörenden Fotos der Familie: )
Es ist nun genau drei Wochen her, dass Albina Abu Safiya das letzte Mal von ihrem Mann gehört hat. Am 27. Dezember verhafteten israelische Streitkräfte Dr. Hussam Abu Safiya, den Direktor des Kamal Adwan Krankenhauses in der Stadt Beit Lahiya, bei einer Operation, die die letzte funktionierende Gesundheitseinrichtung im nördlichen Gazastreifen zur vollständigen Schließung zwang. Nach der Erstürmung des Krankenhauses trieben die Soldaten Berichten zufolge das medizinische Personal Im Freien zusammen, zwangen es, sich auszuziehen, und setzten das Gebäude in Brand.
Kurz nach der Stürmung veröffentlichte die israelische Armee Videoaufnahmen, auf denen zu sehen war, wie Abu Safiya auf Befehl der Soldaten in ein Militärfahrzeug stieg, doch blieb sein weiterer Verbleib tagelang unbekannt. Trotz der Beweise für seine Verhaftung beharrte die israelische Armee fast eine Woche später darauf, dass sie immer noch „keinen Hinweis auf [Abu Safiyas] Verhaftung oder Inhaftierung“ habe – nur um am nächsten Tag zu bestätigen, dass der Krankenhausdirektor tatsächlich „wegen des Verdachts der Beteiligung an terroristischen Aktivitäten“ verhaftet worden sei, eine Behauptung, für die sie keine Beweise vorlegte.
Wie zwei palästinensische Gefangene, die vor kurzem aus der Haftanstalt entlassen wurden, berichteten, war Abu Safiya zunächst in Sde Teiman inhaftiert, einem Militärstützpunkt, der für die schwere Misshandlung palästinensischer Gefangener berüchtigt ist. Am 9. Januar wurde Abu Safiya von Sde Teiman in das Ofer-Gefängnis in der Nähe von Ramallah im besetzten Westjordanland verlegt, wo er sich bis heute befindet. Er darf sich bis zum 22. Januar nicht mit seinem Anwalt Nasser Ouda treffen, und seine Haft wurde bis zum 13. Februar verlängert.
Menschenrechtsorganisationen und internationale Hilfsorganisationen, darunter die Weltgesundheitsorganisation, Amnesty International und Medical Aid for Palestinians, haben den israelischen Überfall auf das Krankenhaus verurteilt und die Freilassung von Abu Safiya gefordert.
Abu Safiya wurde im vergangenen Jahr zu einer palästinensischen Ikone der Tapferkeit gegen Israels genozidalen Angriff, indem er immer wieder auf Israels gezielte Angriffe auf Krankenhäuser aufmerksam machte und die internationale Gemeinschaft um Hilfe bat. Während der jüngsten Angriffswelle der israelischen Armee im nördlichen Gazastreifen seit Anfang Oktober 2024 weigerte er sich, das Kamal-Adwan-Krankenhaus zu verlassen und seine PatientInnen im Stich zu lassen, selbst dann noch, als die israelischen Streitkräfte die Einrichtung bombardierten und anschließend stürmten.
Schon vor seiner Verhaftung im letzten Monat hatte Abu Safiya mit vielen persönlichen Tragödien zu kämpfen. Am 25. Oktober, nachdem er zusammen mit einigen seiner Kollegen aus einer kurzen Haft entlassen worden war, erfuhr er, dass sein 15-jähriger Sohn Ibrahim von einer israelischen Drohne getötet worden war. Etwa einen Monat später wurde Abu Safiya selbst schwer verletzt, als ein israelischer Quadcopter das Krankenhaus beschoss und Schrapnell in sein Büro flog. Und kurz nachdem sie von seiner Inhaftierung in Sde Teiman erfahren hatte, starb Abu Safiyas Mutter an einem Herzinfarkt.
+972 sprach mit Abu Safiyas Frau, Albina Abu Safiya, die in Gaza-Stadt bei Verwandten Zuflucht gesucht hat, nachdem sie kurz vor seiner Verhaftung von ihrem Mann getrennt worden war. Das Interview wurde aus Gründen der Länge und Klarheit bearbeitet.
Können Sie sich bitte kurz vorstellen?
Mein Name ist Albina Abu Safiya, ich bin 46 Jahre alt und komme ursprünglich aus Kasachstan. Ich bin seit 28 Jahren mit Dr. Hussam Abu Safiya verheiratet, und wir haben vier Söhne und zwei Töchter, darunter Ibrahim, der am 25. Oktober 2024 getötet wurde.
Ich lernte Hussam vor 31 Jahren kennen, als ich 15 Jahre alt war. Hussam studierte Kinderheilkunde und Neonatologie in meiner Heimatstadt Turkestan. Er war mit einem meiner Verwandten befreundet, und wir lernten uns bei einer Familienhochzeit kennen. Er mochte mich und wir begannen, miteinander zu kommunizieren. Im Jahr 1996, als ich 18 Jahre alt war, heiratete ich Hussam und zog mit ihm in eine andere Stadt in Kasachstan, damit er seine Ausbildung abschließen konnte.
Ich brachte mein erstes Kind, Elias, in Kasachstan zur Welt, und dann wollte Hussam nach Gaza zurückkehren. Am Anfang war es schwierig, weil ich jung war und nichts über Palästina wusste, aber was mich ermutigte, nach Gaza zu gehen, war Hussams Freundlichkeit und Fürsorge. Er war so liebevoll und hilfsbereit, dass ich beschloss, mit ihm zu gehen und unser Leben gemeinsam fortzusetzen.
Wie war es für Sie, nach Gaza zu gehen?
Wir zogen 1998 nach Gaza und lebten im Flüchtlingslager Jabalia. Seine Familie war liebevoll und unterstützend – er hat fünf Brüder und fünf Schwestern – und das Zusammensein mit ihnen ermöglichte mir, sehr schnell Arabisch zu lernen.
In Gaza konzentrierten wir uns auf die Zukunft unserer Kinder. Mein ältester Sohn Elias hat 2020 geheiratet und hat mittlerweile selbst zwei Kinder. Vier Monate vor Beginn des Krieges zogen wir in ein neues Haus im Sultan-Viertel an der Küste von Beit Lahiya. Hussam und ich waren sehr glücklich und fühlten uns in dem neuen Haus sicher und wohl.
Wie erinnern Sie sich an die Ereignisse des 7. Oktobers?
Am 7. Oktober spürten wir, dass etwas Gravierendes passiert sein musste. Um 6:30 Uhr morgens begannen Raketen aus allen Richtungen auf Israel zu schießen. Alle riefen uns an und versuchten zu verstehen, was passiert war, und wollten wissen, ob es uns gut geht, denn wir leben nahe der Grenze zu Israel. Mein Sohn Elias rief mich an, um mir zu sagen, dass ich nach Jabalia kommen solle, wo es seiner Meinung nach sicherer sei.
Wir warteten eine Weile und hofften, dass [Israels Vergeltungsmaßnahmen] nur vorübergehend sein würden, aber leider waren alle Nachrichten schlecht. Als wir das Haus in Richtung Jabalia verließen, nahm ich nichts mit – nicht einmal unsere offiziellen Papiere oder Geld. Die Situation war sehr schwierig und sehr beängstigend.
Ich habe während aller früheren Kriege mit Israel [2008-2009, 2012, 2014 und 2021] in Gaza gelebt. Während dieser Kriege konnten wir in sicherere Gebiete innerhalb des Gazastreifens fliehen und wurden mit dem Nötigsten versorgt. Aber das jetzt ist kein Krieg. Ich habe noch nie etwas so Schlimmes erlebt.
Wann sind Sie ins Kamal Adwan Krankenhaus umgezogen?
Etwa drei Wochen nachdem wir nach Jabalia geflüchtet waren, meldete sich die israelische Armee und gab uns zehn Minuten Zeit, das Haus zu räumen. Wir verließen es rasch und eilten zum Haus eines Freundes. Hussam bat uns dann, mit ihm mit zum Kamal Adwan zu kommen, und unsere Familie blieb dort zusammen.
Seit dem ersten Tag des Krieges hat Hussam nie aufgehört, im Kamal Adwan Krankenhaus zu arbeiten. Wir sahen ihn nur etwa vier Stunden am Tag: Er kümmerte sich um die PatientInnen, deren Angehörige und das medizinische Personal und verfolgte dabei auch ständig, was im Krankenhaus geschah.
Als die israelische Armee am 12. Dezember 2023 zum ersten Mal das Kamal-Adwan-Krankenhaus stürmte, verhaftete sie den damaligen Direktor, Dr. Al-Kahlout. Hussam wurde zum neuen Direktor ernannt, und sofort war die Verantwortung enorm, denn die meisten anderen Ärzte wurden mit ihren Familien in den Süden vertrieben, und einige von ihnen verließen den Gazastreifen ganz. Wir hatten mehr als einmal die Möglichkeit, nach Kasachstan zu evakuieren, aber Hussam lehnte ab, und ich blieb bei ihm, um ihn in Gaza nicht allein zu lassen.
Nach Juni [als die israelische Armee ihre Offensive im nördlichen und zentralen Gazastreifen beendete] begannen sich die Bedingungen im Krankenhaus zu verbessern. Hussam appellierte an die Welt, Hilfe und medizinische Ausrüstung bereitzustellen. Er begann mit dem Wiederaufbau des Krankenhauses.
Was geschah mit Ihrem Sohn Ibrahim?
In den ersten Kriegsmonaten hatte Ibrahim die Möglichkeit, in Kasachstan zu studieren, aber ich riet ihm, bei uns in Gaza zu bleiben, bis der Krieg zu Ende ist, damit wir alle zusammen gehen können. Er bat mich noch mehrere Male, nach Kasachstan zu gehen, aber ich stimmte nicht zu.
Als die Armee den Grenzübergang Rafah [Anfang Mai] schloss, sprach Ibrahim nicht mehr davon, ins Ausland zu gehen. Er begann, freiwillig im Krankenhaus zu arbeiten, sich um die PatientInnen zu kümmern und dem medizinischen Personal in verschiedenen Abteilungen zu helfen.
Am 24. Oktober 2024 bat ich Ibrahim, auf den Markt zu gehen, um einige Dinge zu holen, und mehrere seiner Freunde begleiteten ihn. Einige Stunden später begannen Quadcopter, die rund um das Krankenhaus stationiert waren, zu schießen. Ibrahim und seine Freunde flüchteten von einem Haus zum anderen, um den Kugeln zu entgehen und suchten schließlich in einem Haus Schutz. Dort übernachtete er mit der Absicht, am nächsten Morgen ins Krankenhaus zurückzukehren. Das erzählte mir einer seiner Freunde, der zu dieser Zeit bei ihm war und [vor dem Morgen] ins Krankenhaus zurückkehren konnte. Ich fühlte mich beruhigt, dass er in der Nähe und an einem sicheren Ort war.
Um 3:30 Uhr am nächsten Tag stürmte die israelische Armee das Krankenhaus und wies alle an, es zu verlassen. Hussam sagte ihnen, dass es PatientInnen in kritischem Zustand auf der Intensivstation gäbe, die nicht gehen können, und dass wir Erste-Hilfe-Teams bräuchten, um sie herauszuholen. Die israelischen Soldaten durchsuchten das Krankenhaus, verwüsteten es und stahlen Gegenstände wie Handys und Geld von allen. In der Zwischenzeit gab es furchtbaren Beschuss und Gewehrsalven rund um das Krankenhaus. Die Operation der Armee dauerte etwa 30 Stunden. Wir durchlebten diese intensiven Angriffe bis 10 Uhr morgens am nächsten Tag, als die Armee sich schließlich aus dem Krankenhaus zurückzog.
An diesem Morgen ging ich auf mein Zimmer, um zusammen zu räumen und mich auszuruhen. Eine Krankenschwester kam zu mir und bat mich, zu Ibrahim zu kommen. Ich war überrascht – ich fragte mich, warum sie mich zu Ibrahim holte, wenn er doch selbst zu mir kommen konnte? Ich ging hinunter in den Hof des Krankenhauses und fand viele Tote in ihren Leichentüchern und Decken. Ich suchte nach Hussam und fand ihn weinend und in einem schrecklichen Zustand. Erst da verstand ich, dass Ibrahim durch den heftigen Beschuss in der Nähe des Krankenhauses ums Leben gekommen war.
Es war ein unglaublicher Schock, und ich weine immer noch über diesen Verlust. Die Entbehrungen des gesamten Krieges sind nichts im Vergleich zum Verlust meines Sohnes Ibrahim. Mein Sohn war nur etwa 200 Meter von mir entfernt, und ich habe ihn verloren.
Können Sie beschreiben, wie Dr. Abu Safiya verletzt wurde?
Die israelische Armee hatte es gezielt auf Hussam abgesehen. In den Tagen vor seiner Verletzung bombardierten sie sein Büro, und als er sich zu einem Treffen mit Ärzten auf der Treppe des Krankenhauses begab, zündeten sie dort eine Bombe.
Am 23. November 2024 feuerten sie eine Schallbombe [von einer Drohne] in den Raum, in dem er sich befand. Er konnte den Raum nicht schnell genug verlassen, und die Bombe explodierte und verletzte ihn am Oberschenkel. Es gab jedoch keinen spezialisierten Arzt, der ihn behandeln konnte, also gab ihm das medizinische Personal einfache Erste Hilfe und einige Schmerzmittel. Eine Zeit lang setzte er seine Arbeit mit einer Krücke fort. Er dachte an die PatientInnen und deren Angehörige sowie an die Vertriebenen im Krankenhaus.
Können Sie über die Verhaftung von Dr. Abu Safiya im letzten Monat sprechen?
Im Dezember 2024 gab es Gespräche mit Dr. Fathi Abu Warda [Berater des palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza], um die Ein- und Ausfahrt von Krankenwagen mit der israelischen Armee zu koordinieren. Am 27. Dezember betraten plötzlich wieder Soldaten das Krankenhaus und teilten uns mit, dass israelische Bulldozer zum Krankenhaus vordringen würden, um eine Straße [für die Evakuierung von PatientInnen] frei zu räumen.
In der Zwischenzeit gab es Beschuss von allen Seiten; israelische Panzer umstellten das Krankenhaus, überall gab es Schallbomben und Kugeln. Es wurden auch Roboter mit Sprengfallen eingesetzt. Wir verstanden nicht, was vor sich ging.
Die Armee bat darum, Hussam zu sehen. Er ging auf die israelischen Panzer zu, und sie gaben ihm eine Liste mit vier Personen, die sie aus dem Krankenhaus haben wollten. Hussam sagte ihnen, dass nur eine dieser Personen dort sei und dass er verwundet sei.
Er teilte der Armee mit, dass er bereit dazu war, das Krankenhaus zu evakuieren, aber einen Lastwagen benötige, um den Generator und andere Ausrüstung zum indonesischen Krankenhaus zu transportieren, sowie einen Bus und Krankenwagen, um die PatientInnen in kritischem Zustand, ihre Angehörigen und das medizinische Personal zu transportieren. Die Armee befahl uns über Lautsprecher und Quadcopter, die PatientInnen, die noch gehen konnten, über die Fallujah Straße nach Süden zu fliehen.
Dann schickte die Armee einen [Palästinenser], der uns mitteilte, dass wir das Krankenhaus verlassen müssen. Am Abend kamen der Lastwagen und der Bus, um uns zum indonesischen Krankenhaus zu bringen. Während dieser Zeit wurden die Intensivstation und der Operationssaal bombardiert, und einige PatientInnen erstickten fast am Rauch, der durch die Explosionen verursacht wurde.
Etwa 30 von uns stiegen in den Bus, während Hussam und einige PatientInnen und das medizinische Personal – etwa 50 Personen – noch im Krankenhaus blieben. Er sagte uns, dass wir zum indonesischen Krankenhaus vorfahren sollen und sie nachkommen würden. Als sich der Bus in Bewegung setzte, standen Panzer vor uns. Ich machte mir Sorgen, was mit Hussam passieren und ob er uns folgen würde.
Wir erreichten das indonesische Krankenhaus gegen 22.00 Uhr. Es waren nicht viele Menschen darin, das Gebäude ist völlig zerstört und eignet sich eigentlich nicht dafür, sich dort aufzuhalten, aber ich musste dort auf Hussam warten. Um 9:30 Uhr am nächsten Tag kamen die Krankenwagen vom Kamal Adwan mit den PatientInnen und dem medizinischen Personal an. Ich fragte das Personal nach Hussam – sie hatten große Schwierigkeiten zu sprechen. Die Spuren von Schlägen und Folter waren deutlich zu sehen, ihre Augen waren rot vor Erschöpfung.
Sie erzählten mir, dass [israelische Soldaten] Hussam geschlagen und das übrige medizinische Personal aufgefordert hätten, ins indonesische Krankenhaus zu gehen. Bezüglich Hussam berichteten sie, das israelische Militär habe ihm gesagt, er müsse bleiben, damit sie ihn als menschliches Schutzschild benutzen können, um ihre Arbeit im Kamal Adwan zu Ende zu bringen.
Warum haben Sie das indonesische Krankenhaus verlassen?
Das indonesische Krankenhaus war zerstört und wir konnten dort nicht mehr übernachten. Eine der Krankenschwestern schlug uns vor, den Ort zu verlassen und in den Westen von Gaza-Stadt zu gehen, und das taten wir auch. Wir gingen mit einigen anderen Leuten durch die Salah Al-Din Straße, bis wir das Haus von Hussams Schwester im Scheich Radwan Viertel erreichten.
Wir wohnen hier mit drei anderen Familien unter sehr schwierigen Bedingungen, nachdem wir in Kamal Adwan schweren Hunger, Beschuss und ständige Angst ertragen mussten. Jetzt machen wir uns vor allem Sorgen um Hussam.
Als wir im Haus von Hussams Schwester ankamen, freute sich Hussams 75-jährige Mutter, Samiha Abu Safiya, uns zum ersten Mal seit 90 Tagen zu sehen. Sie fragte uns nach Hussam; ich sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, er würde kommen, aber sie war sehr beunruhigt. Sie litt an Krankheiten, und die große Sorge um Hussam führte dazu, dass sie drei Tage lang nichts essen konnte. Am 8. Januar starb sie an einem Herzinfarkt, bevor sie ihn wiedersehen konnte.
Was wissen Sie über den Zustand Ihres Mannes?
Ich erfahre es nur aus den Medien und von Gefangenen, die aus israelischer Haft entlassen wurden. Ich habe gehört, dass er schwer misshandelt wurde. Ich versuche, die Nachrichten zu verfolgen und mit Menschen zu sprechen, die mich hinsichtlich seiner Lage beruhigen können.
Die israelische Armee hat uns verraten und Hussam verhaftet, obwohl er sehr kooperativ war und sich nicht weigerte, das Krankenhaus zu evakuieren – er forderte nur, dass die PatientInnen und das medizinische Personal in Sicherheit sind. Es bleibt für mich nur zu hoffen, dass er in guter Verfassung ist und bald entlassen wird.
Ruwaida Kamal Amer ist eine freiberufliche Journalistin aus Khan Younis.
Hinweise:
Lives of children after Ceasefire
Interview with Dr. Louisa Baxter from Save the Children, Channel4News, 19.01.2025
https://www.channel4.com/news/psychological-trauma-to-families-in-gaza-will-be-huge-charity
Israels Regierung will den ganzen Gazastreifen besetzen – Im Gespräch mit Aida Touma-Sliman
Von Julius Jamal, EtosMedia, 15. Jänner 2025
https://etosmedia.de/politik/israels-regierung-will-den-ganzen-gazastreifen-besetzen-im-gespraech-mit-aida-touma-sliman/
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